"Österreich ist frei!"
Österreich war nach 1945 wie Deutschland in Besatzungszonen aufgeteilt, die österreichische Hauptstadt Wien – wie Berlin – in Sektoren. Doch anders als Deutschland gelang es den Österreichern, eine jahrzehntelange Teilung des Landes in einen östlichen und einen westlichen Teilstaat zu vermeiden. Vor 50 Jahren, am 15. Mai 1955, konnte der österreichische Außenminister Leopold Figl stolz verkünden: "Österreich ist frei!" Die Besatzungsmächte hatten den Vertrag unterzeichnet, der die Besatzungsherrschaft beendete.
Mit "Tu felix austria nube" - Du, glückliches Österreich, heirate! - ist jetzt kein Staat mehr zu machen. Diese Zeiten sind vorbei, jedenfalls in republikanisch verfassten Staaten.
"Bella gerant alii, tu felix austria nube!..."
"Kriege lass andere führen!,
Du, glückliches Österreich, heirate!
Den andern gibt Mars, dir Venus
Die Mehrung des Reiches."
Jetzt galt es, sich auf andere Fähigkeiten zu besinnen, nicht mehr "die Mehrung des Reiches" war zu erstreben, sondern die Mehrung der Freiheit.
Nein, nicht die sprichwörtliche Trinkfestigkeit des "homo austriacus" - hier: ihrer Staatsmänner - ist gemeint, von der es heißt, sie hätte bei den Verhandlungen über den Staatsvertrag eine nicht unbedeutende Rolle gespielt. Dass Figl, der österreichische Außenminister, die Russen unter den Tisch gesoffen habe, ist eine schöne Legende.
Wahr daran ist nur, dass kaum jemand Figl unter den Tisch trinken konnte.
Es war einfach ein gutes Gespann, das Österreich aufgeboten hat: der wortkarge Raab, bedachtsam und zäh, der leutselige Figl, der einfach gut konnte mit den Russen, der gewiefte Pragmatiker Kreisky und der erfahrene Staatsmann Schärf. "Schwarz" und "Rot" – vereint! Es stand schließlich was auf dem Spiel.
Sicher, die Gegenseite war auch nicht von Pappe: Der Hardliner Molotow, auf russischer Seite, und die beschlagenen Rechts-Profis der Westmächte. Aber sie hatten ja auch was in petto, die Österreicher, im Gepäck. Die Neutralität, das wussten sie, war - den Russen jedenfalls - schon was wert.
Hätte vielleicht alles nichts geholfen, wäre nicht etwas dazugekommen, was die Wiener "a Masel" nennen, einen glücklichen Zufall. Der Zeitpunkt war einfach günstig. "Gewählt", kann man nicht sagen, "günstig gewählt", nein, das Masel war, dass die entscheidende Phase der Verhandlungen in eine Zeit fiel, in der Tauwetter angesagt war, politisches. Oder wars andersrum?
Kann man mit einem Ereignis dieser historischen Dimension so salopp umgehen?
Befreit wird Wien bereits am 13. April 1945 - in Berlin ist noch Krieg. Aber bis Österreichs Außenminister Leopold Figl dem jubelnden Volk "Österreich ist frei!" zurufen kann, werden noch zehn Jahre ins Land gehen.
"Kaum befreit und wieder auferstanden, war Österreich in den Strudel des wachsenden Ost-West-Konfliktes geraten", so der Historiker Gerald Stourzh in seiner "Geschichte des Staatsvertrages", auf dessen profunde Darstellung wir uns hier stützen.
Wenn Österreich in seinem "Gedankenjahr 2005" - es heißt wirklich so - vor allem dem Abschluss des Staatsvertrages gedenkt, vor 50 Jahren, so aber auch seiner Befreiung, vor 60 Jahren.
Zum Jahrestag der Befreiung, dem 13. April 1945, Ulrich Weinzierl in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung":
"...Plakate verkünden: "Frauen und Kindern wird empfohlen, die Stadt zu verlassen."... Im Gefängnistrakt des Landesgerichts warten mittlerweile die unfreiwilligen Insassen auf Tod oder Befreiung... An den Gitterfenstern hängen die ausgetrockneten Gesichter von Männern, die noch in die Geschichte Österreichs eingehen sollten. Bundeskanzler Figl mit seinen roten Bartstoppeln. Oder der spätere Unterrichtsminister Hurdes..."
