Ratlos vor dem Ticketautomaten
07:06 Minuten
Zu teuer und zu kompliziert: Dass es mit dem Umstieg auf öffentliche Verkehrsmittel nicht recht klappen will, liegt auch an undurchsichtigen Tarifstrukturen. Vor allem in Baden-Württemberg ist der ÖPNV für viele eine harte Nuss. Das soll jetzt anders werden.
"In Baden-Württemberg gibt es viele schönen Gegenden und es gibt viele öffentliche Verkehrsmittel in 22 Verkehrsverbünden. Um einmal durch alle Verbünde zu reisen, brauchte man bisher ziemlich viele Fahrscheine." So heißt es in einem Werbespot. Und wegen dieses Systems kamen ziemlich viele Autofahrerinnen und Autofahrer erst gar nicht auf die Idee umzusteigen:
"Das ganze Ticketsystem ist total kompliziert."
"Die Automaten, das ist ein einziges Gewurschtel."
So klappt die Mobilitätswende nie. Das war auch Baden-Württembergs grünem Verkehrsminister Winfried Hermann klar:
"Wenn Sie mit Menschen reden, gibt es ein allgemeines Urteil über den öffentlichen Verkehr. Das lautet, der ist erstens schlecht und zweitens sind die Preise nicht transparent und ich verstehe sowieso den Automaten nicht. Gängiger Spruch eines Autofahrers, der schon seit Jahrzehnten nicht mit der Bahn gefahren ist."
Am übersichtlichsten sind Berlin und Hessen
Nicht nur im Südwesten! Die oft beschworene Verkehrswende findet einfach nicht statt. Entsprechende Zahlen aus einer Studie veröffentlichte im vergangenen Jahr das Bundesverkehrsministerium. Auch der ADAC fragte nach und zwar "Nichtnutzer des Öffentlichen Personennahverkehrs".
62 Prozent gaben dabei an, die Ticketpreise seien zu hoch. 37 Prozent würden umsteigen, wenn Tickets günstiger wären. Eine weitere große Hürde sind die komplizierten Tarife, so das Ergebnis des ADAC.
Bundesweit gibt es über 40 Verkehrsverbünde. Die übersichtlichsten Systeme finden sich in Berlin oder Hessen. Unerreicht kompliziert ist Baden-Württemberg. Dort gibt es 22 Verkehrs- und Tarifverbünde. Ein für viele unübersichtliches und dadurch unüberwindbares Netz aus Zonen, Waben und Kreisen:
"Bei uns geht es ja teilweise so weit, dass ein einzelner Landkreis einen Tarifverbund hat", sagt Gerhard Schnaitmann, der über 20 Jahre in Baden-Württemberg die Fahrpläne gemacht hat. Nur: Wie kommt es zu diesem verworrenen System?
"Das hat seine Ursache in der starken Stellung der Omnibusunternehmer, der mittelständischen Omnibusunternehmer in Baden-Württemberg."
Volkshochschulkurse erklären das Ticketsystem
Will ich von meinem Wohnort nahe Tübingen beispielsweise nach Pforzheim, musste ich mir bislang drei Tickets besorgen. Eins für den Verkehrsverbund Neckar-Alb-Donau, kurz naldo, von Herrenberg geht es über Stuttgart nach Vaihingen Enz. Hier endet der Verkehrs- und Tarifverbund Stuttgart, VVS, und es beginnt der VPE Pforzheim-Enzkreis.
Wo die jeweiligen Verbünde enden, wissen dabei in der Regel nur Eingeweihte. Gelegenheitsfahrer oder Umsteigewillige stehen vor einer fast unlösbaren Aufgabe.
"Ich wusste schon, dass das endet. Ich wusste nicht genau, wo es endet. Was hätte ich machen können?"
"Sie müssen in Vaihingen eigentlich aussteigen, sich dort eine neue Fahrkarte kaufen", erklärt mir Dieter Zaudtke von Pro Bahn. Er steigt jetzt in Mühlacker in den Zug nach Pforzheim ein. Ein Vollprofi. Mit einem Team gibt er VHS-Kurse und Schulungen direkt an Ticketautomaten. Sein Credo: Wer das Ticketsystem versteht, steigt leichter vom Auto um. Auf der Fahrt nach Pforzheim erzählt der über 80-Jährige, was die erste Frage bei Automatenschulungen oder in Kursen ist:
"Wer von Ihnen hat einen PC? Wer von Ihnen hat ein Smartphone? Wer ist in der Lage, mit den DB-Apps zu arbeiten?"
In jedem Kurs werden es mehr, die sich ein E-Ticket per App besorgen können, sagt Herr Zaudtke. Der Automat bleibt allerdings die größte Hürde. Nicht mehr lange!
"Ein Ziel. Ein Ticket. Landesweit"
Baden-Württemberg hat zwar die meisten Tarifverbünde. Doch seit dem Fahrplanwechsel Ende 2018 auch ein Baden-Württemberg-Ticket.
"Der neue BW-Tarif: Ein Ziel, ein Ticket. Landesweit. Das heißt, für Fahrten durch mehr als einen Verbund in Baden-Württemberg und für alle seine öffentlichen Verkehrsmittel genügt ein einziges Ticket." So ein Werbespot.
"Und zwar sind da zwei Elemente, die bahnbrechend sind: Das eine Element ist die vollständige Anerkennung der Bahncard. Und nicht nur die Anschlussmobilität am Zielort, sondern auch die Anschlussmobilität am Startort. Da muss ich mir natürlich meine Karte aufs Handy laden oder im Vorverkauf kaufen oder online ausdrucken, zuhause am Computer. Dass ich es schon habe", sagt Bahn-Experte Schnaitmann.
Wer beispielsweise von Stuttgart nach Tübingen mit der Bahn fährt, braucht für die Weiterfahrt mit den Stadtbussen kein Ticket mehr. Das BW-Ticket ist rund ein Viertel, in einigen Fällen sogar um die Hälfte günstiger als die vorherigen Tickets. Wer eine Bahncard hat, fährt noch preiswerter.
Was bringt das neue BW-Ticket?
Aber: Bringt das neue Ticketsystem mehr Menschen dazu, das Auto stehen zu lassen? Zahlen gibt es noch nicht, aber einen Trend, so Thomas Balser, Geschäftsführer der Baden-Württemberg-Tarif GmbH:
"Was wir schon sehen, ist, dass die Einnahmen im Vergleich zu vorher - wobei wir den Vergleich zu vorher nur eingeschränkt machen können, weil es ja vorher ein anderes Produkt war. Wenn man es vergleicht man den Eisenbahnfahrkarten vorher, da sind wir durchaus erfreut."
Mittlerweile gibt es auch an fast allen Bahnhöfen in Baden-Württemberg BW-Ticket-Automaten. Doch wer zurzeit probeweise umsteigen möchte, wird herb enttäuscht: Fast in ganz Baden-Württemberg fallen regelmäßig Zugverbindungen im Nahverkehr aus. Mal sind Lokführer krank, mal sind die Züge defekt. Dagegen hilft dann auch kein Landesticket.