"Ich habe gefunden, es soll nicht sein."
"Was, Adrian, soll nicht sein?"
"Das Gute und Edle", antwortete er mir, "was man das Menschliche nennt. Um was die Menschen gekämpft, wofür sie Zwingburgen gestürmt, und was die Erfüllten jubelnd verkündigt haben, das soll nicht sein. Es wird zurückgenommen. Ich will es zurücknehmen."
"Ich verstehe Dich, Lieber, nicht ganz. Was willst Du zurücknehmen?"
"Die Neunte Sinfonie", erwiderte er. Und dann kam nichts mehr, wie ich auch wartete."
Wie ein Trinklied zur Europahymne wurde
29:52 Minuten
"Brüder fliegt von euren Sitzen, wenn der volle Römer kraißt": Ursprünglich war Schillers Ode an die Freude nur ein Trinklied. Mit Beethovens Musik wurde es zu einer Hymne, um die ein politischer Kampf entbrannte.
Februar 2017 im britischen Unterhaus. Während der Stimmauszählung zum Brexit stimmen zwei Dutzend Abgeordnete aus Schottland ein Liedchen an.
Die schottischen Abgeordneten singen die "Ode an die Freude", bis sie der Stellvertreter des Unterhaussprechers zur Ordnung ruft:
"Cut, cut, order, order! Order!!!"
"Ich persönlich habe nichts gegen Gesang, aber ich kann das hier im Parlament nicht zulassen", sagt der Unterhaussprecher. "Ehe wir uns versehen, hören wir hier noch ganz andere Gesänge, und damit wollen wir gar nicht erst anfangen. Ich will hier keinen Sängerwettstreit. Also wenn Sie das gefälligst lassen würden – die Woche war anstrengend genug."
Die Anfänge dieses Liedes, das zum mächtigen Symbol für Europa geworden ist, reichen zurück ins 18. Jahrhundert.
Leipzig-Gohlis, April 1785
"Hier fühlt man sich wie auf einem Schiff, weil der Boden so uneben ist, und alles schwankt so ein bisschen – ja, und jetzt sind wir eigentlich im Heiligtum des Schillerhauses, das ist die sogenannte Schillerstube", sagt Franziska Jenrich-Tran, Museumspädagogin am Stadtgeschichtlichen Museum Leipzig. Zum Museum gehört auch ein ehemaliges Bauernhaus im Stadtteil Gohlis, einstmals gelegen vor den Toren der Stadt.
"Und in diesem Bereich des Hauses, den hat dann die Bauernfamilie Mitte des 18. Jahrhunderts abgetrennt und als Sommerquartier vermietet. Denn es war so, dass Gohlis im 18. Jahrhundert ein Ort der Sommerfrische war, wo die wohlhabenden Leipziger der Stadt, der stickigen Stadt im Sommer entfliehen konnten und wo sie eben hier in guter Luft ihre Sommer verbracht haben."
Der damals 25-jährige Friedrich Schiller steckt mitten in einer "quarter-life-crisis". Der Anstellung als Regimentsarzt beim württembergischen Herzog ist er entflohen, aber mit der Wunschexistenz als freier Schriftsteller will es nicht so recht klappen. Zwar hatte er mit seinem Bühnenerstling "Die Räuber" 1782 einen Sensationserfolg gelandet und prompt eine Anstellung als Theaterdichter in Mannheim erhalten. Aber nun, zwei Jahre später, hat er sich mit Intendanz und Schauspielern überworfen. Sein Vertrag läuft aus, er steckt klaftertief in Schulden, und er kränkelt. Zusätzlich bringt ihn ein enger als schicklich gewordenes Verhältnis zur Frau eines Offiziers in Bedrängnis.
"Und in dieser für Schiller sehr dunklen Zeit erhielt er dann Briefe von einem Leipziger Freundeskreis aus jungen Menschen, die ihm in diesen Briefen einfach ihre Bewunderung ausgedrückt haben", sagt Jenrich-Tran.
Der Dichter im Rausch der Glückseligkeit
Dieser Freundeskreis hatte sich um den Leipziger Oberkonsistorialrat Christian Gottfried Körner und seine Verlobte Minna Stock gebildet, die späteren Eltern des antinapoleonischen Dichters Theodor Körner.
