Das grüne Glück im Amazonas
Mein Vogel, meine Hängematte, mein Dorf - Französisch-Guayana grenzt im Norden Südamerikas an Brasilien. Mitten im tropischen Regenwald ist das Dorf Saül immer noch ein Geheimtipp, aber manchmal leben hier mehr Touristen als Einwohner - ohne Probleme?
Baumkronen, so weit das Auge reicht. Hier und dort trägt ein Urwaldriese leuchtend violette Blüten, sonst ist alles grün. Vor wenigen Minuten hat die Propellermaschine in Cayenne abgehoben. Die Hauptstadt des französischen Überseedepartements Guayana liegt am Atlantik. Schon kurz hinter dem Küstenstreifen wächst dichter Wald. Der kleine Shuttle fliegt zweimal täglich ins Landesinnere. Nach einer Dreiviertelstunde zeichnet sich eine rotbraune Schneise ab. Dort liegt Saül. Der Pilot landet auf der Erdpiste, verabschiedet ein paar Passagiere.
Saül ist mit keinem Straßennetz verbunden, hier fließt auch kein Fluss. Der Flieger mit seinen 20 Plätzen ist die Lebensader zur Außenwelt. Kaum hat er abgehoben, geben wieder Grillen, Schrecken und Frösche den Ton an. Ein Minibus bringt die Reisenden ins Dorf.
Wo Gendarmen noch Volleyball spielen
Neue, alte und verfallene Holzhäuser stehen kreuz und quer auf kurz geschorenen grünen Wiesen. Dazwischen wachsen üppig blühende Tropenpflanzen und Palmen. Vor einer Holzkirche spielen Gendarmen Volleyball, Kinder kommen aus der Grundschule.
"Manche, die hier mit dem Flugzeug landen, vergleichen Saül mit einer Insel in einem Meer aus Pflanzen", sagt Stéphane Plaine. Der kräftige Mann mit blonden Haaren, kurzem Vollbart und hellen blauen Augen steht vor einem Haus mit der Aufschrift "Parc amazonien de Guyane", Amazonas-Nationalpark. Er zeigt um sich.
"Vom Dorf aus gelangt man sofort in den Urwald. Das liegt am Relief: Saül liegt auf einer Ebene, die Flugzeugpiste auf einer zweiten Ebene, aber rundherum erheben sich Hügel, sie sind 400 bis 700 Meter hoch."
Frankreich hat ein gutes Drittel von Guayana zum Nationalpark erklärt, die Umgebung von Saül gehört dazu. Mit einer Fläche von 34.000 Quadratkilometern ist es das größte Schutzgebiet auf dem Territorium der Europäischen Union. Der Park hat eine Niederlassung in Saül, dort arbeitet Stéphane Plaine. Vor drei Jahrzehnten hat es den 52-jährigen Bretonen in das kleine Dorf verschlagen. Von dort aus organisiert er Urwald-Expeditionen. Der nächste Ort ist 170 Kilometer entfernt und – abgesehen vom Flugzeug - nur zu Fuß und im Kanu erreichbar. Das dauert mindestens acht Tage, sagt Stéphane. Saül war nicht immer so isoliert.
"In den 1930er-Jahren lebten in dieser Region etwa 3.000 Menschen. Der Goldrausch hat sie angezogen. Damit ist es vorbei. Seit den 60er-Jahren ist die Gegend - abgesehen von Saül - völlig verlassen."
Goldsucher als Pfadfinder
Das Goldfieber und die Abgeschiedenheit haben die Voraussetzungen geschaffen, dass Saül heute ein Geheimtipp unter Wissenschaftlern und Naturliebhabern ist: Durch die Goldsucher ist ein Netz an Wegen entstanden, die jetzt als Wanderwege unterhalten werden. Die geografische Lage verhindert, dass sich das Dorf ausdehnt. Die Bevölkerung in Saül hat sich bei etwa einhundert Menschen eingependelt. Sie roden nur wenig Wald, um Felder anzulegen oder Holz zu gewinnen. In Dörfern, die mit Autos erreichbar sind, sehe es anders aus, sagt Stéphane.
