Das Gespräch ist Teil unserer Reihe: Wirtschaft nach der Coronakrise.
"Wir müssen weiter wachsen, ob wir wollen oder nicht"
10:02 Minuten
Was, wenn jeder nur das kaufen würde, was er braucht? Was vernünftig klingt, hätte dramatische Folgen, sagt der Ökonom Mathias Binswanger. Er erklärt das Dilemma des Wachstums - und warum sich auch nach Corona daran wohl nicht viel ändern dürfte.
Dieter Kassel: In diesem Jahr wird die Wirtschaft schrumpfen, weltweit und auch in Deutschland, aber Experten gehen davon aus, dass es in Deutschland schon im kommenden Jahr wieder ein Wachstum geben könnte, im Jahr 2022 dann sogar relativ sicher. Allerdings sind staatliche Hilfsprogramme in Milliardenhöhe die Voraussetzung dafür, dass dann alles wieder so wird, wie es war. Sollte es das überhaupt sein?
Im Rahmen unserer Reihe "Das Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kennen?", die Überschrift der Reihe endet mit einem Fragezeichen, im Rahmen dieser Reihe reden wir jetzt mit Mathias Binswanger, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Olten und Privatdozent an der Universität Gallen und auch Autor von Büchern zu diesem Thema.
Nach der Krise muss die Wirtschaft erst mal wieder wachsen. Würden Sie diesen Satz so unterschreiben?
Mathias Binswanger: Den würde ich so absolut unterschreiben, und zwar ist es so, dass wir ja in einem Wirtschaftssystem leben, das eigentlich auf permanentes Wachstum ausgerichtet ist, und wir sehen gerade jetzt in dieser Krise, dass diese Wirtschaft dann nicht mehr richtig funktioniert, wenn dieses Wachstum ausbleibt. Und wir wären schon in einer erheblichen Krise, wenn jetzt der Staat nicht eingesprungen wäre mit Hilfskrediten, mit Kurzarbeit, dann wären wir bereits in einer Art Abwärtsspirale, die es eben zu vermeiden gilt, damit diese Wirtschaft nicht in eine größere Krise gerät.
Nach der Finanzkrise ging es auch weiter
Kassel: Also tatsächlich alles wie zuvor? Erst mal wieder so weit, dass wir erst mal nächstes Jahr oder spätestens übernächstes ungefähr das aufgeholt haben, was jetzt gerade verloren gegangen ist, und dann wieder immer so weiter mit dem Wachstum?
Binswanger: Das werden wir dann sehen. Aber das sagt man natürlich bei jeder Krise, jetzt muss alles ganz anders werden – das hat man schon 2008, 2009 gesagt, das war dann nachher auch nicht der Fall. Wir leben mehr oder weniger in derselben Wirtschaft. Und der Unterschied ist ein bisschen der, dass man bei 2008, bei der Finanzkrise, sagen kann, das war eine Krise, die wurde verursacht eigentlich durch die Wirtschaft selbst, durch Übertreibungen im Bankensystem.
Die jetzige Krise, die ist aber eigentlich keine Krise des Kapitalismus, sondern das ist eine Krise, die wurde durch einen Schock von außen verursacht, das heißt, eigentlich ähnlich wie ein Krieg, die Wirtschaft wird lahmgelegt durch etwas. Und da versucht man natürlich, die nachher wieder hochzufahren.
Leicht gedämpfte Globalisierungseuphorie
Kassel: Aber nun sagen manche, und auch gar nicht so wenige, dass diese Corona-Pandemie und die damit verbundene Krise, dass das schon auch etwas mit der Globalisierung zu tun habe, und zwar im doppelten Sinne.
Also Globalisierung bedeutet erst mal, dass das Virus selber so schnell überhaupt aus China zu uns kommen konnte, und der andere Sinn ist, dass ohne eine globalisierte Wirtschaft Wirtschaftsprobleme am anderen Ende der Welt uns ja nicht betreffen würden. Also erleben wir gerade einen Punkt, wo man sich überlegen muss: Wie geht es weiter mit der Globalisierung, der wirtschaftlichen?