"Die Minna Stock hat dann eine selbstgestickte, mit Schillers Initialen bestickte Geldbörse dazugelegt. Dora Stock, eine sehr begabte Malerin, hat vier Porträts der Freunde angefertigt, die sind unten in der Bauernstube zu sehen, und von Körner kam dann noch eine eigenhändige Komposition zu Schillers Lied der Amalia."
Die Verehrer laden ihr Idol nach Leipzig ein – im April 1785 kommt Schiller.
"Aus den Aussagen weiß man, sie waren fast so ein bisschen enttäuscht, die Freunde, weil Schiller so ein schüchterner junger Mann war", erzählt Franziska Jenrich-Tran. "Man hatte sich eher jemanden vorgestellt, der vielleicht so ein bisschen draufgängerischer war, eher wie man sich jemanden vorstellt, der eben die Räuber geschrieben hat.
Also, prinzipiell hat er sich hier sehr wohl gefühlt, er hat zum Beispiel auch dem Körner geschrieben, dass seine Freundschaft und Güte ihm ein Elysium bereitet hat."
Friedrich Schiller verbringt die Wochen im Gohliser Idyll im Rausch der Glückseligkeit. Steht morgens um drei Uhr auf und wandelt im dünnen Hausrock über die Felder. Der zwölfjährige Sohn des Gohliser Bauern darf ihm die Wasserflasche hinterhertragen. Hernach setzt sich Schiller zum Schreiben nieder. Die Mahlzeiten und Abende sind dem geselligen Beisammensein mit den neuen Leipziger Freunden vorbehalten.
Er schreibt: "Der Himmel hat uns seltsam einander zugeführt, aber in unserer Freundschaft soll er ein Wunder gethan haben. Eine dunkle Ahndung ließ mich so viel, so viel von Euch erwarten, als ich meine Reise nach Leipzig beschloß, aber die Vorsehung hat mir mehr erfüllt, als sie mir zusagte, hat mir in Euren Armen eine Glückseligkeit bereitet, von der ich mir damals auch nicht einmal ein Bild machen konnte."
"Keine Trennung! Keiner soll allein sein!"
"Im 18. Jahrhundert ist der Begriff der Freundschaft auch ein ganz zentrales Thema. Und er ist hier bedingungslos angenommen worden", betont Franziska Jenrich-Tran. "Körner hat auch seine ganzen finanziellen Probleme auf sehr, sehr diskrete Weise gelöst, was dazu beigetragen hat, dass Schiller plötzlich wieder sorgenfrei leben konnte."
Friedrich Schiller zieht im September 1785 nach Loschwitz bei Dresden um, wo Freund Körner einen Weinberg am Elbhang besitzt. Der Dichter hat die ersten Strophen der Ode "An die Freude" im Gepäck. Minna Körner berichtet der Nachwelt:
"Als Schiller am ersten Morgen mit uns hier unter dem Nussbaum an unserem Frühstückstische saß, brachte er eine Gesundheit auf ein frohes Zusammenleben aus. Die Gläser klangen hell, aber Schiller stieß in seiner enthusiastischen Stimmung so heftig mit mir an, dass mein Glas in Stücke sprang. Der Rotwein floss über das zum ersten Male aufgedeckte Damast-Tuch zu meinem Schreck. Schiller rief: Eine Libation für die Götter! Gießen wir unsere Gläser aus!
Körner und Doris folgten Schillers Beispiel; darauf nahm dieser die geleerten Gläser und warf sie, dass sie sämtlich in Stücke sprangen, auf das Steinpflaster mit dem leidenschaftlichen Ausrufe: Keine Trennung! Keiner soll allein sein! Sei uns ein gemeinsamer Untergang beschieden!"
"Dieses Glas dem guten Geist"
Freude sprudelt in Pokalen, in der Traube goldnem Blut trinken Sanftmut Kannibalen, Die Verzweiflung Heldenmut – – Brüder fliegt von euren Sitzen, wenn der volle Römer kraißt, Laßt den Schaum zum Himmel sprützen: Dieses Glas dem guten Geist.