"Ich bin durch den Amazonas in Peru und Ecuador gereist. Überall musste ich von den Dörfern aus noch stundenlang mit dem Auto fahren, um intakten Urwald zu finden. Deshalb ist Saül so attraktiv. Unser Dorf sollte von Studenten im Fach Tourismus untersucht werden. Wir haben oft mehr Touristen als Einwohner hier, ohne dass dadurch auch nur das geringste Problem auftaucht."
Mangobäume, Surinamkirschen und Mammiäpfel
Zwei junge Männer wollen ihre Wanderung anmelden, damit man sie notfalls suchen kann. Die Gemeinde unterhält fünf Rundwege, auf denen auch Ortsfremde gefahrlos durch den Urwald spazieren können. Gleich neben dem Wanderweg zu einem Aussichtsturm liegt das Lokal "Chez Lulu". Es ist Kneipe, Restaurant und Pension. Auf einer Wiese mit Mangobäumen, Surinamkirschen und karibischen Mammiäpfeln hat Lucien Timane vier Holzhütten errichtet, die er vermietet.
Der 57-jährige Schwarze stammt aus einer der ältesten Familien in Saül: Vor hundert Jahren hat sich sein Großvater im Goldgräberdorf angesiedelt. Sein Vater amtierte als Bürgermeister, Lucien selbst hat fast sein ganzes Lebens in Saül verbracht. Zu Beginn der 80er-Jahre, sagt er, gab es noch keine einzige Unterkunft für Fremde im Dorf.
"Damals kamen vor allem Botaniker nach Saül, Amerikaner und Deutsche. Sie konnten allenfalls bei Einheimischen übernachten. Ich habe die ersten Hütten gebaut. Solange ich der Einzige war, lief es noch besser als heute. Jetzt teilen wir uns die Birne – ist ja normal."
Hängematte statt Bett
Die Einkäufe für sein Restaurant erledigt Lucien regelmäßig per Flugzeug in Cayenne. Inzwischen haben weitere Pensionen und sogar ein einfaches Hotel geöffnet. Von etwa einhundert Übernachtungsplätzen in Saül sind allerdings die meisten schlicht Haken für Hängematten. Fast 4.000 Touristen pro Jahr besuchen das Dorf. Luciens Frau Séverine arbeitet als Krankenschwester in der Gesundheitsstation von Saül. Einmal pro Monat fliegt ein Arzt ein und hält dort Sprechstunde. Ansonsten ist Séverine allein für das Wohl der Bewohner verantwortlich. Zum Glück sind die meisten gesund.
"Ich arbeite seit vier Jahren hier im Dorf, in dieser Zeit musste ich zwei Schlaganfälle bewältigen. Wenn so etwas passiert, setze ich mich sofort mit dem Notarzt in Cayenne in Verbindung. Nur leider funktioniert die Satelliten-Verbindung nicht immer, davon hängen Telefon und Internet ab. Ich betreue die Kranken, bis der Hubschrauber kommt."
Vier Frauen haben letztes Jahr Babys bekommen
Die Krankenschwester ist zufrieden: Ihr Arzneischrank ist gut ausgestattet. Sie kann den Patienten auch Verschreibungen besorgen und Facharzttermine in Cayenne organisieren. Um Risiken zu vermeiden, schickt Séverine Schwangere stets einen Monat vor dem Geburtstermin in die Hauptstadt. Vier Frauen aus Saül haben im vergangenen Jahr Babys geboren.
Mireille Nugent möchte die jüngsten Dorfbewohner am liebsten schon kommendes Jahr in der Vorschule aufnehmen. Die Direktorin und Lehrerin von Saül unterrichtet derzeit 15 Kinder, sie sind drei bis zwölf Jahre alt. Die Kleinen malen oder fädeln Perlen auf, die Großen lernen.
