Öko-Tourismus in Kirgisistan

Vom Flugzeug in die Jurte

24:00 Minuten
Traditionelle Jurten in Kirgisistan.
Wenn es warm wird, ziehen viele Familien in Kirgisistan aus der Stadt in die Berge. Dieses traditionelle Leben in Zentralasien wollen auch Touristen kennenlernen. © imago / Hans Lucas
Von Birgit Wetzel |
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Das kleine Kirgisistan hat sich zwischen den großen Nachbarn China und Kasachstan einen Namen unter Öko-Touristen gemacht. Sie leben im Sommer in einer Gästejurte bei den Einheimischen und trinken Stutenmilch. Achtsam soll es bald wieder starten.
Den zentralen Stadtpark von Bischkek habe ich noch in guter Erinnerung. Kinder spielen dort um diese Zeit auf dem Rasen. Pärchen gehen spazieren. Es ist viel los.

In dieser Folge des Weltzeit-Podcasts hören Sie auch, wie Beate Eschment die Änderung der Verfassung Kirgisistans im April einschätzt. Laut der Zentralasienexpertin vom Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien erhält Präsident Sadyr Dschaparow weitaus mehr Macht. Geht das eigentlich als demokratisch geltende Land in Zentralasien den Weg Richtung Autokratie?

© Annette Riedl
Ganz ruhig ist es dagegen gleich um die Ecke bei Scholopon. Sie organisiert Reisen für Touristen aus dem Ausland. Als ich sie über das Internet anrufe und die 38-Jährige merkt, dass ich aus Deutschland komme, wechselt sie aus dem Russischen ins Deutsche. Sie habe das in der Schule gelernt und später ein Jahr bei einer Familie in Deutschland gearbeitet.
Jetzt wartet sie im Büro mit ihrer Kollegin Aigul auf Kundschaft. "Die Touristen kommen nicht so gut. Die Situation ist nicht so gut dieses Jahr", erzählt sie.

Das Land der hohen Gletscher

Ich erreiche sie im Mai. Eigentlich sollte jetzt das Geschäft brummen. Vor allem der Öko-Tourismus wird für Kirgisistan immer wichtiger. Die Gäste hinterlassen wenig physische Spuren im Land, wohnen und reisen nah bei den Menschen und lernen so Alltag, Kultur und Traditionen kennen.
Es sind vor allem zivilisationsmüde Städter und Naturfreunde, die in das kleine, zentralasiatische Land kommen, um Ruhe und Entspannung zu finden, erzählt Scholpon. Sie verweist auf die bis zu 7400 Meter hohen Gipfel, die gleich hinter Bischkek aufsteigen.
"Kirgisistan ist ein bergiges Land, und in Kirgisistan gibt es die majestätischen Tien Shan und Pamir mit ihren Gebirgssystemen und so berühmten Weltgipfeln wie den Pobieda-Gipfel und den Lenin-Gipfel, sie ziehen sich durch das gesamte Gebiet von Kirgisistan", erklärt sie.
"Diese majestätischen Berge haben Kirgisistan in ein Land der Gletscher verwandelt. Von der heißen asiatischen Sonne laufen Gebirgsflüsse und lebhafte Bäche von riesigen Schneefeldern, blumenreichen Alpenwiesen und üppigen fruchtbaren Tälern unberührten bleibt. Das ist unser Kirgisistan und das ist unser Land."
In den Bergen wohnen die meisten der sechs Millionen Kirgisen. Wenige leben in den Städten: Eine Million in der Hauptstadt Bischkek, die einen kleinen, internationalen Flughafen hat, oder in Osch, direkt an der Grenze zu Usbekistan, in Dschalalabad, in Tokmok, in Naryn oder Batken.

