Odenwaldschule: Leiterin lehnt Schließung ab
Die Leiterin der Odenwaldschule, Margarita Kaufmann, hält auch nach Bekanntwerden höherer Opferzahlen sexuellen Missbrauchs eine Schließung der Einrichtung für nicht gerechtfertigt. Auch pauschalen Vorwürfe an die Adresse der Reformpädagogik widerspricht sie.
Stephan Karkowsky: 2010 geht als Jahr der Missbrauchsskandale in die Annalen ein. Ins Rollen gebracht hatte das im Januar die Aufdeckung systematischen Kindesmissbrauchs am katholischen Canisius-Gymnasium in Berlin. Bald wurden aus allen katholischen Bistümern weitere Fälle gemeldet, schließlich auch aus weltlichen Einrichtungen wie der hessischen Odenwaldschule. Die legte nun den Zwischenbericht zweier Juristinnen vor, darin ist die Rede von systematischer sexueller Ausbeutung von Schülern und von möglichen Selbstmorden von Opfern. Gelobt wird lediglich die derzeitige Schulleiterin Margarita Kaufmann für ihren eindeutigen Aufklärungswillen. Frau Kaufmann, guten Tag!
Margarita Kaufmann: Guten Tag!
Karkowsky: Laut Bericht waren mindestens 132 Schüler betroffen, zumeist Jungs. Das ging vom Grabschen bis zur schweren Vergewaltigung, Kinder zwischen sieben und 14 Jahren. Da bleibt als Ausweg nur noch die Schulschließung, kommentiert heute die Tageszeitung "Die Welt". Wird die Odenwaldschule aufgelöst?
Kaufmann: Nein, die Odenwaldschule ist in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden, und diese Missbrauchsfälle haben sich zugetragen von 1960 rund, 1966 bis in die 90er-Jahre hinein. Und was unsere heutige Zeit betrifft, wir haben die Aufgabe ernst genommen, diese Missbrauchsfälle aufzuarbeiten und zurückzuschauen. Und insofern denke ich, es ist heute nicht gerechtfertigt, die Schule heute zu schließen. Wir haben über 200 Kinder, die bei uns leben und lernen, die hier ihre Abschlüsse machen möchten, in diese Schule haben viele Eltern Vertrauen und auch viele öffentliche Stellen, weil wir ja auch Kinder aus dem Jugendamt haben. Und ich denke, wir tun heute alles uns Mögliche, um zum einen den Missbrauchsskandal aufzudecken, aufzudecken, was damals geschehen ist, und zum anderen die Schule heute so zu verändern, so zu gestalten, dass solche schrecklichen Dinge nicht mehr geschehen können.
Karkowsky: Es sind natürlich vor allem die Kritiker einer linksliberalen Reformpädagogik, die jetzt solche drastischen Konsequenzen fordern, aber man muss darüber nachdenken. Es wird als Haupttäter im Bericht der pädokriminelle Gerold Becker genannt, also der langjährige Direktor der Schule. Das hatte man erwartet. Wenn nun dieser Missbrauch von ganz oben kam, ist damit nicht auch der reformpädagogische Ansatz der Schule in dieser Zeit zumindest eine Farce gewesen, eine Lebenslüge?
Kaufmann: Ich denke, man kann eine solche Frage durchaus stellen an die Zeit und an alle damals, die Verantwortung getragen haben, also nicht nur der Schulleiter, sondern natürlich auch der Vorstand, den diese Schule hatte, und letztlich auch an die Kollegen. Wir haben diese Frage immer wieder in den letzten Monaten natürlich diskutiert innerhalb des Kollegiums, innerhalb der Schule, innerhalb sämtlicher Gremien, auch des Trägervereins, und immer wieder wurde gefragt, warum hat niemand etwas gemerkt, warum hat niemand gehandelt? Ich denke, es ist nichtsdestotrotz nicht gerechtfertigt, die reformpädagogische Arbeit grundsätzlich infrage zu stellen, denn Reformpädagogik bedeutet einfach eine andere Art von Schule. Das bedeutet aber nicht, dass Tür und Tor geöffnet ist für sexuelle Übergriffe. Ganz im Gegenteil, ich denke, ein guter Pädagoge und jemand, der seine Arbeit ernst nimmt, egal ob er Reformpädagogik macht oder eine andere Form der Pädagogik, darf kein Pädosexueller sein. Und insofern dürfen diese beiden Dinge auch nicht vermischt werden.