"Dieses Gedicht ist quasi ein Trinklied gewesen ursprünglich, nur bei Schiller natürlich, in diesem Trinklied dann sitzen die ganze Welt mit allen und die Hoffnung auf große Brüderschaft also nicht nur zwischen zwei Weintrinkern, sondern der ganzen Menschheit, das ist also eigentlich der Kern", erklärt der Literaturwissenschaftler und Musikpublizist Dieter Hildebrandt, Autor des Buches "Die Neunte – Schiller, Beethoven und die Geschichte eines musikalischen Welterfolges".
"Manchmal in den ersten Kritiken kommt ja auch vor, dass die Sinfonie sich oder der Finalsatz sich so anhört wie ein Bacchanale und genau das ist es. Ein Weintrinklied".
Dessen Strophen Schillers Gönner und Freund Körner als erster in Töne setzt. Ihm folgen Tonsetzer wie der preußische Hofkomponist Reichardt oder Goethes Lieblingskomponist Zelter. Schon 1800 erscheint eine erste Sammlung von Vertonungen.
"Schillers Gedicht schlug ein wie eine Bombe, das war also ein wie, man würde sagen, wie ein toller Rap der damaligen Zeit. Schiller hatte ja eine ungeheure mitreißende Wucht in seinen Worten und ich meine, man kann sagen: Wo er hin formulierte, wuchs kein Gras mehr. Und Beethoven war eigentlich einer der allerletzten oder überhaupt der letzte, der sagte, da ist doch noch dieses alte Schiller-Lied, das mir seit meiner Jugend vorschwebt."
1812 – da ist Friedrich Schiller schon sieben Jahre tot – schreibt Ludwig van Beethoven in sein Skizzenbuch einige Notenzeilen und diese Satzfetzen:
"Freude schöner Götterfunken – Ouvertüre ausarbeiten […] abgerissene Sätze wie Fürsten sind Bettler u.s.w. – nicht das Ganze"
"Eigentlich eine europäische Freimaurer-Hymne"
Über Jahrzehnte beschäftigt Beethoven die Idee, Schillers Gedanken in ein Musikwerk zu gießen. Eines Tages erteilt ihm die Royal Symphonic Society einen Kompositionsauftrag.
"Das ist dann natürlich die besondere Pointe in dieser heutigen historischen Situation, wo England sich aus dem Staube machen will", erklärt Dieter Hildebrandt. "Die Londoner philharmonische Gesellschaft hatte sich an Beethoven gewandt, 1816 etwa, ob er nicht eine oder sogar zwei Sinfonien für das Orchester komponieren könnte. Das zog sich hin und Beethoven hat dann schließlich die Neunte den Londonern gegeben und verkauft.
Es dauerte dann noch eine Weile, bis das Londoner Philharmonische Orchester sie, ich glaube 1824, aufgeführt hat. Mit einem nicht deutschen Text, nicht englischen Text, mit einem italienischen Text, der schon zur Verfügung stand. Aber das Interessante, wo wir gerade von England sprechen: 1837 hat ein englischer Kritiker geschrieben, diese Hymne ist doch eigentlich - und ich müsste das fast wörtlich zitieren, aber ich versuch jetzt mal zu improvisieren - das ist doch eigentlich eine europäische Freimaurer-Hymne. Also eine europäische Hymne schon 1837, schreibt ein englischer Kritiker, also der hatte schon eigentlich die nicht politische, aber doch europäisch zivilisierende Macht dieser Musik und auch dieses Textes erkannt."
Eine Generation nach der Uraufführung wird Beethovens Neunte im politischen Sinn vom Bürgertum entdeckt, das sich vom restaurierten Adel emanzipieren möchte. Richard Wagner, damals Hofkapellmeister in Dresden, setzt sich im Umfeld der 1848er-Revolution mit Elan und Verve für die Sinfonie ein.
Am Palmsonntag 1849 schmettert der Chor "Deine zauber binden wieder, was die Mode streng geteilt" und "Alle Menschen werden Brüder" – ein Politikum am Vorabend des Dresdner Maiaufstandes. Wagner steht dann mit auf den Barrikaden, deren Bau sein Freund, der Opernarchitekt Gottfried Semper, beaufsichtigt hat. Gegen beide ergeht Haftbefehl: Als "Demokraten erster Klasse" – so heißt es in Sempers Steckbrief – müssen sie aus Sachsen fliehen.