Touristen können mit Einheimischen in Jurten leben

Im Frühjahr, wenn es warm wird, ziehen viele Familien aus der Stadt in die Berge. Dort wohnen sie bis zum Ende des Sommers in Jurten. Diese runden Zelte sind schnell auf- und abgebaut. Jeweils dort, wo es den Bewohnern gefällt, wo es frisches Wasser gibt und grüne Weiden für die Pferde. Wasser fließt aus mehr als 3000 Flüssen und von den Gletschern der hohen Berge.
Berge und Flüsse prägen die Landschaft Kirgisistans.
Berge und Flüsse prägen die Landschaft Kirgisistans.© Vlad Uschakov
Große Familien leben in mehreren Jurten. Einige bieten Touristen eine Gästejurte an. So nehmen die Besucher am Leben der Kirgisen teil und werden auch durch die Familie versorgt.
Zum Speiseplan erzählt mir Scholpon: "Ganz typische Gerichte sind Hammelfleisch Barmak, das ist Hammelfleisch mit Reis oder Spaghetti. Dazu gibt es zu jeder Mahlzeit in frisches Brot, das heißt Borsok. In Kirgisistan ist das traditionelle Fladenbrot sehr verbreitet."
Bekannt für die ganze Region Zentralasien ist der Plov, ein Gericht aus gebratenem Reis mit unterschiedlichen Zugaben, je nach Region: Hammelfleisch in Kirgisistan, Rosinen und Nüsse in Samarkand und Usbekistan. Mit Fisch gibt es den Plov am Aral-See, in Usbekistan und Kasachstan. Als Getränk gibt es meistens Tee. Ein besonderes Getränk der Region ist Kumis, das ist Stutenmilch. Ihr werden viele heilende Kräfte zugeschrieben.

Fast zwei Millionen Touristen im Jahr 2019

Zu trinken gibt es die auch auf den mehrtägigen Touren, die Ravil anbietet. Der 58-jährige Mann mit den kurzen grauen Haaren über dem sonnengebräunten Gesicht arbeitet als Touristen- und Naturführer in Kirgisistan.
"Ich heiße Ravil Temirgaliew. Ich bin vor zehn Jahren in dieses Business eingestiegen. Vorher hatte ich schon zehn Jahre im Tourismus gearbeitet. Ich war Führer von Individualtouristen. Dann haben wir die Firma gegründet und jetzt arbeiten wir selbstständig."
Zusammen mit seinem Kollegen Vladislaw, 45 Jahre alt, hat er einen Reiseclub in Bischkek gegründet. Sie arbeiten wie eine Reiseagentur, sowohl für Touristen aus dem Ausland als auch aus dem Inland. Ich erreiche sie auch über das Internet:
"Ich heiße Vladislaw Uschakow. Ich habe 20 Jahre als freier Journalist im In- und Ausland gearbeitet, erst als schreibender Journalist, dann habe ich mich als Fotojournalist qualifiziert. Ich war einer der ersten Umweltfotografen bei uns in Kirgisistan. Ich habe dann für eine Nachrichtenagentur gearbeitet, dann für das Außenministerium. Vor zehn Jahren habe ich Ramil kennengelernt. Seine Arbeit hat mir gut gefallen. Erst haben wir zusammen Reisen organisiert und dann den Reiseclub gegründet."
Kirgisistan ist zu etwa einem Drittel von Gletschern und ewigen Schneefeldern bedeckt. Hohe Berge mit Schnee und darunter grüne Ebenen sind zu sehen.
Kirgisistan ist zu einem Drittel von Gletschern und ewigen Schneefeldern bedeckt.© Vlad Uschakov
Für die Kirgisen sind Touristen ein Gewinn. Der Tourismus bringt Devisen. Tatsächlich haben 2019 rund 1,8 Millionen Touristen aus aller Welt den gebirgigen Binnenstaat besucht. Die meisten kamen aus Russland, aber viele auch aus Deutschland und Japan.
Die Hälfte der Touristen reiste ökotouristisch – so weist es das Nationale Statistische Komitee der Republik Kirgisistan aus. Der Tourismus hat einen Anteil von fünf Prozent am Bruttosozialprodukt des Landes, heißt es. Aber die Zahlen sind unsicher, denn vieles läuft in Kirgisistan informell. Außer dem Tourismus hat Kirgisistan wenig andere Einnahmequellen.
Ravil erklärt, wie es vor Corona lief: "Der normale Tourismus funktionierte bis zur Pandemie so: Die Besucher kamen mit dem Flugzeug, machten zwei bis drei Tage eine Tour, und flogen dann zurück. Jedes Jahr sind wir zum Issyk-Kul-See gefahren, dem zweitgrößten Gebirgssee der Welt. Die Touristen sind immer mit uns gereist und am Ende haben wir sie zurück in die Stadt und zum Abflughafen gebracht. So war das natürlich eine schöne Zeit."

