Öffentlichkeitswirksamer Bußgang

Vor 900 Jahren starb Henrich IV., der Anfang 1077 in Canossa vor Papst Gregor VII. in die Knie ging. Ein öffentlichkeitswirksamer Bußgang und genialer Schachzug, um den Verlust des Seelenheils ebenso abzuwenden wie den der politischen Macht. Weinfurter zeigt die zeit und christentumsgeschichtlichen Hintergründe der geschickten Inszenierung auf, erzählt den Fortgang des Konflikts und deutet die Ereignisse in und nach Canossa im Sinne Max Webers als Beginn einer "Entzauberung der Welt".
Vor 900 Jahren, am 7. August 1106, stirbt Heinrich IV. in Lüttich, von der Kirche verdammt - nicht zum ersten Mal. Bereits 30 Jahre zuvor wurde der König des salischen Reiches aus der Gemeinschaft der Christen ausgeschlossen. Er hatte drei neue Bischöfe ernannt, war den darauf folgenden Forderungen und Drohungen des Papstes nicht gefolgt, sondern hatte diesem gemeinsam mit seinen Bischöfen geantwortet: "Steige herab, steige herab, du ewig Verdammter." Die prompte Antwort aus Rom ist eine Ungeheuerlichkeit, ein Schock und Ärgernis für den Herrscher, der sich wie sein Vater Heinrich III. als "Diener Gottes" als "Stellvertreter Christi" verstand und der Fürsten und Bischöfen als "geheiligte Autorität" galt, das christliche Volk zu lenken.

Heinrich IV. weiß sich gegen den Kirchenbann des Papstes zu wehren und den dauernden Verlust des Königsamtes abzuwenden: Im Winter 1076/1077 unternimmt er eine abenteuerliche Reise - eine Blitzaktion bei frostklirrender Kälte vorbei an den von seinen Gegnern besetzten Alpenpässen - und trifft in Oberitalien auf seinen Gegenspieler. Gregor VII. hatte sich aus Angst in die mächtige Burg Canossa zurückgezogen.

Wider Erwarten verzichtet Heinrich IV. auf Gewalt, setzt vielmehr auf Diplomatie und Bußrituale, die den Papst zur Aufhebung des Banns nötigen. Heinrichs öffentlichkeitswirksamer Bußgang Ende Januar 1077 erweist sich als genialer Schachzug, um den Verlust des Seelenheils ebenso abzuwenden wie den der politischen Macht.

Stefan Weinfurters gut zweihundertseitiges Buch beginnt mit der Schilderung der Vorgänge kurz vor und in Canossa. Dann erweitert der Autor den Blickwinkel und beschreibt in weiteren zehn Kapiteln die historischen Hintergründe des Ereignisses, Wandlungen der Gesellschafts und Herrschaftsordnung im elften Jahrhundert sowie zeit und christentumsgeschichtlichen Zusammenhänge des Konflikts zwischen König und Papst. Mit "Simonie", "Investitur" und "Treueeid" sind nur einige der Konfliktpunkte umrissen, die in den Auseinandersetzungen zwischen weltlicher und geistlicher Macht, zwischen regnum und sacerdotium eine gewichtige Rolle spielen.

"Canossa" ist für Weinfurter mehr als ein Ereignis: eine historische Chiffre, die den Beginn und den Weg einer "Entzauberung der Welt" (M. Weber) pointiert zum Ausdruck bringt. In seinen Augen zeichnen sich bereits im elften Jahrhundert Entwicklungen ab, die letztlich dazu führen, dass die Welt als Welt eigenen Gesetzen folgen und eigene Werte entwickeln kann. Im Hinblick auf das Zerbrechen von Reich und Kirche, das unter Heinrich IV. seinen Ausgang nimmt, sowie auf die damit einhergehende Stärkung sowohl der Bischöfe als auch der Fürsten, mag man gar konstatieren: Heinrich IV. verdanken wir nicht nur Auf und Umbau des Speyrer Doms - im Todesjahr Heinrichs das größte Bauwerk seiner Zeit! -, sondern auch "zwei besonders geschätzte Güter unserer heutigen Bundesrepublik: den säkularen Staat und den Föderalismus." (R.-P. Märtin)

Stefan Weinfurter, Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Heidelberg, gilt dank zahlreicher Publikationen als anerkannter Fachmann für die Salierzeit (1024 - 1125). Im vorliegenden Buch legt er in allgemein verständlicher Sprache eine gut lesbare, mitunter spannende Schilderung sowie eine moderne Deutung der Umstände vor, die das Schlagwort "Canossa" zusammenfasst. Ein Buch nicht nur für Freunde des Mittelalters, denn die historischen Prozesse und daraus resultierenden Errungenschaften wie etwa die Trennung von Kirche und Staat sowie die Entsakralisierung politischer Macht sind - zumindest in Europa - ein hohes Gut.

Rezensiert von Thomas Kroll

Stefan Weinfurter:
Canossa. Die Entzauberung der Welt

C.H. Beck Verlag: München 2006
254 Seiten, 19,90 Euro.