Karkowsky: Sie hat auch dieses Klima nicht begünstigt?
Kaufmann: Ich denke, was es sicherlich begünstigt hat, ist eine nicht eindeutige Trennung von Grenzen. Also wo ist Nähe und wo darf und muss auch Distanz sein, und wie weit darf Nähe gehen? Es kann nicht sein, dass Erwachsene dann die Verantwortung für ihr Tun letztlich sogar dem Kind übertragen, wie man in manchen Diskussionen ja in den letzten Monaten auch lesen und hören konnte, dass auch führende Pädagogen oder einführende Pädagogen sagten, dass das den Kindern gefallen hat und solche Dinge. Das ist absolut entsetzlich, wenn man so etwas hört.
Also, die Frage ist, wie muss das Zusammenleben, was in einem Internat natürlich gegeben ist, gestaltet sein, damit Übergriffe nicht möglich sind. Und wir haben uns in den letzten Monaten ganz intensiv an die Arbeit gemacht, haben umfangreiche Fortbildungen mit allen Mitarbeitern gemacht, einzelne, eintägige Fortbildungen, regelrechte Schulungen zum Thema Nähe und Distanz, zu Fragen des sexuellen Missbrauchs, zu Übergriffen und natürlich auch zu Täterstrategien; wir haben auf der anderen Seite aber auch ganz intensiv unsere Kinder und Jugendlichen fortgebildet in altersgerechten Fortbildungen durch Fachstellen. Also alles haben wir von außen beratend durchgeführt, und ich denke, das ist ein erster Schritt, um die Mitarbeiter in die Lage zu versetzen und natürlich auch die Kinder, bewusst mit dem Thema umzugehen.
Karkowsky: Sie hören im Radiofeuilleton die Schulleiterin der Odenwaldschule Margarita Kaufmann. Frau Kaufmann, Sie haben den Bericht der beiden Juristinnen ja eng begleitet. Darin ist auch die Rede von möglichen Selbstmorden von Opfern. Was können Sie uns darüber erzählen?
Kaufmann: Nun, eine Monokausalität konnte nicht festgestellt werden, das sagten auch die beiden Juristinnen. Allerdings bleiben natürlich Vermutungen weiterhin lebendig, das ist, die können wir auch nicht ausräumen. Es ist in ganz vielen Fällen, auch den posttraumatischen Belastungsstörungen, nicht eindeutig klar, woher diese Belastungen kommen, warum die Menschen heute noch leiden und warum damals sich jemand das Leben genommen hat. Eindeutig können wir es nicht festlegen, wir können es nicht zurückverfolgen, aber es gibt zumindest mal in Einzelfällen durchaus die Vermutung, dass da ein Zusammenhang bestanden hat. Zumal einige der Betroffenen, die sich dann das Leben genommen haben, tatsächlich dann auch in starken Drogenkonsum geraten sind und sehr abhängig geworden sind. Und von einem jungen Mann wissen wir, dass er deshalb gestorben ist. Die Frage stellt sich natürlich, warum hat er begonnen, Drogen zu nehmen? Und da trifft die Schule eine große Verantwortung, denn sie konnte offensichtlich dem massiven Drogenmissbrauch und auch Alkoholmissbrauch nicht vorbeugen, ihn auch nicht eindämmen.
Karkowsky: Ein 13-Jähriger wird im Bericht erwähnt, er soll sich seinen Eltern offenbart haben und wurde dann von seinen Eltern zurechtgewiesen nach dem Motto, was stellst du dich so an, du hast Vorurteile gegenüber Homosexuellen. Geben die beiden Aufklärerinnen den Eltern mit ihrem Ansatz eines anderen, liberaleren Lernens eine Mitschuld?
Kaufmann: Den Eltern geben sie insofern eine Mitschuld und so, man muss es sicherlich ausweiten auf die Kollegen auch hier in der Schule, die zu dieser Zeit informiert worden waren, es waren einzelne Personen, die erfahren hatten davon, von Schülern und eben Eltern, und sie waren dann auf die Schulleitung zugegangen oder auch an andere Stellen, aber immer wieder war eine Bagatellisierung zu beobachten und die Schüler, und die Kinder und Jugendlichen wurden dann auch nicht ernst genommen. Und wenn Sie sich zurückerinnern, wie war die Erziehung vor zehn, 20, sagen wir mal 20, 30 Jahren oder gar 40, wenn ein Kind nach Hause kam und seinen Eltern etwas berichtet hat von einer Lehrkraft, und stellen Sie sich vor, das ist auch noch ein bekannter Pädagoge, der auch noch Schulleiter ist, dann wird dem Kind kein Glauben geschenkt.