"Wir vermitteln auch ökologisches Wissen"

Wegen der Pandemie kommen jetzt aber wenig Touristen aus dem Ausland. Deswegen mussten viele Agenturen im vergangenen Jahr schließen. Die beiden Bergführer haben jetzt angefangen, sich mit dem Tourismus für Inländer zu beschäftigen.
Sie machen deshalb neue Angebote, erzählt Ravil: "Wir versuchen es jetzt mit dem Agrar-Tourismus. Viele Leute interessieren sich dafür, wie der Reis wächst, wie die Aprikosen. Wir zeigen nicht nur die Besonderheiten und Schönheiten unseres Landes, wir vermitteln auch ökologisches Wissen: zu Tieren, Pflanzen, Klimazonen – zur Vielfalt, die jede Klimazone hat."
Das sei sehr wichtig – wichtiger als der Tourismus für Ausländer, meint sein Kollege Vlad. Denn 80 Prozent der Kirgisen würden ihr eigenes Land kaum kennen.
Auch Nailja entdeckt mit Freude ihr eigenes Land. Schon länger geht die Lehrerin mit einem heimischen Reiseclub auf Tour: "Seit einigen Jahren mag ich diese Reisen sehr, weil ich lerne, dass es so viel Unbekanntes gibt. Es reisen Menschen unterschiedlichen Alters, Rentner, Frauen, Männer, Kinder, junge Mädchen, junge Männer. Sie haben keine spezielle Ausbildung."
Nailja lebt in der Hauptstadt Bischkek, erzählt sie mir über die knisternde Leitung. Je nach Jahreszeit macht sie eine der unterschiedlichen Touren mit. Die dauern mal einen Tag, mal mehrere. Oft gibt es spezielle Themen: zu Pflanzen, Tieren und Landschaften.
"Wir reisen zu Orten und sehr schöner Natur, schönen Bergen, Wäldern, blauer Himmel und weiße Wolken", erzählt sie. "All das ist so wunderbar, dass ich dem Traveller Club sehr dankbar bin, dass er solche Reisen organisiert hat."

Wirtschaftsförderung gefährdet die Naturschätze

Nur genug Wissen bei den Kirgisen könne ihre Naturschätze bewahren. Und es dürfe nicht zu Massentourismus kommen, meinen die beiden Bergführer. Die Regierung müsse hier stark regulieren, Gesetze erlassen und umsetzen zum Schutz der Natur. Aber daran mangele es – die Förderung der Wirtschaft habe Vorrang, so Vladislaw Uschakow, die Natur fände wenig Beachtung bei der Regierung.
"Die Situation ist katastrophal", sagt er. "So können wir keine Touristen anwerben und auch die örtliche Bevölkerung kann sich nicht erholen. Wir brauchen eine Umwelterziehung."
Wenig Rücksicht auf die empfindliche Natur nimmt auch China. Der große Nachbar nutzt die schwache wirtschaftliche Situation von Kirgisistan: Alte, in China aus Umweltschutzgründen ausgemusterte Fabriken wurden in Kirgisistan wieder aufgebaut. Sie würden dringend benötigte Arbeitsplätze schaffen, heißt es vonseiten der Regierung. Mit zweifelhaften Methoden, berichtete mir eine Umweltaktivistin, die ungenannt bleiben möchte, während einer früheren Reise.
"Wenn chinesische Firmen herkommen, bereiten sie alle Dokumente vor", sagt sie. "Dann haben wir große Diskussionen mit unserer Regierung. Sie stellt fest, dass es so viele Punkte gibt, die gegen unsere Umweltschutzbestimmungen verstoßen."
Aber dann lässt China oft neue Fabriken bauen, die ebenfalls gegen geltende Umweltstandards verstoßen würden, meint die Umweltaktivistin. Sie beschwert sich auch über die Intransparenz. Einblicke in die Fabriken würden nicht zugelassen.
"In der Gesetzgebung haben wir hohe Standards, aber die Praxis sieht anders aus. Wir haben in unserem Land viel Korruption. Wenn so etwas geschieht, dann fragen wir unsere Regierung, was geschehen ist. Aber unsere Regierung wechselt sehr schnell. Und keiner hat die Verantwortung."