"Bundeskanzler" wird Leopold Figl von Dezember 1945 bis April 1953 sein. Anschließend: Außenminister.
Vom Westen her arbeiten sich die Angehörigen der 3. Ukrainischen Front unaufhaltsam durch die Donaumetropole. Die Schriftstellerin Dorothea Zeeman hat ihre Erlebnisse aufgezeichnet:
"‘Sie kommen!’ Wir liefen in die Wohnungen, um die weißen
Fahnen zu hissen! Leintücher, Servietten und Windeln flatterten aus den Fensterlöchern... Da kamen sie. Sie kamen. Ein Zug, gemessen schreitend. Vorne rote Fahnen... Dahinter Soldaten, schöne Soldaten wie im Film, das Gewehr schussbereit nach rechts und nach links im Anschlag. Langsam, ernsthaft."
"... Wien ist gefallen oder, wie die politische Losung lautet: vom deutsch-faschistischen Joch befreit...Auf ausdrücklichen Wunsch des sowjetischen Stadtkommandanten wird an diesem denk würdigen Datum das erste Konzert in Wien veranstaltet: Clemens Krauss dirigiert die Wiener Philharmoniker im Großen Konzerthaussaal. Auf dem Programm stehen Schuberts "Unvollendete",... und - eine kleine Verbeugung vor den Besatzern und Befreiern - die Fünfte Symphonie von Tschaikowsky. Gegen Ende fällt die Beleuchtung aus, das Orchester spielt im Dunkeln auswendig weiter."
Schon zwei Wochen später, zwei Wochen nach Wiens Befreiung, konstituiert sich in Wien eine "Provisorische Regierung". Angeführt von Karl Renner.
Dr. Karl Renner, seit 1907 im Reichstag. Führer des rechten Flügels der österreichischen Sozialdemokratie. Gründer der Ersten Republik. Bis 1938 erklärter Befürworter von Österreichs "Anschluss" an das Deutsche Reich.1945 Staatskanzler, ab Dezember Bundespräsident.
Handelt Renner auf eigene Faust? Er ist 75 und auf dem politischen Altenteil. Stalin soll ihn aufgestöbert haben, haben lassen, natürlich. Marschall Tolbuchin, der Kommandant der 3. Ukrainischen Front, hatte die Order, ihm sagen zu lassen, "dass das Oberkommando der sowjetischen Truppen ihn zwecks Wiederaufbaus der demokratischen Ordnung unterstützen werde."
Renner, kein Zauderer, geht sofort ans Werk. Er bildet ein Kabinett, in dem die SPÖ, die ÖVP und die KPÖ gleich stark vertreten sind. Und bereits am Tag der Regierungsbildung verkündet er, gestützt auf die "Moskauer Erklärung", die Wiederherstellung der Republik.
Die Initiative geht von England aus. Frühjahr 1943. Das Foreign Office macht sich Gedanken über die Zeit nach dem Krieg. Auch ein Memorandum mit dem Titel "Die Zukunft Österreichs" wird erstellt. Unter den möglichen "Lösungen" befinden sich neben der "Wiederherstellung Österreichs als freier und unabhängiger Staat" auch Denkmodelle, die eine "Einbeziehung Österreichs in eine "süddeutsche" oder "eine mittel- oder osteuropäische Konföderation" mit Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn vorsehen.
Im Juni 1943 wird dieses Memorandum im englischen "Kriegskabinett" behandelt. Dem Abschnitt über die "Zukunft Österreichs" wird eine Passage angefügt, dernach "die Haltung des österreichischen Volkes während des Krieges in Rechnung zu stellen ist", für die "die Österreicher eine Verantwortung tragen, der sie nicht entrinnen können". - Die "Verantwortungsklausel".
Nicht ganz vom Tisch ist weiterhin der Gedanke - als Gegengewicht zu dem zu erwartenden Machtzuwachs Russlands in Europa - Österreich in eine mittel- oder osteuropäische Konföderation einzubinden. Aber dagegen ist Molotow. Er sieht die Gefahr einer möglichen Stärkung des westlichen Sicherheitsgürtels.
