"Odyssee", "Hofmeister" und "Diebe"

Von Stefan Keim |
Wien ist das Zentrum des deutschsprachigen Theaters. Über den Burgdirektor Matthias Hartmann, über seine Glätte und Geschmeidigkeit, über seine oft kunstgewerblichen Inszenierungen wird viel gelästert. Aber als Intendant bindet er viele der gerade angesagten kreativen Köpfe an sein Haus.
Von einem Programm, wie es das Burgtheater bietet, können manche Festivals nur träumen. Und zwar gerade in der Bandbreite zwischen großem Repräsentationstheater bis zu Kooperation mit Off-Bühnen aus dem Ausland.

Einige der spannendsten Projekte des beginnenden Jahres haben an der Burg Premiere. Thomas Vinterberg, der dänische Kinoregisseur ("Das Fest", "Dear Wendy"), inszeniert sein eigenes Stück "Das Begräbnis" über einen Hotelier und Kinderschänder. Das apokalyptische Drama "Quai West" von Bernard-Marie Koltés muss ohnehin mal wieder dringend gespielt werden, niemand Geringeres als Andrea Breth inszeniert in Wien und versucht, damit ihrem Ruf als Klassikerspezialistin entgegen zu wirken.

Und Luc Bondy inszeniert einen neuen Text von Peter Handke, "Helena" nach Euripides. Dass in Wien auch neue Stücke von Sibylle Berg und René Pollesch kommen, ist da fast schon Nebensache. Und Hausherr Hartmann weiß, dass er als Regisseur immer dann künstlerisch die größten Erfolge hat, wenn er in kleine Räume geht und der ökonomische Erfolgsdruck von ihm abfällt. Er geht ins Kasino am Schwarzenbergplatz, um einen der größten Stoffe der Weltliteratur zu inszenieren, "Krieg und Frieden" von Tolstoi, bearbeitet von Roland Schimmelpfennig.

Mit so einer Zusammenballung großer Namen kann nur Berlin mithalten. Aber hier läuft in dieser Saison bisher kaum etwas zusammen. Der in Hamburg so erfolgreiche Ulrich Khuon produziert am Deutschen Theater einen Flop nach dem nächsten. Doch das wird nicht so bleiben. Schon im Januar bringt Andreas Kriegenburg das neue Stück von Dea Loher "Diebe" auf die Bühne, die Zusammenarbeit der beiden gehört zu den fruchtbarsten Autor-Regisseur-Beziehungen der letzten Jahre. Dann kommen innerhalb von wenigen Wochen neue Arbeiten von Stephan Kimmig, Dimiter Gotscheff und Michael Thalheimer. Wenn da kein Triumph dabei ist, dann hat Khuon wahrhaftig irgendeine bisher unbekannte Seuche ins Deutsche Theater geschleppt.

Die Volksbühne sucht seit einigen Jahren verzweifelt nach neuen Impulsen. Vielleicht findet Frank Castorf sie ja auf Reisen, er inszeniert seit Langem mal wieder an einem anderen Stadttheater, den "Hofmeister" von Lenz am Züricher Schauspielhaus. Dort gibt es einen weiteren Regisseur zu bewundern, der sich im Sprechtheater rar macht: Christof Loy, eigentlich ja schon im Musiktheater völlig überarbeitet, bringt dort eine Rarität auf die Bühne, den "Tausch" des französischen religiösen Mystikers Paul Claudel.

Inszenierende Schauspieler, überhaupt die Aufweichung der fest zugeschriebenen Berufsgrenzen im Theater, sind ein Trend, der 2010 anhält. Milan Peschel zum Beispiel inszeniert am Gorki-Theater in Berlin "Die Glasmenagerie" von Tennessee Williams, und Corinna Harfouch bringt in Stuttgart "Der Schmerz" von Marguerite Duras auf die Bühne. In Bochum dürfen mal die Bühnenbildner ran, Silvia Merlo und Ulf Stengl inszenieren "Die Zofen" von Jean Genet.