Nach 1870/71 heißt es: "Eine deutsche Hymne"
Und wieder eine Generation später: Der Beethoven-Verehrer Richard Wagner ist inzwischen zum Nationalisten erster Klasse geworden.
"Am Ende des 19. Jahrhunderts, also nach diesem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71, da hatte ja Wagner gesagt, die Hymne ist eine deutsche Hymne. Sie gehört nicht zu Frankreich und sie soll den Deutschen erhalten bleiben und nur den Deutschen", erklärt Hildebrandt. "Also, Wagner war ja doch ein Chauvinist erster Güte und da kam aus Frankreich eine Gegenposition, denn in Frankreich hatte man die Hymne schon früh entdeckt, mit Begeisterung gespielt, weil die Hymne ja natürlich auch anknüpfte an die Revolutionshymnen des Komponisten Gossec und das Hymnische, also auch das Nationalhymnische lag den Franzosen ja viel näher als den immer noch zersplittert gewesenen Deutschen. Und da gab's dann aus Frankreich eine Gegenposition zu dem Wagner und die sagten, dann also, diesen Deutschen, die das jetzt nationalisieren und für den Patriotismus untertan machen, gehört das Werk nicht, sondern man sollte es den Deutschen wegnehmen."
"Heil Dir im Siegerkranz" ist die Hymne im Deutschen Kaiserreich. Beethovens Neunte inzwischen als sinfonisches Werk etabliert und oft gespielt. Die "Ode an die Freude" gehört zum Standardrepertoire der Männerchöre und Gesangsvereine. 1916 allerdings, das deutsche Kaiserreich führt Krieg gegen halb Europa, kommt es beim Leipziger Gewandhauschor zu einem bemerkenswerten Streik. Einigen patriotisch gesinnten Musikern stößt der völkerverbindende Text des Finales sauer auf.
Die Sänger lehnen es ab, das Werk aufzuführen. Das geht selbst der patriotischen Zeitschrift "Merker" zu weit:
"Es gibt einen Schiller-Beethovenschen Winkel in jedem Deutschen, den uns auch dieser zerstörende Krieg nicht vernichten darf! Die streikenden Herren vom Leipziger Gewandhauschor haben unrecht. Wir würden innerlich verarmen, wenn wir uns gegen Beethoven sperren würden. Das eben ist deutsche Kraft: den Säbel in der Rechten, Beethoven im Herzen!"
Die "Ode an die Freude" als Silvesterkonzert
Zwei Jahre später ist es ausgerechnet das Gewandhaus zu Leipzig, das eine neue Tradition begründet: die "Ode an die Freude" als Silvesterkonzert.
"Am Ende des Ersten Weltkrieges, im November 1918, hat es ja verschiedene Freiheits- und Friedensfeiern gegeben, so auch in Leipzig", erklärt Andreas Schulz, seit 1998 Gewandhausdirektor.
"Damals gab es eigentlich zwei Initiatoren, Herrn Licht vom Arbeiterbildungsinstitut abgekürzt ABI, der gesagt hat, wir müssen irgendwie eine besondere Veranstaltung zu Silvester machen. Und dann hat er sich zusammengetan mit dem damaligen Feuilleton-Redakteur Dr. Franz von der LVZ-Zeitung, und die beiden sind die Initiatoren der ersten Beethoven-Neun-Silvesteraufführung hier in Leipzig."