Und genau das ist in der Odenwaldschule immer wieder geschehen, so dass die Eltern dann zum Teil ihre Kinder sogar aus der Schule herausgenommen haben mit dem Hinweis, wenn dir die Schule nicht gut genug ist, dann gehst du jetzt eben, machst du eine Lehre oder sonst irgendwas. Es gab aber auch Eltern, die reagiert haben, die ihr Kind dann von der Schule abgemeldet haben, die auch beim Schulleiter vorgesprochen haben. Aber das war letztlich nicht wirklich wirksam, denn der Schulleiter hätte ja dann handeln müssen. Aber was er gemacht hat, zum Beispiel in zwei Fällen, dass er eine Lehrkraft der Schule verwiesen hast, der wurde gekündigt, damit – man kann das so im Nachhinein durchaus so sehen –, damit er weiter Kinder missbrauchen kann, und er blieb dann unbehelligt. Und andere Kinder und Jugendliche, die sich bei ihm oder bei ihren Eltern beschwert haben, wurde oft der Spieß umgedreht und die Kinder dann beschuldigt, sie hätten gestohlen, sie hätten andere Dinge getan und wurden dann der Schule verwiesen, sozusagen als lästige Zeugen dann entfernt.
Karkowsky: Wir lesen im Bericht, dass es noch eine große Dunkelziffer gibt, dies ist also nicht der Abschlussbericht. Wie sehr haben denn ehemalige Lehrer und Lehrerinnen den beiden Aufklärerinnen geholfen, ihren Bericht zu verfassen?
Kaufmann: Nun, es gab sicherlich einzelne Aussagen, aber das war jetzt auch nicht die Aufgabe der Juristinnen. Also Frau Broksmüller war zunächst, ich hatte sie angefragt im März und April, als Ansprechpartnerin für die Betroffenen zur Verfügung zu stellen. Also die Recherche insgesamt bezüglich der Täterstrategien und des Netzwerkes, die steht noch aus, und das haben wir jetzt auch vor, dass wir eine Wissenschaftlerin beauftragen möchten, die dann spezifisch dieser Frage nachgeht. Grundsätzlich kann man sagen, die Odenwaldschule, wir alle haben uns es zur gemeinsamen Aufgabe gemacht, aufzuklären und alle Türen zu öffnen, auch unsere Archive zu öffnen für Recherchen, für Nachfragen, weil wir großes Interesse daran haben herauszufinden, wie es zu all diesen schrecklichen Dingen kommen konnte.
Karkowsky: Es wurde schon über Entschädigungen gesprochen. Sind Sie da ein Stück weiter?
Kaufmann: Nun also, dadurch, dass wir erst jetzt eigentlich sagen wir vorläufige Zahlen haben, vorläufig abschließende Zahlen – der Bericht wurde übrigens auch Abschlussbericht genannt, wir haben uns sehr lange darüber unterhalten, ob es einen vorläufigen Abschlussbericht geben kann, aber das kann es eigentlich nicht geben, insofern ist es jetzt ein Abschlussbericht, was aber nicht heißt, dass in einzelnen Fällen durchaus noch Menschen auf uns zukommen. Zum Thema Entschädigung ist zunächst zu sagen: Entschädigen werden wir das, was geschehen ist, sicher nicht können, denn diese schrecklichen Erlebnisse, die die Menschen in ganz jungem Alter hatten, dafür wird sie nie und niemand entschädigen können. Was wir vorhaben, und das haben wir auch schon begonnen, ist Hilfestellung zu leisten und Unterstützung zu bieten für die Menschen, die vor allen Dingen therapeutische und andere Bedürfnisse oder Bedarfe haben. Die Stiftungsgründung ist inzwischen fortgeschritten, wir hoffen, dass wir im Februar damit dann auch an die Öffentlichkeit gehen können. Die Odenwaldschule selbst plant, eine Kapitaleinlage zu machen in dieser Stiftung, es sind auch bereits umfangreiche Spenden angekündigt worden von verschiedenen Seiten, unter anderem auch von ehemaligen Lehrern, aber auch von Menschen, die außerhalb der Schule stehen. Und so hoffen wir, dass wir dieses Thema angehen können. Wir wollen auch den Verein, der sich gegründet hat, "Klar sprechen", unterstützen, bei dem wir inzwischen Fördermitglied sind als Schule.