Die mit hohen Erwartungen befrachteten Theaterneustarts des letzten Sommers haben viele Enttäuschungen gebracht. Vielleicht liegt es aber auch am hohen Erwartungsdruck, und Häuser wie das Hamburger Thalia-Theater müssen unter neuer Leitung erstmal in Gang kommen. Einfacher hatten es da die Anfänger aus der zweiten Reihe. In Hannover und Dresden gelangen einige schöne Erfolge, und der zweite Teil der Saison lässt Hoffnungen blühen, ohne dass immer Meisterleistungen herauskommen müssen. Dresden zeigt Uraufführungen von Jan Neumann und Ewalt Palmetshofer, von zwei der interessantesten jüngeren Autoren. In Hannover arbeiten mit Sebastian Schug, Felicitas Brucker und Tom Kühnel einige der vielversprechenden Regisseure unterhalb des Nummer-Eins-Levels der anhaltenden Feuilleton-Aufmerksamkeit.

Das Stuttgarter Staatsschauspiel hat sich mit einigen gelungenen Aufführungen, auch Uraufführungen ebenso in die Spitzengruppe der deutschsprachigen Theater bewegt wie das Schauspiel Frankfurt. Stuttgart scheint aber - zumindest auf dem Papier - die interessantere nahe Zukunft zu haben, mit neuen Stücken von Nils Momme Stockmann, Sibylle Berg und Juliane Kann, mit neuen Arbeiten von Volker Lösch und Harald Schmidt, die beide auf ihre Weise das Bildungsbürgertum heraus fordern, durch krasse Konfrontation und selbstironische Affirmation.

Neustarts von Intendanten gibt es im Sommer 2010 vor allem im Ruhrgebiet. Die Schauspielhäuser in Bochum, Essen und Dortmund beginnen unter neuer Leitung und in schwierigen Zeiten. Denn alle Städte im Ruhrgebiet stehen vor der Überschuldung und wollen um die 30 Prozent bei der Kultur sparen. Schwächeperioden können hier gleich zur Existenzbedrohung für die Theater werden, was nicht gerade Lockerheit vermittelt. Gleichzeitig wird die Kulturhauptstadt 2010 auch einige Höhepunkte ins Ruhrgebiet bringen. Vor allem die Zusammenarbeit aller Bühnen der Region in einer sechsteiligen "Odyssee" verspricht viel: Sechs Regisseure aus verschiedenen europäischen Ländern - darunter Christoph Ransmayr aus Österreich und Enda Walsh aus Irland - haben neue Stücke über die "Odyssee" geschrieben, die an zwei Tagen an einem Wochenende aufgeführt werden. Auch die Reise des Publikums durch das Ruhrgebiet soll Teil der Inszenierung sein. Die Ruhrfestspiele werden sich mit Kleist beschäftigen, und das Festival "Theater der Welt" unter Leitung der flämischen Fachfrau Frie Leysen Aufführungen von anderen Kontinenten zeigen.

Trotz der Einsparungen vielerorts sind es immer wieder Theater aus der zweiten und dritten Reihe, die Impulse ausstrahlen. Herbert Fritsch, ehemals Volksbühnenstar und nun Regisseur, entwickelt seine neue Spielart der Commedia dell´arte in Oberhausen, Wiesbaden und Halle. Das Theater am Neumarkt hat in Zürich dem Schauspielhaus gerade den Rang abgelaufen, mit ungewöhnlichen Projekten wie Barbara Webers Filmadaption "Baby Jane" in einem Abbruchhaus weit weg vom Zentrum. Was sich hinter den fantasievollen Titeln auf Kampnagel in Hamburg oder bei "Hebbel am Ufer" in Berlin verbirgt, weiß man oft erst, wenn man hingeht. Auch wenn die Großen manchmal kriseln, bleiben die Kleinen die Kraftzentren. Es ist die wichtigste Aufgabe der Kulturpolitik, dem Theater diese Erneuerungsmöglichkeiten zu erhalten.