Die Leipziger Volkszeitung LVZ war damals eines der führenden Blätter der Sozialdemokratie. Schon 1905 hatte der Sozialist Kurt Eisner, der spätere Ministerpräsident des Freistaates Bayern, eine Aufführung des Beethoven-Werkes vor 3000 Berliner Arbeitern auf die Beine gestellt. Und Arthur Nikisch, der Dirigent des Leipziger Gewandhauses, hatte ab 1915 mit sehr preiswerten Eintrittskarten sein Konzerthaus für die unteren Schichten geöffnet. Mit dem Silvesterkonzert knüpft man in Leipzig an eine linke Tradition an:
"Es war keine Veranstaltung vom Gewandhaus oder vom Gewandhausdirektorium, sondern von diesen Initiatoren, insbesondere von diesem ABI. Und das war ein riesiger Erfolg", betont der heutige Gewandhausdirektor. "Der ABI hat dann bis 1933 solche Silvesterkonzerte organisiert, aber nicht nur mit Beethovens Neunter, sondern auch mit vielen anderen Werken. Erst nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hat sich das Gewandhaus darauf besonnen, auf Beethoven Neun, das wieder aufleben zu lassen. Ein wichtiger Impuls ging ohne Frage von Leipzig aus, aber nicht eine ununterbrochene Tradition."
Die Nationalsozialisten machen aus der Ode "Titanenmusik"
Was Friedrich Schiller in rauschhafter Freude verfasst und Beethoven in eine Sinfonie verwandelt hatte, wird in der nationalistischen Hybris nach 1933 zur Titanenmusik, angekündigt von Propagandaminister Joseph Goebbels 1942 auf einer Feier der NSDAP zum 53. Geburtstag von Adolf Hitler: "Diesmal sollen die Klänge der heroischsten Titanenmusik, die je einem faustischen deutschen Herzen entströmten, dieses Bekenntnis in eine ernste und weihevolle Höhe erheben."
Unter der Leitung von Wilhelm Furtwängler kommt auch die Neunte Sinfonie zur Aufführung. Im Saal der Berliner Philharmonie sind fast alle Größen der Nazipartei versammelt, in Uniform. Nur der zu Ehrende fehlt.
Goebbels in seiner Rede: "Wenn am Ende unserer Feierstunde die Stimmen der Menschen und Instrumente zum großen Schlussakkord der neunten Sinfonie ansetzen, wenn der rauschende Choral der Freude ertönt und ein Gefühl für die Größe und Weite dieser Zeit bis in die letzte deutsche Hütte hineinträgt, wenn seine Hymnen über alle Weiten und Länder erklingen, auf denen deutsche Regimenter auf Wache stehen, dann wollen wir alle, ob Mann, ob Frau, ob Kind, ob Soldat, ob Bauer, ob Arbeiter oder Beamter, zugleich des Ernstes der Stunde bewusst werden und ihm auch das Glück empfinden, Zeuge und Mitgestalter dieser größten geschichtlichen Epoche sein zu dürfen."
Ein Choral in einem nationalistischen Blutrausch
Im April 1942 dringt die Wehrmacht, noch siegesgewiss, in die Weiten der Sowjetunion vor. Auschwitz, die sogenannte "Endlösung" der Judenfrage, ist beschlossen. Die "Ode an die Freude" als Choral in einem nationalistischen Blutrausch. Im amerikanischen Exil verfasst Thomas Mann seinen "Dr. Faustus". Die Hauptfigur des Romans ist der Tonsetzer Adrian Leverkühn.
"Es war so, dass, um einen Totalausfall während des Zweiten Weltkriegs zu vermeiden, die Partitur der Neunten auseinander genommen und an verschiedenen Stellen in Deutschland sicher verstaut wurde, also deponiert wurde", sagt die Musikwissenschaftlerin Christine Stahl. "Dann war es nach dem Zweiten Weltkrieg so, dass die Manuskriptteile zusammengeführt werden sollten, aber im vierten Satz genau zwei Teile nicht zusammengeführt werden konnten."
Christine Stahl hat eine Promotion über die Rezeptionsgeschichte von Beethovens Neunter nach 1945 verfasst, als Nazideutschland bezwungen war, Beethovens Neunte wieder neu erklingen konnte – die Originalpartitur aber das Schicksal Nachkriegsdeutschlands teilte:
"Das heißt, es ging ein Riss durch die Neunte, ein Riss, der durch die Mauer manifestiert wurde, weil nämlich ein Teil des letzten Satzes in Ostberlin lag und der andere Teil lag in Westberlin."