Massentouristen ohne Gefühl für Verantwortung

Dass die Gesetze zum Schutz der Natur existieren, aber sie schlecht eingehalten werden, beklagt auch Umweltpädagogin Alfia. Sie ist Lehrerin und arbeitet gleichzeitig in Projekten für den Schutz von Natur und Umwelt in Kirgisistan. Dabei entwickelt sie Unterrichtsmaterial – bunte Plakate und Filme, damit Kinder und Erwachsene ihre Umgebung, die Natur und ihre Kultur schätzen lernen. Während unserer Videokonferenz sitzt sie in ihrem Büro vor einem Stapel von Postern und Broschüren.
"Bis zur Pandemie haben bei uns viele Reisebüros Touren verkauft, bei denen die Touristen kommen, in Jurten wohnen, hiesige Speisen essen", erzählt sie. "Aber dann gibt es auch den Massentourismus, zum Beispiel am Issyk-Kul-See, da kommen im Juli und August sehr viele Menschen."
Sie hinterließen viel Müll und hätten kein Gefühl von Verantwortung. Das sei schlecht für die Natur und schlecht für den Tourismus im Land, sagt die Umwelterzieherin.
"Es gibt keine Institutionen, die die Natur schützen. Wir haben bestimmte geschützte Gebiete, aber keine Aufsicht. Zum Beispiel in der Schlucht vom Al-Archa Nationalpark, 35 Kilometer von der Hauptstadt entfernt. Da machen Besucher Lagerfeuer. Keiner kontrolliert sie und es gibt kein Verbot."

Verband für Community-Tourismus hilft lokalen Gastgebern

Um einen anderen Tourismus in Kirgisistan zu fördern, wurde im Jahr 2000 der Verband "Community Based Tourism" gegründet. Er organisiert Reisen durch ganz Kirgisistan mit Aufenthalten bei Familien, die Gästezimmer bereitstellen.
Zur Wahl stehen heute rund 300 Familien, die Gäste empfangen. Ziel ist es, den ländlichen Tourismus zu fördern, ohne in die Umwelt und Lebensweise der Menschen einzugreifen. Was die Gäste bezahlen, bleibt zu 80 Prozent bei den lokalen Gastgebern. Die verbleibenden 20 Prozent gehen an den Verband. Der bezahlt damit unter anderem Beraterinnen wie Anara.
Die Mittsechzigerin habe ich vor der Corona-Pandemie einmal bei ihrer Arbeit begleitet. Zusammen haben wir Cholpon besucht. Eine Bäuerin in dem Dorf Bokonbaev, die Milchprodukte herstellt und verkauft. Auf dem Küchentisch stehen große, schlichte, weiße Töpfe, darüber eine große Alu-Schüssel. Die Bäuerin erzählt von ihrer Weiterbildung.
"Im letzten Jahr im April haben wir eine Schulung bekommen, wie wir Milch, Quark, Sahne und Käse produzieren können. Vorher habe ich in den Bergen gewohnt als Bäuerin. Jetzt – mit meinen neuen Fähigkeiten – wollten sogar einige Läden mit mir zusammenarbeiten. Aber die brauchen viele Dokumente. Ich arbeite deswegen lieber hier mit den Frauen, Familien und Nachbarn. Meine Tochter verkauft auch an die Umgebung."
Stolz präsentiert sie den neuen Kühlschrank, den sie mit dem Erlös aus den Geschäften der letzten Monate kaufen konnte.
Darin stehen, Reihe für Reihe, um die 40 Töpfchen mit Sahne, Quark und Joghurts, fertig zum Verkauf. So kann sie für ihre Familie mit vier Kindern sorgen, zusammen mit einer Tochter, die ihr beim Verkauf hilft. Dank der Weiterbildung, finanziert durch Einnahmen aus dem ländlichen Community-Tourismus.

Hoffnung auf achtsamen Neustart nach der Pandemie

Wenn die Pandemie zu Ende ist, hoffen die beiden Bergführer Vlad und Ravil aus Bischkek wieder auf Touristen. Aber nicht in Massen, wie es sie vorher teilweise gab. Vlad setzt auf Öko-Tourismus, denn der sei ein Gewinn für die Kirgisen, das Land und die Gäste.
"Ich möchte hoffen, dass die Menschen sich nach der Pandemie auf neue Werte besinnen und dass die Menschen achtsamer mit der Natur umgehen", sagt er.
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