"Ich habe eine einzige Klasse, in der Vorschulkinder, Grundschüler und neuerdings auch Schüler der Mittelstufe, 6. und 7. Klasse, versammelt sind. Saül ist so klein, dass es hier keine Sekundarstufe gibt. Die älteren Kinder müssen also ins Internat oder aber sie lernen im Fernstudium. Ich habe ihren Familien angeboten, sie in der Schule zu betreuen, damit sie in Saül bleiben können. Das ist mir sehr wichtig."
Kein Migrationsproblem - Multikulti am Amazonas
Die Klasse ist ethnisch gemischt – genau wie die Bevölkerung von Guayana: Kreolen sitzen neben weißen Kindern, deren Eltern aus dem französischen Kernland stammen, und neben Hmong, so heißen die Nachkommen eines Volks aus Laos. Mireille Nugent erzählt begeistert, welche Möglichkeiten sie hier hat.
"Unsere Schule ist zweisprachig: Französisch und Kreolisch. Außerdem mache ich die Kinder mit der Kultur der Hmong vertraut. Deren Eltern haben uns Lieder in Lautschrift notiert, damit wir sie lernen und singen können. Wir leben hier im Innersten von Guayana, sind aber für alle Kulturen offen."
Sa Va hat alle fünf Kinder eingeschult – die Geschwister bilden also ein Drittel der gesamten Schule. Die Familie lebt im Viertel der Hmong, zwei Kilometer außerhalb von Saül.
"Meine Eltern sind nach dem Vietnam-Krieg aus Laos gekommen."
Während des Indochinakriegs hatte Frankreich Hmong-Soldaten rekrutiert, später setzen die USA Hmong als Dschungelkämpfer gegen die kommunistische Aufstandsbewegung in Vietnam ein. Nach dem Krieg galten die Hmong in ihrer Heimat als Verräter, viele flohen. 1977 siedelte Frankreich einige hundert Familien in Guayana an. Sa Vas Eltern gehörten dazu.
Pro und contra Straße
Es ist Freitag Nachmittag, die Bürgermeisterin fliegt ein. Marie-Hélène Charles wurde vor 44 Jahren in Saül geboren. Die Eltern zogen mit ihren zehn Kindern nach Cayenne, als das Mädchen zwei Jahre alt war. Den Kontakt zum Dorf hat sie trotzdem bewahrt. Marie-Hélène Charles steht dort sogar auf der Wählerliste. Deshalb konnte sie Bürgermeisterin werden, obwohl sie in Cayenne lebt und arbeitet. Für die Frau aus der Stadt steht fest: Saül muss ans Straßennetz angebunden werden.
"Das Leben in Saül ist sehr teuer. Wenn wir eine Schule bauen oder ein Gebäude restaurieren wollen, müssen wir alle Materialien per Flugzeug einfliegen lassen. Die Bewohner wünschen, dass sich Saül entwickelt. Im französischen Kernland haben alle Dörfer Straßen, warum wir nicht?"
Fenster ohne Scheiben, Türen ohne Schloss
Schon 1952 hatte das staatliche Amt für Bergbau und Rohstoffe eine Piste durch den Urwald bis Saül geschlagen, 150 Kilometer weit, um die vielen Goldvorkommen im Urwald zu untersuchen. Auf diese Weise gelangten damals auch die Maschinen zum Bau der Fluglandebahn nach Saül. Marie-Hélène Charles verlangt, dass die ehemalige Piste wieder freigeräumt und dann auch befestigt wird. Eine Straße zur Küste? Gastwirt Lucien Timane und seine Frau Séverine sind strikt dagegen. Sie zeigen auf ihr Haus: Die Fenster haben keine Scheiben und die Türen kein Schloss. Bei den Nachbarn sieht es ähnlich aus.
