Odessa und der Kampf gegen die Korruption

Die Stadt der guten Onkels

Einfahrtstor zum kommerziellen Hafen von Odessa.
Einfahrt zum Hafen von Odessa © imago / Peter Seyfferth
Von Andrea Rehmsmeier |
Digitalisierung, Kundenfreundlichkeit, Transparenz: Wenn ukrainische Zollbeamte über die Zukunft des Hafens in Odessa reden, klingt es, als sei die Ukraine mit Riesenschritten unterwegs Richtung Europa. Doch es gibt noch eine zweite Wahrheit.
Scheibenlose Fenster, Rußspuren an der Fassade, ein blickdichter Bauzaun. Das Gewerkschaftshaus ist bis heute unrenoviert: ein zum Mahnmal erstarrtes Schlachtfeld, mitten im Stadtzentrum von Odessa.
Der hagere Mann mit der asiatisch anmutenden Troddelmütze betrachtet das einst so prunkvolle Gebäude mit finsterem Blick. Es war am 2. Mai 2014: Eine Kundgebung war zum Gewaltexzess eskaliert, pro-russische und pro-europäische Demonstranten waren mit Schusswaffen und Molotowcocktails aufeinander losgegangen. 48 Menschen fanden in Feuersbrunst und Kugelhagel ihren Tod.
"Die einen sagen, dass die Leute im Gewerkschaftshaus das Feuer selbst angezündet haben, die anderen, dass gezielt Molotowcocktails hineingeworfen wurden. Ich selbst bin mir nur über eines sicher: Es war eine Provokation. Die Ermittlungen laufen und laufen, aber unsere Behörden finden nicht heraus, von wem sie ausging. Vielleicht wollen sie das auch gar nicht, weil sie selbst mit drin stecken."
Múrat ist Taxifahrer. Seine markanten Gesichtszüge weisen ihn als Kauskasier aus, sein Pass ist russisch, zuhause aber fühlt er sich nur in Odessa: in dieser lebenslustigen Hafenstadt, die Ukrainern, Russen und Weißrussen, Bulgaren, Juden, Deutschen, Rumänen, Türken, Arabern und unzähligen anderen Bevölkerungsgruppen ein Zuhause ist.

Odessa war Sinnbild für Weltoffenheit

Odessa war immer ein Sinnbild für Weltoffenheit, Toleranz und Multikulti gewesen - bis zu dem Tag, als das Gewerkschaftshaus brannte. Ratlos zuckt Múrat die Schultern. Europa oder Russland? Für die Hafenmetropole ist diese ukrainische Schicksalsfrage nie relevant gewesen. Die Odessiter waren immer beides, und zugleich keines von beidem. Und so hat Murat für die Tragödie im Gewerkschaftshaus nur eine Erklärung: Sie ging auf das Konto von bezahlten Schlägern.
Rote Nelken liegen einem zerstörten Fenster des Gewerkschaftshaus in Odessa
Trauernde vor dem zerstörten Gewerkschaftshaus in Odessa: Wer war's?© Deutschlandradio / Sabine Adler
"Da ist Geld geflossen! Wahrscheinlich gab es einen Sponsor - einen 'Guten Onkel', wie es bei uns heißt. Das sagen alle. Bei uns läuft nämlich gar nichts, wenn keiner zahlt. Ohne Geld rührt sich hier niemand."
Die "guten Onkels": In der Ukraine ist das ein geflügeltes Wort für die unsichtbaren Strippenzieher, die mit ihrem Geld das Tagesgeschehen lenken. In Odessa entdeckt Múrat ihre Spuren überall. Vor der Windschutzscheibe seines alten Pkw eröffnet sich der Blick auf historische Häuserfassaden, die reich verziert sind mit Erkern, Säulen und Balkonen. Dahinter ragen vollverglaste Bürotürme und Bauskelette schnell hochgezogener Hotels auf.
"Wie Pilze wachsen bei uns die Wolkenkratzer – 20 Stockwerke und mehr! Dabei steht der historische Stadtkern unter dem Schutz der UNESCO. Eigentlich darf man hier gar nicht höher bauen als vier oder fünf Stockwerke. Wie kann das sein? Das fragen uns sogar die Ausländer, die Touristen aus Deutschland, Frankreich, Polen und Italien. Das wissen wir auch nicht, antworten wir dann. Aber wir Leute von Odessa, wir wissen alles! Irgendwer hat einen Haufen Geld bekommen, und schon läuft das mit der Baugenehmigung."