Karkowsky: Nach dem Abschlussbericht zweier Juristinnen zum Missbrauch an der hessischen Odenwaldschule die Schulleiterin Margarita Kaufmann. Ihnen vielen Dank für das Gespräch!
Kaufmann: Vielen Dank auch Ihnen!
Margarita Kaufmann: Guten Tag!
Karkowsky: Laut Bericht waren mindestens 132 Schüler betroffen, zumeist Jungs. Das ging vom Grabschen bis zur schweren Vergewaltigung, Kinder zwischen sieben und 14 Jahren. Da bleibt als Ausweg nur noch die Schulschließung, kommentiert heute die Tageszeitung "Die Welt". Wird die Odenwaldschule aufgelöst?
Kaufmann: Nein, die Odenwaldschule ist in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden, und diese Missbrauchsfälle haben sich zugetragen von 1960 rund, 1966 bis in die 90er-Jahre hinein. Und was unsere heutige Zeit betrifft, wir haben die Aufgabe ernst genommen, diese Missbrauchsfälle aufzuarbeiten und zurückzuschauen. Und insofern denke ich, es ist heute nicht gerechtfertigt, die Schule heute zu schließen. Wir haben über 200 Kinder, die bei uns leben und lernen, die hier ihre Abschlüsse machen möchten, in diese Schule haben viele Eltern Vertrauen und auch viele öffentliche Stellen, weil wir ja auch Kinder aus dem Jugendamt haben. Und ich denke, wir tun heute alles uns Mögliche, um zum einen den Missbrauchsskandal aufzudecken, aufzudecken, was damals geschehen ist, und zum anderen die Schule heute so zu verändern, so zu gestalten, dass solche schrecklichen Dinge nicht mehr geschehen können.
Karkowsky: Es sind natürlich vor allem die Kritiker einer linksliberalen Reformpädagogik, die jetzt solche drastischen Konsequenzen fordern, aber man muss darüber nachdenken. Es wird als Haupttäter im Bericht der pädokriminelle Gerold Becker genannt, also der langjährige Direktor der Schule. Das hatte man erwartet. Wenn nun dieser Missbrauch von ganz oben kam, ist damit nicht auch der reformpädagogische Ansatz der Schule in dieser Zeit zumindest eine Farce gewesen, eine Lebenslüge?
Kaufmann: Ich denke, man kann eine solche Frage durchaus stellen an die Zeit und an alle damals, die Verantwortung getragen haben, also nicht nur der Schulleiter, sondern natürlich auch der Vorstand, den diese Schule hatte, und letztlich auch an die Kollegen. Wir haben diese Frage immer wieder in den letzten Monaten natürlich diskutiert innerhalb des Kollegiums, innerhalb der Schule, innerhalb sämtlicher Gremien, auch des Trägervereins, und immer wieder wurde gefragt, warum hat niemand etwas gemerkt, warum hat niemand gehandelt? Ich denke, es ist nichtsdestotrotz nicht gerechtfertigt, die reformpädagogische Arbeit grundsätzlich infrage zu stellen, denn Reformpädagogik bedeutet einfach eine andere Art von Schule. Das bedeutet aber nicht, dass Tür und Tor geöffnet ist für sexuelle Übergriffe. Ganz im Gegenteil, ich denke, ein guter Pädagoge und jemand, der seine Arbeit ernst nimmt, egal ob er Reformpädagogik macht oder eine andere Form der Pädagogik, darf kein Pädosexueller sein. Und insofern dürfen diese beiden Dinge auch nicht vermischt werden.
Karkowsky: Sie hat auch dieses Klima nicht begünstigt?
Kaufmann: Ich denke, was es sicherlich begünstigt hat, ist eine nicht eindeutige Trennung von Grenzen. Also wo ist Nähe und wo darf und muss auch Distanz sein, und wie weit darf Nähe gehen? Es kann nicht sein, dass Erwachsene dann die Verantwortung für ihr Tun letztlich sogar dem Kind übertragen, wie man in manchen Diskussionen ja in den letzten Monaten auch lesen und hören konnte, dass auch führende Pädagogen oder einführende Pädagogen sagten, dass das den Kindern gefallen hat und solche Dinge. Das ist absolut entsetzlich, wenn man so etwas hört.