Binswanger: Ich denke, dass in dieser Hinsicht wahrscheinlich doch ein gewisses Umdenken stattfinden wird. Die Globalisierungseuphorie ist etwas gebremst jetzt, und zwar auch deshalb, weil wir merken, dass wir bei vielen Produkten stark vom Ausland abhängig sind, und dass, wenn es dann Probleme gibt, dass plötzlich die Lebensmittelversorgung knapp werden kann, aber auch die Versorgung mit medizinischen Grundstoffen, und ich glaube, dass das doch zu einer Art Wiederentdeckung auch des Lokalen führt.
Man merkt, dass es gut ist, wenn man gewisse Dinge weiterhin produziert, Lebensmittel zum Beispiel, und nicht unbedingt da eben alles dort produziert, wo es am billigsten ist, dann würden wir in Ländern wie in der Schweiz und in Deutschland praktisch gar keine Lebensmittel mehr produzieren, sondern dass es eben gewisse Risiken gibt, bei denen es besser ist, wenn man von diesem Prinzip abweicht und wir sagen, wir machen gewisse Dinge auch lokal, auch wenn sie da nicht am billigsten sind.
Lebensmittel lokal produzieren, Jeans nicht
Kassel: Aber was heißt denn gewisse Dinge? Ich meine, Lebensmittel, sicherlich, medizinische Güter vielleicht auch, aber sollen wir dann wieder unsere Jeans, unsere T-Shirts, unsere Autos und unsere Computer in der Schweiz oder in Deutschland bauen?
Binswanger: Ja, das glaube ich nicht, dass dort jetzt die Globalisierung irgendwie in eine Krise gerät, bei Jeans und anderen Gütern, die sind natürlich mittlerweile dermaßen globalisiert, dass die auch nur günstig sind, weil sie eben gerade in globale Wertschöpfungsketten eingebunden sind.
Aber es gibt eben gewisse Produkte, da sind vor allem Lebensmittel wichtig, die sind so zentral, dass man zu Recht diesen Entscheid dann fällen kann, dass wir da eine lokale Produktion aufrecht erhalten. Wenn wir das bei allen Produkten machen würden, dann würden wir natürlich die ganze globalisierte Wirtschaft infrage stellen.
Kassel: Kommen wir noch mal zurück auf das Thema Wachstum. Viele Experten sagen ja, ideal wäre jetzt diese berühmte V-Kurve. Also wenn man sich mal die Wirtschaftsentwicklung vorstellt auf einem Bild: Es geht, das ist im Moment nicht zu ändern, ziemlich schnell ziemlich weit nach unten, und idealerweise geht es dann ziemlich schnell wieder ziemlich weit nach oben.
Und wenn wir uns wirklich ein V vorstellen, sind wir dann irgendwann genau da, wo wir, sagen wir mal, vor einem halben Jahr waren. Aber dann wirklich immer weiter potenziertes Wachstum als wesentliches Ziel?
Binswanger: Ja, das ist eben ein gewisses Dilemma, und das ist ja das, was ich eigentlich in meinem Buch aufzeige, "Der Wachstumszwang", dass wir in der Wirtschaft, in der wir leben, dass da einerseits die Wirtschaft nur funktioniert, wenn ein gewisses Wachstum stattfindet, weil es gibt nur die Alternative, entweder zu wachsen oder zu schrumpfen, weil wenn das Wachstum aufhört, dann machen einige Unternehmen weniger Gewinn, dann scheiden die aus, dann nimmt die Arbeitslosigkeit zu, die fallen als Nachfrage aus für Vorleistungen, für Investitionsgüter.
Dadurch bekommen andere Unternehmen Probleme, der Konsum geht zurück, dadurch geraten weitere Unternehmen in Probleme, und so geraten wir langsam in eine Abwärtsspirale. Und um diese Abwärtsspirale zu vermeiden, müssen wir eben ein gewisses Wachstum aufrecht erhalten in diesem Wirtschaftssystem, das wir seit der industriellen Revolution vor etwa 200 Jahren jetzt haben.