Baugenehmigungen gibt es - gegen Geld

Odessa: Für die Touristen ist die legendäre Küstenstadt am Schwarzen Meer das San Francisco des Ostens. Für den internationalen Frachtverkehr ist sie ein wichtiger Warenumschlagplatz zwischen Europa und Asien. Für die Europäische Union ist Odessa ein Prüfstein für die Reformfreudigkeit des assoziierten Mitgliedsstaates.
Drei Jahre nach Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens ist die Bilanz der Ukraine im Kampf gegen Vettern- und Schmiergeldwirtschaft gemischt: Zwar sollen neue Gesetze für mehr für Transparenz und härtere Strafen sorgen und auch der Ex-Gouverneur von Odessa, Michail Saakaschwili, hatte den Kampf gegen die Korruption zum Aushängeschild seiner Regierungszeit gemacht. Im November 2016 aber trat er dann aber unverrichteter Dinge zurück. Und der Europäische Rechnungshof hat inzwischen Finanzhilfen infrage gestellt: Die Erfolgsbilanz der Ukraine in Bezug auf die Korruption sei "unzulänglich".
Am Hafen ist es ruhig an diesem Tag: Hier wuchtet ein Baukran eine Palette über die Industrielandschaft, dort schlurft ein Arbeiter mit Bauhelm über das Gelände. Containerschiffe aus aller Welt, groß wie Kasernen, liegen an den Piers.
Anschnallen? Nicht nötig, es geht ja nicht in den Stadtverkehr!, sagt Viktor Katschénko. Der Zollbeamte mit dem eleganten Mantel zwinkert verschmitzt, dann geht es im Schritttempo über das riesige Hafenareal.

Der Hafen ist nur halb ausgelastet

"Diese Autobahnbrücke hier verbindet das Hafengelände mit dem so genannten Euroterminal. Der Name signalisiert, dass hier die neuesten Technologien nach europäischen Standards eingesetzt werden. Der Hafen ist ein riesiges Einsatzgebiet für den Zoll. Seine Kapazität ist ausgelegt auf 25 Millionen Tonnen Flüssigware – meist Speiseöl oder technisches Öl - und auf 21 Millionen Tonnen Schüttware: Metallspäne oder Getreide. Wegen des bewaffneten Konflikts im Osten der Ukraine ist der Hafen zurzeit nur halb ausgelastet. Immerhin haben wir im vergangenen Jahr 94.000 Container angenommen, 19.000 Container mehr als im Vorjahr. Es gibt also eine positive Tendenz."
Am Rande eines asphaltierten Platzes stehen zwei Spezialfahrzeuge mit tentakelartigen Vorrichtungen: Mobile Scanner mit einer ausfahrbaren Röntgenvorrichtung, unter der LKW-Auflieger und Container hindurchgeführt werden können. Zollinspektor Dmítrij Lébedev winkt, ihm für eine Computer-Demonstration hinein zu folgen. Der Bildschirm zeigt ein Röntgenbild, dessen verschwommenes Schwarz-Weiß den Innenraum eines Busses erkennen lässt.
Hafen von Odessa
Umschlagplatz für Waren aus aller Welt: Hafen von Odessa© picture alliance / dpa / Sharifulin Valery / ITAR-TASS
"Dieser Bus, registriert in Deutschland, war auf dem Weg nach Bulgarien: ein leerer Mercedes mit Spezialausstattung. Die Doppelwandung haben wir beim Scannen entdeckt – dort und da oben auf dem Bild sehen Sie untypische dunkle Stellen. Tatsächlich haben wir in den Zwischenräumen Zigarettenstangen entdeckt. Die waren in der Ukraine gefälscht worden, und sollten auf dem EU-Markt verkauft werden. Etwa eine halbe Million Stück."
Neue Technologien und europäische Standards gegen Schmuggel und Schmiergeld: Welche Fortschritte gibt es im Kampf gegen die Schattenwirtschaft? Der Verwaltungstrakt des Hafenzolls ist ein historisches Gebäude mit frisch renovierter Fassade. Alexéj Móriv, der stellvertretende Leiter, empfängt die Gäste des Hauses in Begleitung von Pressesprecherin Eléna Gúseva.

