"Mea culpa" ist das neue Mantra
Fehler eingestehen, um dann reuevoll zu versprechen, man wolle "das verlorengegangene Vertrauen der Menschen" wieder zurückgewinnen – so lautet das neue politische Mantra. Aber eine Demokratie braucht nicht nur Vertrauen, sondern auch Kontrolle, findet Uwe Bork.
Hören Sie es auch? Diese rhythmischen Schläge, nicht besonders laut, aber dafür anhaltend? Bumm, bumm, bumm? Früher waren sie nie so deutlich zu hören, aber neuerdings wird in Politik, Wirtschaft und Kirche das virtuelle Grundrauschen verbaler Nichtigkeiten durch einen anhaltenden Takt tiefer Töne interpunktiert. Auf den Entscheidungsfluren unserer Gesellschaft schlägt man sich momentan nämlich geradezu habituell an die Brust. "Mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa", das ist das neue Mantra, ergänzt durch den dazugehörigen Gebetsmühlensatz, man müsse und wolle "das verlorengegangene Vertrauen der Menschen" wieder zurückgewinnen. Und zwar unbedingt und möglichst auch noch subito. "Schön und gut", sagen wir uns da als Wähler, Verbraucher oder Gläubige, "schön und gut, das ist ein achtbarer Vorsatz, möge in Zukunft also alles besser werden!"
Amnestie durch Amnesie
Sind wir einigermaßen fromm und womöglich noch katholisch, erinnern wir uns wahrscheinlich auch an die reinigende Kraft der Beichte und das gute Gefühl, nach Bekenntnis und Vergebung unserer kleinen oder großen Sünden quasi neu geboren aus dem Dunkel des Beichtstuhls wieder ans Tageslicht treten zu können. Wenn wir jetzt auch noch bibelfest sind, denken wir vielleicht außerdem an eine Versicherung Jesu, die selbst chronischen Übeltätern Mut zur Neuorientierung machen könnte. Sagte er doch nach dem Evangelisten Lukas:
"Im Himmel wird mehr Freude herrschen über einen einzigen Sünder, der umkehrt, als über neunundneunzig Gerechte, die keine Umkehr nötig haben."
Bummbumm. Bummbumm. Bummbumm. Immer noch diese rhythmischen Schläge, aber jetzt einen Tick schneller und in einem anderen Takt. Ein freudig erregter Puls klingt so. Ihn könnte tatsächlich antreiben, was in den christlichen Kirchen seit immerhin rund zweitausend Jahren mit Erfolg versprochen wird: Amnestie durch Amnesie.
Bekennen, bereuen, begraben
Seit über Erfolg oder Misserfolg von Parteien und Produkten mehr und mehr vor allem medial vermittelt entschieden wird, hat die religiöse Verheißung der Vergebung offensichtlich ihre weltliche Variante gefunden. Ein höchst einprägsamer Dreischritt für den gelungenen Tanz mit der Öffentlichkeit gehört mittlerweile auf allen Ebenen politischer oder ökonomischer Hierarchien zum Grundwissen der sozialen Bewegungslehre: Bekennen. Bereuen. Begraben.
Die Halbwertzeiten von Schlagzeilen werden mittlerweile schließlich schon in Stunden gerechnet, und für Hintergründe ist ohnehin keine Zeit, seit sich selbst komplexe Weltpolitik für Millionen von Wählern auf ein paar Twitter-Zeichen reduzieren lässt.
Doch halt. Die Kirche mag drei Kreuze schlagen, ein "Ego te absolvo" murmeln und uns versichern, dass die menschlichen Sünden vor Gott nun vergeben und – vor allem – vergessen seien, in einer demokratischen Gesellschaft kann und darf das so schnell nicht gehen. Auch wenn es Mühe macht und Anstrengung erfordert: Demokratie lebt nicht nur vom Vertrauen, ohne das gerade ein repräsentatives Staatswesen nicht funktionsfähig wäre, Demokratie lebt ebenso auch von ständiger Wachsamkeit und der Kontrolle, ob ihre Regeln auch eingehalten werden.
Prüfen, ob verbindliche Werte eingehalten werden
Als mündige Bürger dürfen wir uns nicht darauf verlassen, dass Sünder in unserer Gesellschaft wirklich dauerhaft umkehren. Mit Ausdauer und Geduld müssen wir vielmehr immer wieder überprüfen, ob die Werte, die für uns verbindlich sind, auch wirklich eingehalten werden: in der Politik, in der Wirtschaft und – ja, es mag viele schmerzen, dass das nötig ist – auch in den Gotteshäusern der verschiedenen Religionen. Bummbumm. Bummbumm. Bummbumm. Auch eine Gesellschaft hat einen Herzschlag. Halten wir ihn auf Normalmaß. Das ist das Beste für ihr Überleben.