"Eine Straße würde uns nur Probleme bringen. Selbst wenn ich verreist bin, kann ich alles liegen lassen: Telefone, Computer... In Cayenne wären die Sachen sofort weg. Ich zahle lieber etwas mehr, dafür habe ich eine Lebensqualität, die es nirgends wo sonst gibt. Aber einige Nachbarn sehen das anders. Manche haben sogar illegale Goldsucher unterstützt, die ganz in der Nähe gearbeitet haben. Eine Straße würde Saül genauso zerstören wie die Goldsuche."
Die Umgebung von Saül ist mit Gold gespickt, aber im Nationalpark ist der Abbau verboten. Goldsucher aus den Nachbarstaaten Brasilien und Surinam schert das nicht. Vor zehn Jahren sind sie sogar im Dorf ein und ausgegangen. Die so genannten "Garimpeiros" arbeiten mit hochgiftigem Quecksilber, sie verseuchen Boden und Flüsse, außerdem verwüsten sie den Wald. Trotzdem tauschten Leute aus Saül damals Lebensmittel gegen Goldkörner ein und kauften ihnen erlegte Wildtiere ab, empört sich auch Stéphane Plaine.
Den Goldsuchern das Handwerk legen
Als Angestellter des Nationalparks agiert Plaine auch als Umweltpolizist. Die Jagd nach Goldsuchern gehört dazu. An diesem Morgen rüsten er und zwei Kollegen sich mit Pistolen, Munition und Handschellen aus. Einen Tagesmarsch von Saül entfernt wurde wieder einmal eine illegale Mine entdeckt. Zwei Gendarmen sind mit von der Partie.
"In einer Zone, wo es vor vier Jahren ganz viele Baustellen gab, wird Gold geschürft. Wir haben vom Flugzeug aus gesehen, dass dort zwei oder drei Minen in Betrieb sind. Dem wollen wir ein Ende machen. "
Die kleine Einsatztruppe will die Goldsucher schnappen und in Cayenne vors Gericht bringen – obwohl alle wissen, dass die Justiz die Männer nur verwarnen und nach Brasilien zurück schicken wird. Stéphane und seine Kollegen wollen aber auch Pumpen, Motoren und das gesamte Material der Arbeiter zerstören. Die regelmäßige Zusammenarbeit zwischen Parkwächtern, Gendarmen, Zollpolizisten und Armee ist erfolgreich.
"Rund um Saül haben wir große Anstrengungen im Kampf gegen die Goldgräber unternommen. Hier gibt es inzwischen viel weniger illegale Baustellen als in den übrigen Zonen des Nationalparks."
Jaguare, Brüllaffen, Tapire und Papageien
Bevor er zur Patrouille aufbricht, deutet Stéphane auf Bilder an der Wand seines Büros: Da sind Jaguare, Brüllaffen, Tapire, Kaimane, Boas, Papageien und blaue Schillerfalter abgebildet. Die Artenvielfalt rund ums Dorf ist groß.
"Im Wald von Saül leben alle charakteristischen Tiere des Amazonasgebiets. Um sie zu sehen, braucht man allerdings Erfahrung und sehr viel Geduld. Nur die Affen leben in Herden nahe beim Dorf, fast alle anderen Tiere sind Einzelgänger. Das ist hier anders als in Afrika."
Garantiert sei hingegen, dass Besucher in Saül durch einen der schönsten und vielfältigsten Wälder des Amazonas wandern könnten.
"Auf einem Hektar Wald in Guayana wachsen mehr Baumarten als in ganz Europa. Die jüngsten Erhebungen verzeichnen 1.500 verschiedene Baumarten."
Für den Parkwächter steht fest: Saül hat nur dann eine Zukunft, wenn es auf Öko-Tourismus setzt. Und eine Insel bleibt im Pflanzenmeer.