Zollbeamte werden auf Trab gebracht

"Früher war da der Zollbeamte. Die Formulare liegen vor ihm auf dem Schreibtisch - aber aus irgendeinem Grund ist ihm ein Klient unsympathischer als der andere. Also schiebt er die Bearbeitung des Vorgangs auf den nächsten Tag. So etwas ist heute nicht mehr möglich. Unser neues System erfasst jeden einzelnen Kontrollschritte mit allen Details – und das zeigt Wirkung. Ein Mensch bleibt immer ein Mensch. Aber das System dahinter, das bringt ihn auf Trab."
Informationstechnologie statt Beamtenwillkür, software-getriebene Risikoanalyse statt Stichprobenkontrollen, Kundenorientierung statt Bürokratismus. Die Reform läuft auf Hochtouren, bestätigt Móriv.
Der ukrainische Zoll habe in den vergangenen Jahren tonnenweise Kokain und Hunderte Kilogramm Heroin aus dem Verkehr gezogen. Ein Element im Reformpaket aber vermisst der junge Zollmanager – wenn es um flächendeckende Frachtkontrollen durch unbestechliche Beamte geht, womöglich das wichtigste: die Erhöhung der Besoldung. Angesichts von Monatsgehältern, die bei umgerechnet 150 Euro beginnen, sei die längst überfällig.

Niedrige Löhne erzeugen Korruption

"Meine persönliche Meinung ist: Niedrige Löhne erzeugen Korruption. Und die guten, erfahrenen Leute kündigen. Wir verlieren gerade unsere besten Mitarbeiter. Nun ja, so sind im Moment die Rahmenbedingungen. Wir arbeiten trotzdem professionell, eigentlich läuft es ganz gut. Aber wenn wir uns wirklich verbessern wollen, dann sollten wir zuerst unsere Mitarbeiterzahl vergrößern."
Legal arbeiten und ein angemessenes Gehalt bekommen. Steuern zahlen und den Anspruch auf Sozialleistungen erwerben. In einer Stadt leben, in dem der Rechtsstaat die Regeln bestimmt, und nicht ein Geflecht aus verborgenen Geldströmen, inoffiziellen Regelungen und korrupten Beamten. Davon träumt auch Múrat. Doch in Odessa, berichtete er, herrschen andere Regeln. Der Taxifahrer arbeitet schwarz, weil sein Arbeitgeber die Lohnnebenkosten scheut. In seinem Bekanntenkreis geht es allen so.
Am Seitenfenster zieht eine unscheinbare Stadtrand-Siedlung vorüber. Hinter einem der unzähligen Wohnblock-Fenster arbeitet Múrats Sohn. Eigentlich ist er Marineoffizier. Doch den einzigen Job, den er nach erfolgreich abgeschlossener Ausbildung fand, gab es in einer Untergrund-Näherei für gefälschte Markenkleidung – so jedenfalls erzählt es der Taxifahrer. Um eine anständig bezahlte Stelle bei der Marine zu bekommen, müssten die Bewerber Schmiergeld zahlen – und so viel Geld besitzt Murats Familie nicht.
"Da hinten steht ihr Haus, 200 Meter von hier. Die Chefin meines Sohnes hat einen Teil ihrer Wohnung abgetrennt und dort ihre Geräte aufgestellt. Neun Frauen und mein Sohn arbeiten dort. Die Frauen nähen, mein Sohn schneidet die Stoffe zu. Es gibt auch illegale Nähereien mit 90 Mitarbeitern – die sind wie Fabriken. Dort wird genäht, genäht, genäht."

Gauner, Schmuggler, Waffenhändler und Mafiosi

Markenfälscher und Gauner, Schmuggler und Schmiergeldzahler, Waffenhändler und Mafiosi - sie prägen den Ruf der Hafenstadt seit ihrer Gründung vor gut 220 Jahren. "Odessa ist eine abscheuliche Stadt. Das weiß jedermann", schrieb augenzwinkernd der sowjetische Schriftsteller Isaak Babel im Jahr 1916. Mit seinen "Geschichten aus Odessa" setzte er der Halbwelt ein literarisches Denkmal.
In Hafennähe erlaubt eine historische Brücke einen weiten Blick über das Altstadtviertel. Hier beginnt die Stadtführerin Olga Bochónovskaja ihre Exkursionen. Auf ihrer Website wirbt sie mit Ausflügen in Odessas Unterwelt: die Katakomben.
"Sehen Sie das gelbe Gebäude da hinten? Früher war dort der älteste Pier. Die Häuser in Hafennähe waren bei den Schmugglern höchst begehrt. Das hat in Odessa sogar die Architektur geprägt: Viele der alten Gebäude haben Hinterausgänge, die sich irgendwo im Gewirr der Höfe verlieren. Wenn man verfolgt wird, ist das perfekt. Man läuft vorne herein und kommt an einer ganz anderen Stelle wieder heraus."
Mit flottem Schritt durchmisst Olga Bochónovskaja das Gewirr der Gassen. In einem der unzähligen Innenhöfe, entdeckt sie eine historische Zisterne mit einer verrosteten Kurbelvorrichtung.
"Von diesen Zisternen und Brunnen gab es damals viele – aber einige davon waren nicht echt. Schmuggler und andere Kriminelle nutzten sie als Einstieg in die Unterwelt. Sie hatten die Gestalt von Zisternen, waren aber keine. Tatsächlich verbarg sich darunter der Zugang zu den Katakomben."