Geteilte Partitur: die eine Hälfte lag in der DDR
Schillers Zeile "Was die Mode streng geteilt" galt nach dem Krieg gewissermaßen wörtlich für Beethovens Originalpartitur. Bis Takt 699 lag das Manuskript in der Staatsbibliothek Unter den Linden, den Rest bis zum Schluss verwahrte die Staatsbibliothek in Westberlin. Sinnigerweise war die Partitur genau an der Stelle geteilt, an der es heißt: "Seid umschlungen Millionen, wir betreten feuertrunken himmlische dein Heiligtum!"
Und doch verband, weil die Teilung noch nicht so weit fortgeschritten war, Beethovens Neunte symbolträchtig die beiden deutschen Staaten – wenn auch nur aus Verlegenheit. Bei den Olympischen Winterspielen in Oslo 1952 wurde sie als Nationalhymne eingesetzt:
"Es ging damals darum, dass aufgrund des französischen Alphabets die deutsche Mannschaft als allererstes ins Stadion eingelaufen sind und eben die Winterolympiade mit den Klängen 'Deutschland, Deutschland über alles' eröffnet worden wäre, und das ging den Veranstaltern entschieden zu weit, paar Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs und der deutschen Besatzung", erklärt Christine Stahl. "Und aus dem Grund wurde sich damals dafür ausgesprochen, dass eben statt 'Deutschland, Deutschland über alles' die berühmten 16 Takte aus der Neunten Sinfonie gespielt werden sollten."
Zankapfel zwischen Ost und West
Bei der ersten Nachkriegsolympiade mit deutscher Beteiligung war die Ode an die Freude so etwas wie der kleinste gemeinsame Nenner zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischer Republik.
"Sie haben sich ja gegenseitig den Anspruch auf Beethoven abgesprochen", so Stahl. "In der DDR wurde gesagt, der imperialistische Bonner Staat mit seinem Streben nach Atomwaffen hat kein Recht, Beethovens Gedenken anzutreten."
So schrieb das Präsidium des Nationalrates der DDR zum Beethovenjahr 1952:
"Adenauer, ein schandbedeckter Separatist und Landesverräter, hat Bonn zum Sitz seiner Regierung gemacht. Bonn, die Kriegstreiberzentrale von heute, braucht keinen Beethovensaal. Sie braucht keine klassische Musik, braucht keinen Beethoven. Und wenn sie Beethoven aufführen, so tun sie es nur, um ihre wahren Gedanken zu verbergen. [...] Die amerikanischen Kulturbarbaren und ihre Lakaien schänden das Ansehen Beethovens, indem sie Bonn, seine Geburtsstadt, für die verderblichste nationale Entwürdigung gebrauchen. Von Bonn aus werden die kosmopolitischen Zersetzungsversuche der großen deutschen Kulturwerte unternommen, um das Nationalbewußtsein des deutschen Volkes zu zerstören."
"Und in der Bundesrepublik wurde gesagt, über Sternen muss ein lieber Vater wohnen, nicht unter Sternen, schon gar nicht unter dem roten Stern!", so Christine Stahl.
1970 las man in einem einem Artikel von Willy Hess in der bundesdeutschen Zeitschrift "Der Republikaner":
"Eine Staatsform, welche Freiheit und Menschenwürde mit Füssen tritt, Andersdenkende und Religiöse verfolgt und sogar erschießt, wenn sie der geistigen Tyrannei des totalitären Staates zu entfliehen suchen, eine solche Staatsform hat wahrlich kein Recht, Beethoven als einen der ihren zu feiern."
Viele Umdeutungen - was hätte Beethoven dazu gesagt?
Die Musikwissenschaftlerin Christine Stahl findet es "absurd", für welche Ideologien und Gedanken Beethoven alles einstehen musste. "Selbst als Bernstein 1989 'Freiheit, schöner Götterfunken' nach dem Mauerfall hat singen lassen, hat er im Interview gesagt: Ich bin mir sicher, dass Beethoven mit dieser Umdeutung des Textes einverstanden gewesen wäre", sagt sie und fragt: "Wieso soll Beethoven mit allem einverstanden gewesen sein, was wir ihm andichten?!! Kann doch nicht sein, oder?"
