Emotionen verhindern rationale Entscheidungen in der Politik
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Warum ist für Politiker die Entscheidung über den richtigen Umgang mit den Flüchtlingen so schwierig? Bei solchen Themen spiele die öffentliche Meinung und die öffentliche Wahrnehmung eine große Rolle, meint der Ökonom Philip Meissner.
Dieter Kassel: Wir sehen täglich bedrückende Bilder aus Moria und hören deprimierende Nachrichten von dort. Das beeindruckt nicht nur die öffentliche Meinung, sondern auch die Politik, die natürlich in diesem wie in vielen anderen Fällen nicht der Gefahr erliegen darf, sich bei Entscheidungen ausschließlich von Emotionen leiten zu lassen.
Aber wie trifft man grundsätzlich eine angemessene, eine idealerweise richtige Entscheidung, und das auch noch unter Zeitdruck? Wir wollen das mit Philip Meissner besprechen. Er leitet den Lehrstuhl für Strategisches Management und Entscheidungsfindung an der Wirtschaftshochschule ESCP Europe in Berlin.
Herr Meissner, zu Ihrem Arbeitsbereich gehört ja vieles, aber auch der Unterricht. Wenn Sie vor Ihren Studenten stehen, vor den neuen jeweils, welche Regeln der Entscheidungsfindung bringen Sie denen als Allererstes bei?
Meissner: Ich glaube, es gibt eine ganze Reihe von verschiedenen Methoden, die man anwenden kann. Ich glaube, wichtig ist zunächst zu verstehen, dass wir, wenn wir entscheiden, von Denkfehlern und – wie Sie ja gesagt hatten – von Emotionen beeinflusst werden. Ich bringe unseren Studenten eigentlich bei, wie sie durch das Anwenden eines guten Prozesses bei der Entscheidungsfindung die negativen Einflüsse der eigenen Psychologie reduzieren können.
Zwei Arten von Denkfehlern
Kassel: Zu Ihren Forschungsschwerpunkten gehört die Analyse von Wahrnehmungsverzerrern und der Einfluss von Wahrnehmungsverzerrern auf unser Handeln. Sind denn Emotionen in diesem Sinne Wahrnehmungsverzerrer?
Meissner: Es gibt eigentlich zwei verschiedene Arten von Denkfehlern. Das eine sind eher kognitive, psychologische Faktoren, das sind eben diese Wahrnehmungsverzerrungen, wie zum Beispiel Selbstüberschätzung. Das ist etwas, was viele Leute betrifft, wenn sie Entscheidungen treffen. Emotionen, würde ich sagen, spielen da noch eine andere Rolle, sind aber mindestens genauso wichtig, wenn nicht noch wichtiger.
Kassel: Aber was heißt wichtig? Wichtig, das bedeutet jetzt, Sie sagen nicht, lass die Emotionen komplett raus, wenn du eine Entscheidung triffst.
Meissner: Ich sage schon, dass man sich des Einflusses von Emotionen bewusst sein sollte, und wenn man eine wichtige Entscheidung trifft, sollte man zum Zeitpunkt, in dem man diese Entscheidung trifft, nicht emotional sein, weil diese Emotionen tatsächlich die Wahrnehmung verändern und dazu führen, dass man nicht rational entscheiden kann. Deswegen plädiere ich dafür, das mit verschiedenen Methoden in den Griff zu bekommen.
Kassel: Gibt es eigentlich Entscheidungen – sowohl politisch, wirtschaftlich als auch rein privat –, wo Sie wirklich ganz klar sagen können, die fallen uns besonders schwer, und andere, die ganz unabhängig von der Persönlichkeit meistens doch eher leichter fallen?
Meissner: Ich glaube, die Entscheidungen, die uns schwerfallen, sind eigentlich immer die, wo wir große Konsequenzen sehen, das macht eigentlich die Schwere der Entscheidung aus. Besonders dann, wenn es negative Konsequenzen sein können, dann sind wir oft ängstlich und treffen deshalb keine Entscheidung oder schieben Entscheidungen sehr, sehr lange vor uns her.
Schwierig: Urteile über Entscheidungen
Kassel: Aber ich habe persönlich manchmal das Gefühl bei mir selbst, aber auch bei anderen, dass eigentlich selbst eine absolut falsche Entscheidung im Zweifelsfall sehr viel besser sein kann, als eine Entscheidung einfach wochenlang gar nicht zu treffen.
Meissner: Das stimmt. Die Frage ist ja auch so ein bisschen, was eine falsche Entscheidung ist, denn oft denken wir, dass Entscheidungen nicht wieder umkehrbar sind im Nachhinein. Das ist in nur ganz wenigen Fällen tatsächlich so. In der Regel können wir Entscheidungen einfach neu treffen, wenn wir nicht mehr zufrieden mit der Entscheidung sind, wie wir sie getroffen haben, und dann einfach umsteuern.
Kassel: Das bedeutet aber ja mehrere Dinge, es bedeutet vor allen Dingen eins, wir müssen, nachdem wir eine falsche Entscheidung getroffen haben, auch zugeben, dass sie falsch war – vor uns und vor anderen.