Also, die Frage ist, wie muss das Zusammenleben, was in einem Internat natürlich gegeben ist, gestaltet sein, damit Übergriffe nicht möglich sind. Und wir haben uns in den letzten Monaten ganz intensiv an die Arbeit gemacht, haben umfangreiche Fortbildungen mit allen Mitarbeitern gemacht, einzelne, eintägige Fortbildungen, regelrechte Schulungen zum Thema Nähe und Distanz, zu Fragen des sexuellen Missbrauchs, zu Übergriffen und natürlich auch zu Täterstrategien; wir haben auf der anderen Seite aber auch ganz intensiv unsere Kinder und Jugendlichen fortgebildet in altersgerechten Fortbildungen durch Fachstellen. Also alles haben wir von außen beratend durchgeführt, und ich denke, das ist ein erster Schritt, um die Mitarbeiter in die Lage zu versetzen und natürlich auch die Kinder, bewusst mit dem Thema umzugehen.
Karkowsky: Sie hören im Radiofeuilleton die Schulleiterin der Odenwaldschule Margarita Kaufmann. Frau Kaufmann, Sie haben den Bericht der beiden Juristinnen ja eng begleitet. Darin ist auch die Rede von möglichen Selbstmorden von Opfern. Was können Sie uns darüber erzählen?
Kaufmann: Nun, eine Monokausalität konnte nicht festgestellt werden, das sagten auch die beiden Juristinnen. Allerdings bleiben natürlich Vermutungen weiterhin lebendig, das ist, die können wir auch nicht ausräumen. Es ist in ganz vielen Fällen, auch den posttraumatischen Belastungsstörungen, nicht eindeutig klar, woher diese Belastungen kommen, warum die Menschen heute noch leiden und warum damals sich jemand das Leben genommen hat. Eindeutig können wir es nicht festlegen, wir können es nicht zurückverfolgen, aber es gibt zumindest mal in Einzelfällen durchaus die Vermutung, dass da ein Zusammenhang bestanden hat. Zumal einige der Betroffenen, die sich dann das Leben genommen haben, tatsächlich dann auch in starken Drogenkonsum geraten sind und sehr abhängig geworden sind. Und von einem jungen Mann wissen wir, dass er deshalb gestorben ist. Die Frage stellt sich natürlich, warum hat er begonnen, Drogen zu nehmen? Und da trifft die Schule eine große Verantwortung, denn sie konnte offensichtlich dem massiven Drogenmissbrauch und auch Alkoholmissbrauch nicht vorbeugen, ihn auch nicht eindämmen.
Karkowsky: Ein 13-Jähriger wird im Bericht erwähnt, er soll sich seinen Eltern offenbart haben und wurde dann von seinen Eltern zurechtgewiesen nach dem Motto, was stellst du dich so an, du hast Vorurteile gegenüber Homosexuellen. Geben die beiden Aufklärerinnen den Eltern mit ihrem Ansatz eines anderen, liberaleren Lernens eine Mitschuld?
Kaufmann: Den Eltern geben sie insofern eine Mitschuld und so, man muss es sicherlich ausweiten auf die Kollegen auch hier in der Schule, die zu dieser Zeit informiert worden waren, es waren einzelne Personen, die erfahren hatten davon, von Schülern und eben Eltern, und sie waren dann auf die Schulleitung zugegangen oder auch an andere Stellen, aber immer wieder war eine Bagatellisierung zu beobachten und die Schüler, und die Kinder und Jugendlichen wurden dann auch nicht ernst genommen. Und wenn Sie sich zurückerinnern, wie war die Erziehung vor zehn, 20, sagen wir mal 20, 30 Jahren oder gar 40, wenn ein Kind nach Hause kam und seinen Eltern etwas berichtet hat von einer Lehrkraft, und stellen Sie sich vor, das ist auch noch ein bekannter Pädagoge, der auch noch Schulleiter ist, dann wird dem Kind kein Glauben geschenkt.