Im Dezember 1989 dirigiert der Star-Dirigent Leonard Bernstein die Neunte im Ost-Berliner Schauspielhaus am Gendarmenmarkt. Die Aufführung wird in 20 Länder übertragen, das Orchester hat Bernstein international und symbolträchtig besetzt: Neben Chor und Orchester des Bayerischen Rundfunks spielen Musiker aus Ostberlin, Dresden, Leningrad, New York, Paris und London. Und immer, wenn im Original von "Freude" die Rede ist, lässt Bernstein "Freiheit" singen und schafft so eine Art Denkmal für den historischen Moment.
Das Manuskript der Originalpartitur liegt zu dieser Zeit noch an zwei Orten. Erst 1997 wird es wiedervereint. Es liegt heute wieder in der Staatsbibliothek Berlin und gehört nunmehr zum UNESCO-Weltdokumentenerbe.
"Wenn wir heute von der Neunten sprechen, dann haben wir 16 Takte vor Augen. Dass es davor 45 Minuten gegeben hat, wissen einige gar nicht, und dieser Gedanke, dass sozusagen besonders nach dem Anfang des vierten Satzes, als es ja mehr oder weniger musikalisch drunter und drüber geht, das dann eine Erlösung ist, als endlich das ganze Orchester runtergebrochen wird auf dieses Tiefe Streicher-Motiv, also wenn das das erste Mal kommt, das erfahren wir ja gar nicht mehr", bedauert die Musikwissenschaftlerin Christine Stahl.
"Weil wir in allen möglichen Kontexten die Neunte hören, ob das die Werbung im Radio ist, ob das die Europahymne ist, die wir hören, ob das Ausschnitte sind, die wir hören, ob das irgendwelche, irgendwelche Zitate sind in anderen Liedern, die wir hören. Wir haben uns so durchgehört durch diese 16 Takte, dass wir das Bewusstsein für diese Erlösung, die diese Takte eigentlich darstellen sollen, meiner Meinung nach gar nicht mehr richtig nachempfinden können."
Letzter Akt: Die Ode an die Freude wird Europahymne
"Der Auffassung folgend, dass es angemessen sei, ein Werk auszuwählen, welches repräsentativ für europäischen Genius steht und dessen Verwendung zu europäischen Anlässen bereits zu einer Tradition geworden ist, schlagen wir den Mitgliedern des Europarates vor, das Vorspiel zur "Ode an die Freude" im Vierten Satz von Beethovens Neunter Sinfonie als Europäische Hymne anzunehmen."
1972 nimmt der Europarat den Vorschlag an, den "Song of Joy" als Hymne zum offiziellen Symbol Europas zu erheben. Mit der Einspielung für die Fassung ohne Text wird Herbert von Karajan beauftragt. Um auch unter der Jugend für die europäische Idee zu werben, lässt der Europarat seit den 90-er Jahren auch Fassungen in verschiedenen populären Musikstilen erstellen – über den Erfolg ist nichts bekannt.
Die gemessen an den Klickzahlen erfolgreichste Version der "Ode an die Freude" ist mit fast 18 Millionen Aufrufen ein Youtube-Video aus Nürnberg, ein inszenierter Flashmob aus dem Jahr 2014. 2016 war es Emanuel Macron, der die Beethoven-Weise für sich und sein Europa-Statement benutzte. Nach dem Wahlsieg seiner Bewegung La République en Marche zeigte er sich dem Wahlvolk zu den Klängen nicht der Marseillaise, sondern der Europahymne. Und bei den Demonstrationen der Bewegung "Pulse of Europe" kann man immer wieder Varianten der Hymne in Stadionqualität hören, ebenso bei den Demonstrationen der "Remainers" in Großbritannien.
Dass Beethovens Musik – ganz ohne Worte – ein sehr bewegender Kommentar zur Lage sein kann, ja sogar ein Appell, das bewies der russisch-deutsche Pianovirtuose Igor Levit. Bei den populären "Nights of the Proms" spielte er in London im Jahr des Brexit-Referendums seine Version der "Ode an die Freude", der Europahymne:
Ode an die Freude - Wie ein Trinklied zur Europahymne wurde
Ein Feature von Tobias Barth und Lorenz Hoffmann
Redaktion: Winfried Sträter
Es sprachen: Hans Henrik Wöhler, Christian Gutowski, Corinna Waldbauer und als Erzähler Tobias Barth.
Produktion: die Autoren.