Tunnelsystem unter dem Stadtgebiet

Die Katakomben, Odessas Unterwelt: Das verzweigte Tunnelsystem unterhöhlt das gesamte Stadtgebiet. Die Odessiter selbst haben es im Laufe von mehreren Jahrhunderten gegraben. Sie bauten den weichen Kalk- und Sandstein in unterirdischen Steinbrüchen ab, um ihn als billiges Baumaterial für ihre Häuser zu nutzen.
Wer heute in die Katakomben hinabsteigen will, der muss Olga in ein Museum mit dem sowjetischem Namen "Ruhm der Partisanen" folgen, gelegen eine halbe Autostunde nördlich des Stadtzentrums. Hier gibt es den einzigen öffentlichen Zugang.
Den Schlüssel für das schwere Eingangstor hütet Museumswärterin Svetlana. Die Gänge sind schmal, finster und erstaunlich warm. In dieser wohltemperierten Unterwelt, erzählt Svetlana, ist schon vieles geschehen, das nicht ans Tageslicht gehört.
"Warum gab es hier die Schmuggelbanden? Wegen der Katakomben! Die Schmuggler haben im 19. Jahrhundert Waren und Waffen versteckt, und gefälschtes Geld gedruckt. Zur Porto-Franco-Zeit verlief die Zollgrenze quer durch die Stadt, und das hat die Waren um das fünf- bis siebenfache verteuert. Also wurden sie durch die Katakomben aus der Stadt gebracht. Dort zogen die Schmuggler sie herauf - und wurden mit ihnen reich."
Porto Franco – Freihandel für die Hafenstadt! Im Jahr 1819 war das die Zauberformel, die ihre erste Blütezeit einleitete, und Glücksritter in Scharen anlockte. Damals, als von Odessa aus exotische Waren aus aller Welt ins Russische Reich strömten, erklärten die Stadtväter das Zentrum zur Duty-Free-Zone. Der Zoll wurde erst an der Stadtgrenze erhoben, berichtet Touristenführerin Olga: Gebühren, die leicht zu umgehen waren, wenn man zum Warentransport statt der Straße das unterirdische Labyrinth nutzte.

Frauen wurden entführt und verschleppt

Die Legende erzählt, dass die reichen Schmuggler hier unten riesige Zimmer mit Möbeln besaßen, die armen hatten ihre Schlafnischen. Es gab eine unterirdische Straße, die vom Hafen bis zur Stadtgrenze führte. Hier wurden sogar Frauen auf der Straße entführt und in die Häuser mit Zugang zu den Katakomben gebracht. Von dort aus wurden sie erst zum Hafen und dann auf die Sklavenmärkte von Istanbul verschleppt. Solche Fälle sind dokumentiert.
Warenverkehr, der frei ist von Zoll, Steuern und juristischen Auflagen – das ist in Odessa auch heute noch die meistpraktizierte Geschäftsform, schmunzelt Múrat, der Taxifahrer. Er schert aus der Autokolonne aus und lenkt sein klappriges Gefährt auf die Ausfahrtsstraße nach Owidiópol. Dort, bei Kilometerabschnitt Sieben, gibt es einen gleichnamigen Markt – eine riesige Verkaufsfläche mit geschätzten 100.000 Besuchern pro Tag: Laut Múrat der wohl einzige offizielle Schwarzmarkt der Welt.
"Der Markt ist eine einzige Mafia. Er gehört niemandem, nicht dem Bürgermeister und nicht dem Präsidenten. Es ist eine Stadt in der Stadt – oder besser: ein eigenes Land mit eigenen Regeln. Die ganze Ukraine kauft dort steuerfrei ein – offen unter den Augen der Polizei. Nicht ich sage das. Das wissen alle!"
Assoziierungsvertrag mit Europa hin oder her: In dem Odessa, das Murat jeden Tag erlebt, hat sich rein gar nichts verändert. Der Rechtsstaat, auf den er hofft, wird wohl noch lange ein ferner Traum bleiben.
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