Staunenswert formvollendete Flatulenz
An der Berliner Schaubühne versetzt Regisseur Romeo Cantellucci die griechische Tragödie "Ödipus der Tyrann" samt Starbesetzung ins Nonnenkloster. Es geht vor allem weihevoll und getragen zu - bis das Lämmchen köttelt.
Es mag das Lamm Gottes sein, das hier vom blinden Seher (Bernardo Arias Porras) auf die Bühne mitgebracht und auf den Armen einer Chor-Nonne abgesetzt wird. Ein echtes, flauschiges, leises meckerndes Lämmchen, von dem man die Augen gar nicht mehr abwenden möchte, zumal man den großen Worten der Darsteller ohnehin nicht wirklich folgen kann. Und gerade als man überlegt, ob das nicht doch ein Fall für den Tierschutzbund sein könnte, beginnt das kuschlige Geschöpf munter vor sich hin zu kötteln, was auf der perwollweißen Bühne und vor den ebenso weißen Nonnengewändern einen schönen Kontrast beschert. Überhaupt – überall nur Kunst, und dann so ein kleiner Moment wirkliches Leben.
Denn ansonsten geht es vor allem weihevoll und getragen zu an diesem Premierenabend an der Berliner Schaubühne. Romeo Castellucci, der in der bildenden Kunst ebenso zu Hause ist wie im Schauspiel- und Operinszenierungsgewerbe, setzt nämlich seine intensive Beschäftigung mit Hölderlin-Texten fort. Diesmal ist er ausgerechnet auf dessen Übersetzung des "dipus" von Sophokles verfallen, die es mit ihrer verwinkelten Getragenheit auch dem aufgeschlossenen Leser alles andere als leicht macht. Das trifft sich aber gut für Castellucci, da ihm ohnehin die ästhetische Eigenmächtigkeit der Sprache am Herzen liegt und nicht ihr kommunikatives Element. Nicht ums Verstehen geht es, sondern ums feierliche Zelebrieren, um den Gottesdienst der Verse, der Stimmen und Posen.
Erst einmal wird aber gar nicht gesprochen, da wir es mit einem völlig aus der Zeit gefallenen Nonnenkloster zu tun haben, in dem wohl auch das Schweigegelübde gilt. Mutter Oberin Angela Winkler entdeckt dann aber unterm mysteriös rumpelnden Sterbebett einer gerade verstorbenen Karmeliterin eine Ödipus-Ausgabe und beginnt verschämt zu lesen. Daraufhin leert sich die Bühne, wird zum reinweißen Antikenraum, und Mitschwester Ursina Lardi verwandelt sich in einen Ödipus mit entblößter rechter Brust. Jule Böwe kommt finster herbeimarschiert und klebt sich als mahnender Kreon eine Oblate ans Kinn. Iris Becher, zart und fragil, fungiert als Jokasta, gleichzeitig aber auch (wenn schon, denn schon) als Mutter Maria, da Castellucci die Nonnen und Spielerinnen in Tableaus arrangiert, die Renaissance-Gemälden und Heiligenbildern nachempfunden sind: steif, konzentriert, radikal weltentleert.
Die hermetischen Welten des christlichen Klosters und der griechischen Antike fallen hier zusammen, die Darstellerinnen deklamieren auf hohem Niveau – allein das Endergebnis wirkt erwartungsgemäß elitär und verstiegen. Besonders unangenehm wird es, wenn der Regisseur selbst in einer gigantischen Videoprojektion einen Selbstversuch unternimmt, bei dem er sich unnötigerweise zum Schmerzensmann stilisiert. In Analogie zur Blendung des Ödipus lässt er sich Pfefferspray in die Augen sprühen, leidet schwer und wird medizinisch versorgt. Damit empfiehlt er sich jedoch weniger als Dramen-Ausdeuter denn als Kandidat für einschlägige Mutproben-Shows. Circus Halligalli lässt schön grüßen.
Am Ende dann, nach doch recht quälenden zwei Stunden Sister Act, in denen der hochtrabende Ästhetizismus immer reiner Selbstzweck gewesen ist, bleiben noch drei skulpturale Hautsäcke auf der Bühne zurück. Eklig sehen sie aus, wie sie sich so aufblasen und wieder in sich zusammensacken. Aber dafür gurgeln und pupsen diese fleischlichen Überbleibsel der menschlichen Existenz ganz gemütlich, und auch im Publikum wird nun endgültig über das bierernste Spektakel geschmunzelt und gekichert. Weil das ganze Kunstgewerbe dann doch nicht viel mehr gewesen ist als eine staunenswert formvollendete Flatulenz.