Bei der am 19. Oktober 1943 in Moskau beginnenden ersten Konferenz der Außenminister Englands, der USA und der Sowjetunion - Anthony Eden, Cordell Hall und Wjatscheslaw Molotow - kommt es zu einigen "Verschärfungen" bei der "Verantwortungsklausel".
Die "Verantwortlichkeit, der es nicht entrinnen könne", wird jetzt nicht mehr "den Österreichern" zugeschrieben, sondern "Österreich". Womit sie von der moralischen Ebene auf eine juristisch-völkerrechtliche transferiert wird. Weiter wird nun auch genauer gesagt, wofür Österreich eine Verantwortlichkeit trage, nämlich "für die Teilnahme am Krieg auf der Seite Hitler-Deutschlands".
Die "Moskauer Erklärung über Österreich" lautet schließlich:
"Die Regierungen des Vereinigten Königreichs, der Sowjetunion und der Vereinigten Staaten von Amerika sind darin einer Meinung, dass Österreich, das erste freie Land, das der typischen Angriffspolitik Hitlers zum Opfer fallen sollte, von deutscher Herrschaft befreit werden soll. Sie betrachten die Besetzung Österreichs durch Deutschland am 13. März 1938 als null und nichtig...Österreich wird aber auch daran erinnert, dass es für die Teilnahme am Krieg an der Seite Hitler-Deutschlands eine Verantwortung trägt, der es nicht entrinnen kann."
Im November 1943 schließt sich Frankreich dieser Erklärung an.
In Renners "Proklamation über die Selbständigkeit Österreichs" vom 27. April 1945 ist die "Moskauer Erklärung" dann, einschließlich der "Verantwortungsklausel", ein wesentlicher Bestandteil.
Bis zum 14. Mai 1955, dem Tag vor der Unterzeichnung des Staatsvertrages, steht diese "Verantwortlichkeitsklausel" in der "Präambel" aller Staatsvertrags-Entwürfe. In der schließlichen Endfassung des Vertrages aber ist sie nicht mehr enthalten. Warum nicht?
Figl hatte auf der Botschafterkonferenz vor diesem 14. Mai 1955 den Antrag auf Streichung gestellt. Sie sei in politisch-ideologischer wie rechtlicher Hinsicht für Österreich untragbar:
"Wenn Österreich nunmehr als grundsätzlich neutraler Staat mit der besonderen politischen und moralischen Aufgabe und Verantwortung eines solchen Staates in Erscheinung treten und in dieser Rolle gewissermaßen seine künftige Staatsidee finden und realisieren soll", dann wäre es doch geradezu "zweckwidrig und widersinnig, diesem neuen österreichischen Neutralitäts- und Friedensfaktor bei seiner Geburt ein Schuldmal aufzubrennen und so seine innere und äußere Entwicklung mit einer moralischen Hypothek zu belasten."
Bei der anschließenden, am 14. Mai stattfindenden Sitzung der Außenminister stimmt Molotow, der den Vorsitz führt, ebenso wie Dulles, Macmillan und Pinay, Figls Antrag zu. Sie beschließen die Streichung der "Verantwortungsklausel".
Hatte sie Figl mit seiner Argumentation wirklich überzeugen können? Wusste Figl den günstigen Moment, einen Tag vor der Unterzeichnung des Staatsvertrags, für sich zu nutzen? Es könnte andere Gründe gegeben haben. Gründe strategischer Art. Vor kurzem erst war die BRD der NATO beigetreten - und: der "Warschauer Vertrag" geschlossen worden.
Kritische österreichische Historiker werden in der Zukunft diese Streichung immer wieder anprangern: Sie trage zu einem "Gründungsmythos" bei, der auf einer fragwürdigen "Opferthese" basiere.
Als Österreich dann ein "Staatsgründungsdenkmal" errichtet, 1966, mit dem Text der "Verantwortungsklausel" in Stein gemeißelt, liegt die Annahme nahe, man habe sich jetzt höheren Ortes besonnen, wolle sich zu seiner Vergangenheit bekennen. Aber - wo steht das Denkmal? Im Schweizer Garten, außerhalb des Gürtels, einer Hauptverkehrsstraße Wiens. "Wo es niemand sieht", sagt der Wiener Politikwissenschaftler Peter Diem. Absicht?