Meissner: Das stimmt.
Kassel: Ist aber oft nicht so einfach. Oft sagt man doch, Sie kennen doch diese Gespräche, jemand sagt, du, das war jetzt aber nicht so klug – ja, sieht so aus, aber es ging auch nicht anders und es war auch nicht ganz falsch. Das ist doch schon ziemlich schwierig, nach einer Entscheidung erst mal selber zu analysieren, sie war falsch, und es dann auch zuzugeben.
Meissner: Ich glaube, da muss man auch zwei Dinge auseinanderhalten. Ich plädiere dafür, dass wir die Entscheidung eigentlich zum Zeitpunkt der Entscheidung selber beurteilen und nicht im Nachhinein, denn im Nachhinein, wenn zum Beispiel nach einem Jahr zurückblickt auf die Entscheidung, dann ist da schon ganz viel passiert, was wir zum Zeitpunkt der Entscheidung selbst nicht vorhersehen konnten. Deswegen bestrafen wir uns eigentlich, wenn wir dann sagen, das war eine Fehlentscheidung, für etwas, was wir zum Zeitpunkt der Entscheidung gar nicht wissen konnten. Insofern, dieses im Nachhinein zu beurteilen, ist tatsächlich immer schwierig, aber vielleicht auch gar nicht unbedingt fair sich selbst gegenüber.
Unter doppeltem moralischen Druck
Kassel: Außerdem kann man ja eigentlich in der Regel auch nicht sagen im Nachhinein, was für Konsequenzen es gehabt hätte, wenn man sich anders entschieden hätte.
Meissner: Genau, und deswegen denke ich, wenn man zum Zeitpunkt der Entscheidung urteilt, ob man gut gehandelt hat, dann ist das eigentlich der richtige Zeitpunkt. Dafür muss man sich aus meiner Sicht primär den Prozess anschauen. Wenn man einen guten Prozess mit guten Methoden angewendet hat, dann kann man sich eigentlich auch sicher sein, dass man eine gute Entscheidung trifft, und dann auch mit Selbstbewusstsein, mit einem gesunden Selbstbewusstsein ohne Selbstüberschätzung dann eine Entscheidung treffen.
Kassel: Wir haben jetzt ein bisschen das Thema Emotionen verlassen, ich glaube, wir müssen gerade in der aktuellen Lage noch mal dazu zurückkehren. Wir können über Moria reden, wir können genauso gut über eine Entscheidung reden, die vielleicht dafür sorgt, dass viele Menschen ihren Arbeitsplatz verlieren oder Ähnliches … Das ist ja oft eine Entscheidung, wo man als Entscheider unter doppeltem moralischen Druck steht – beeinflusst von den eigenen Emotionen und denen der öffentlichen Meinung. Wie kann, wenn man das überhaupt sollte, man sich davon wirklich lösen?
Meissner: Das stimmt. Gerade bei politischen Entscheidungen spielt die öffentliche Meinung und die öffentliche Wahrnehmung eines Sachverhalts natürlich eine große Rolle, und das ist oft sehr schwierig. Ich habe zum Beispiel gestern auch zum Thema Moria in den Nachrichten gesehen, dass es dann auch sehr stark in so eine Art Schwarz und Weiß verdichtet wird.
Da war die Frage, geht es um christliche Werte oder eine gemeinsame europäische Linie. Wenn eine Frage dann schon so präsentiert wird, dann gibt es eigentlich keine gute Antwort mehr darauf, weil niemand würde sagen, christliche Werte spielen keine Rolle oder eine gemeinsame europäische Linie spielt keine Rolle. Insofern ist die Antwort oft im Graubereich. Wenn man versucht, immer an diese Extreme zu gehen, dann ist das sehr gefährlich. Das macht natürlich aber eine öffentliche Debatte in unseren Zeiten im Moment leider oft aus.
Kassel: Aber wie kann man das verhindern, dass man, wenn man eine Entscheidung erklärt, was weiß ich, fünf Minuten redet und ein entsprechend langes Papier vorlegt, und alle sehen nur das Wort Ja oder das Wort Nein oder das Wort 1000 Menschen, die nicht mehr beschäftigt sein werden, und sehen nicht, was dahintersteht, und bei weiteren 9000 sichern wir die Arbeitsplätze. Wie kann man denn eine Entscheidung dann auch so kommunizieren, dass sie nicht nur auf dieses Ja und Nein verkürzt wird?
Meissner: Ich glaube, man kann es natürlich, wie Sie es auch gemacht haben eben gerade, kommunizieren, dass man eben die positiven Aspekte und dieses Gesamtbild auch mit abbildet. Und dann kommt es auch ein bisschen darauf an, wie die Medien das aufnehmen und wie die Medien das kommunizieren. Das ist ja dann am Ende das, was die öffentliche Wahrnehmung bestimmt. Da hat man dann vielleicht nur einen gewissen Einfluss drauf, aber man kann zumindest probieren, ein ausgewogenes Bild der Lage auch zu kommunizieren.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.