Und genau das ist in der Odenwaldschule immer wieder geschehen, so dass die Eltern dann zum Teil ihre Kinder sogar aus der Schule herausgenommen haben mit dem Hinweis, wenn dir die Schule nicht gut genug ist, dann gehst du jetzt eben, machst du eine Lehre oder sonst irgendwas. Es gab aber auch Eltern, die reagiert haben, die ihr Kind dann von der Schule abgemeldet haben, die auch beim Schulleiter vorgesprochen haben. Aber das war letztlich nicht wirklich wirksam, denn der Schulleiter hätte ja dann handeln müssen. Aber was er gemacht hat, zum Beispiel in zwei Fällen, dass er eine Lehrkraft der Schule verwiesen hast, der wurde gekündigt, damit – man kann das so im Nachhinein durchaus so sehen –, damit er weiter Kinder missbrauchen kann, und er blieb dann unbehelligt. Und andere Kinder und Jugendliche, die sich bei ihm oder bei ihren Eltern beschwert haben, wurde oft der Spieß umgedreht und die Kinder dann beschuldigt, sie hätten gestohlen, sie hätten andere Dinge getan und wurden dann der Schule verwiesen, sozusagen als lästige Zeugen dann entfernt.
Karkowsky: Wir lesen im Bericht, dass es noch eine große Dunkelziffer gibt, dies ist also nicht der Abschlussbericht. Wie sehr haben denn ehemalige Lehrer und Lehrerinnen den beiden Aufklärerinnen geholfen, ihren Bericht zu verfassen?
Kaufmann: Nun, es gab sicherlich einzelne Aussagen, aber das war jetzt auch nicht die Aufgabe der Juristinnen. Also Frau Broksmüller war zunächst, ich hatte sie angefragt im März und April, als Ansprechpartnerin für die Betroffenen zur Verfügung zu stellen. Also die Recherche insgesamt bezüglich der Täterstrategien und des Netzwerkes, die steht noch aus, und das haben wir jetzt auch vor, dass wir eine Wissenschaftlerin beauftragen möchten, die dann spezifisch dieser Frage nachgeht. Grundsätzlich kann man sagen, die Odenwaldschule, wir alle haben uns es zur gemeinsamen Aufgabe gemacht, aufzuklären und alle Türen zu öffnen, auch unsere Archive zu öffnen für Recherchen, für Nachfragen, weil wir großes Interesse daran haben herauszufinden, wie es zu all diesen schrecklichen Dingen kommen konnte.
Karkowsky: Es wurde schon über Entschädigungen gesprochen. Sind Sie da ein Stück weiter?
Kaufmann: Nun also, dadurch, dass wir erst jetzt eigentlich sagen wir vorläufige Zahlen haben, vorläufig abschließende Zahlen – der Bericht wurde übrigens auch Abschlussbericht genannt, wir haben uns sehr lange darüber unterhalten, ob es einen vorläufigen Abschlussbericht geben kann, aber das kann es eigentlich nicht geben, insofern ist es jetzt ein Abschlussbericht, was aber nicht heißt, dass in einzelnen Fällen durchaus noch Menschen auf uns zukommen. Zum Thema Entschädigung ist zunächst zu sagen: Entschädigen werden wir das, was geschehen ist, sicher nicht können, denn diese schrecklichen Erlebnisse, die die Menschen in ganz jungem Alter hatten, dafür wird sie nie und niemand entschädigen können. Was wir vorhaben, und das haben wir auch schon begonnen, ist Hilfestellung zu leisten und Unterstützung zu bieten für die Menschen, die vor allen Dingen therapeutische und andere Bedürfnisse oder Bedarfe haben. Die Stiftungsgründung ist inzwischen fortgeschritten, wir hoffen, dass wir im Februar damit dann auch an die Öffentlichkeit gehen können. Die Odenwaldschule selbst plant, eine Kapitaleinlage zu machen in dieser Stiftung, es sind auch bereits umfangreiche Spenden angekündigt worden von verschiedenen Seiten, unter anderem auch von ehemaligen Lehrern, aber auch von Menschen, die außerhalb der Schule stehen. Und so hoffen wir, dass wir dieses Thema angehen können. Wir wollen auch den Verein, der sich gegründet hat, "Klar sprechen", unterstützen, bei dem wir inzwischen Fördermitglied sind als Schule.
Karkowsky: Nach dem Abschlussbericht zweier Juristinnen zum Missbrauch an der hessischen Odenwaldschule die Schulleiterin Margarita Kaufmann. Ihnen vielen Dank für das Gespräch!
Kaufmann: Vielen Dank auch Ihnen!