In den 80er Jahren, als die Waldheim-Affäre eine internationale Diskussion über Österreichs Opferrolle und Pflichterfüllungsmythos auslöst, muss es seine "Gründungserzählung" - wie der Historiker Ernst Hanisch es ausdrückt - "reformulieren".
Am 8. Juli 1991 erklärt Bundeskanzler Franz Vranitzky, ein Sozialdemokrat, vor dem österreichischen Nationalrat:
"... Wir dürfen auch nicht vergessen, dass es nicht wenige Österreicher gab, die im Namen dieses Regimes großes Leid über andere gebracht haben, die Teil hatten an den Verfolgungen und Verbrechen dieses Reiches... Viele Österreicher waren an den Unterdrückungsmaßnahmen und Verfolgungen des Dritten Reiches beteiligt, zum Teil an prominenter Stelle."
Zurück ins Jahr 1945: "Die Provisorische Regierung arbeitet", titelt die unter Patenschaft der Alliierten gegründete Tageszeitung "Neues Österreich" am 15. Mai.
Sie hebt die Gesetze aus der Nazizeit auf, führt die Meldepflicht für ehemalige Nazis ein, vornehmlich jener "Illegalen" vor 1938, die den "Anschluss" vorbereiten halfen. 36 Todesurteile werden im Entnazifizierungs-Verfahren verhängt werden und 5.300 Gefängnisstrafen.
Aber die Westmächte - sie rücken erst Anfang Mai in das westliche Österreich ein - sind misstrauisch. Renner gilt ihnen als "Marionette des Russen-Regimes". Überlegungen, eine Gegenregierung zu bilden, werden angestellt. Erst im Juli konstituiert sich ein gemeinsamer "Alliierter Kontrollrat". Abgrenzung der Besatzungszonen, Aufteilung Wiens in 4 Sektoren. Gemeinsame Verwaltung des ersten Bezirks. - "Die Vier im Jeep"! - Im Oktober: endlich die Anerkennung - Ein Mann der Russen war Renner zu keinem Zeitpunkt.
Im November 1945 darf Österreich wählen. Das Ergebnis schockiert die Sowjets. Molotow hat für die KPÖ mit 30 Prozent der Stimmen gerechnet. Sie bekommt nur 5,4. Die ÖVP 49,8 und die SPÖ 44,6. Leopold Figl wird Bundeskanzler. Er lässt die Kommunisten mitregieren, bildet eine "Konzentrationsregierung" aus ÖVP, SPÖ und KPÖ.
Leopold Figl, Agraringenieur. Kommt aus bäuerlichen Verhältnissen. Katholisch geprägt. Konservativ. Als Gegner der Annexion Österreichs, von 1938 bis 45, mit einer kurzen Unterbrechung, im KZ. 1945 bis -53 Bundeskanzler, 1953 Außenminister.
Gut geht es dem Land nicht in diesen Tagen. Die Besatzungskosten belasten das Staatsbudget. Die Bevölkerung hungert. Der Schwarzhandel blüht - wer einen Rucksack trägt, wird kontrolliert. Wer sich "antisowjetischer Aktivitäten" verdächtig macht, und dessen bedarf es keines Beweises, wird verschleppt. Nach dem für die Russen enttäuschenden Wahlausgang ist Eiszeit angebrochen.
Eiszeit! Kein gutes Klima für Staatsvertragsverhandlungen.
Was ist denn das überhaupt, ein Staatsvertrag?
"Der zwischen mindestens zwei Staaten geschlossene völkerrechtliche Vertrag... "
Und ein Friedensvertrag?
"Im Völkerrecht bildet den Gegensatz zum Frieden der Krieg, der durch Abschluss eines Friedensvertrages formell beendet wird."
Hat, völkerrechtlich, Österreich demnach keinen Krieg geführt?