Wirtschaftswachstum mit Kollateralschäden
Auf der anderen Seite stellen wir aber fest, dass dieses Wirtschaftswachstum nicht mehr dazu führt, dass in hochentwickelten Ländern die Menschen irgendwie noch glücklicher, zufriedener werden mit mehr, mit materiellem Wohlstand, und wir sehen auch, dass dieses Wirtschaftswachstum mit erheblichen Kollateralschäden verbunden ist, in der Umwelt insbesondere das CO2-Problem, und das sorgt eben für ein gewisses Dilemma, wo sich jetzt gewisse Gruppen sagen: Ja, jetzt könnten wir doch eigentlich aufhören mit diesem Wirtschaftswachstum und das wäre doch eine Chance, diese Krise, da wegzukommen.
Aber wir merken, das ist nicht so einfach in dieser Wirtschaft, in der wir leben, weil dann sofort die Arbeitslosigkeit zunimmt, Unternehmen in Konkurs gehen. Und deshalb müssen wir dann eben weiter wachsen, ob wir wollen oder nicht.
Nie gesättigter Konsum
Kassel: Aber gerade jetzt erleben wir ja Folgendes, das passt sehr gut, zu dem, was wir gesagt haben, vor allen Dingen zu dem Stichwort, es ist nicht so einfach, einige Leute sagen jetzt, habe ich im Internet wiederholt gelesen: Ach guck mal einer an, jetzt plötzlich, gezwungenermaßen, kaufen die Leute nur noch das, was sie wirklich brauchen, und schon bricht die Wirtschaft zusammen – da kann doch was nicht stimmen. Stark vereinfacht, aber ein bisschen auch wahr, oder?
Binswanger: Das ist absolut wahr. Ich meine, wenn wir jetzt nur das kaufen würden, was wir tatsächlich brauchen, da würde ein großer Teil des Konsums wegfallen, und ganz viele Anstrengungen in der Wirtschaft, die gehen ja dahin, dass man tatsächlich dafür sorgt, dass Jahr für Jahr eben der Konsum auch weiter wächst, indem man zum Beispiel versucht, Gütern einen Statuscharakter zu verleihen, sodass ich eben ein besseres, luxuriöseres, leistungsstärkeres Auto haben möchte als andere, weil wenn ich darauf schaue, dann ist der Konsum nie gesättigt.
Wenn es hingegen nur um das Bedürfnis nach Mobilität ginge, dann wären wir wahrscheinlich in Ländern wie in Deutschland und der Schweiz bereits in einem gesättigten Markt, dann würde man nur noch ein Auto kaufen, wenn man eben das alte ersetzen muss. Und das versucht man natürlich auf vielen Märkten, eben diesen Konsum auch permanent wieder anzutreiben, weil wenn das nicht mehr der Fall wäre, dann geraten wir wieder in wirtschaftliche Probleme. Also dieses Wachstum muss aufrecht erhalten werden.
Noch keine Lösung für eine andere Wirtschaft
Kassel: Glauben Sie denn ernsthaft, dass die Corona-Krise und die wirtschaftlichen Erfahrungen damit wenigstens ein bisschen die Chance liefern, dass sich da sowohl auf Anbieter- als auch auf Verbraucherseite was ändern könnte?
Binswanger: Ich glaube, dass man sich vor allem verstärkt dieser Situation bewusst wird oder dieses Dilemmas. Ich denke aber, dass wir, so lange wir in einer Wirtschaft leben, die hauptsächlich dominiert wird von Aktiengesellschaften, die an der Börse notiert sind, so lange wird sich das sicher nicht ändern, weil diese Unternehmen unter Druck stehen.
Wenn sie eben abweichen von diesem Wachstumsziel, dann werden sie schnell zu Übernahmekandidaten, dann werden die eben aufgekauft, dann wird das Management ausgetauscht, bis man wieder dem Wachstumsgedanken nachlebt in einem solchen Unternehmen. Das heißt, die Situation jetzt wird zwar dazu führen, dass wir das etwas überdenken, diese Situation, aber wir haben natürlich noch keine wirkliche Lösung, wie eine andere Wirtschaft dann funktionieren könnte.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.