Da sich in der völkerrechtlichen Bewertung die "Okkupationstheorie" gegenüber der "Annexionstheorie" als Staatsauffassung durchgesetzt hat, ist das die logische Schlussfolgerung. Denn nach der "Okkupationstheorie" ist Österreich "nur" besetzt worden, während es nach der "Annexionstheorie" staatsrechtlich im Deutschen Reich aufgegangen wäre. Die "Okkupationstheorie" geht also von der Kontinuität eines Rechtsverhältnisses aus: das Österreich des 27. April 1945 ist dasselbe wie das Österreich des 13. März 1938.
Österreich hat demnach also keinen Krieg geführt. "Trägt" aber für seine Beteiligung am Krieg auf Seiten Hitler-Deutschlands "Verantwortung". - siehe "Verantwortungsklausel"! Und kann daher seine volle Souveränität mit einem Staatsvertrag erlangen.
"Tu felix Austria"?
Die erste Sitzung der "Sonderbeauftragen für die Vorbereitung eines Vertrages mit Österreich" findet im Januar 1947 in London statt. Österreich ist nicht offizieller Teilnehmer, wird aber zu Anhörungen - "Hearings" - eingeladen.
Das letzte Staatsvertrags-Treffen wird im Mai 1955 erfolgen, auf Außenminister-Ebene, in Wien, am 14. Mai, dem Tag vor der Vertragsunterzeichnung.
Am 15. Mai berichtet die Wiener "Arbeiterzeitung":
"8 Uhr, Wien, Prinz-Eugen-Straße:... Im Schloss sind die letzten Vorbereitungen im Gang. Die Teppiche rutschen auf dem glatten Parkett, ein Fotoreporter stürzt. Um Gotteswillen, wenn das dem Außenminister passiert!..."
10 Uhr, Schloss Belvedere: "...Die Spannung steigt. Außenminister Dr. Figl und Staatssekretär Dr. Kreisky kommen an."
11 Uhr: "... Die russische Delegation braust im Achtzigkilometertempo die Prinz-Eugen-Straße herauf - vier haargleiche, glitzernde ‘Zis’- Limousinen... Molotow steigt freundlich lächelnd aus der ersten Limousine und wird in das Foyer geleitet."
Molotow: "... Der Vertrag, den wir heute unterzeichnen, stellt die Souveränität und die Unabhängigkeit eines demokratischen Österreichs her. Er schlägt eine neue Seite in der Geschichte des österreichischen Volkes und in den Beziehungen zwischen den Staaten Europas auf: Österreich erklärt, eine dauernde Neutralität einhalten zu wollen, und neben der Schweiz wird jetzt inmitten Europas auch ein neutrales Österreich bestehen..."
"Bella gerant alii, tu felix austria nube!..."
"Kriege lass andere führen!,
Du, glückliches Österreich, heirate!
Den andern gibt Mars, dir Venus
Die Mehrung des Reiches."
Jetzt galt es, sich auf andere Fähigkeiten zu besinnen, nicht mehr "die Mehrung des Reiches" war zu erstreben, sondern die Mehrung der Freiheit.
Nein, nicht die sprichwörtliche Trinkfestigkeit des "homo austriacus" - hier: ihrer Staatsmänner - ist gemeint, von der es heißt, sie hätte bei den Verhandlungen über den Staatsvertrag eine nicht unbedeutende Rolle gespielt. Dass Figl, der österreichische Außenminister, die Russen unter den Tisch gesoffen habe, ist eine schöne Legende.
Wahr daran ist nur, dass kaum jemand Figl unter den Tisch trinken konnte.
Es war einfach ein gutes Gespann, das Österreich aufgeboten hat: der wortkarge Raab, bedachtsam und zäh, der leutselige Figl, der einfach gut konnte mit den Russen, der gewiefte Pragmatiker Kreisky und der erfahrene Staatsmann Schärf. "Schwarz" und "Rot" – vereint! Es stand schließlich was auf dem Spiel.
Sicher, die Gegenseite war auch nicht von Pappe: Der Hardliner Molotow, auf russischer Seite, und die beschlagenen Rechts-Profis der Westmächte. Aber sie hatten ja auch was in petto, die Österreicher, im Gepäck. Die Neutralität, das wussten sie, war - den Russen jedenfalls - schon was wert.
Hätte vielleicht alles nichts geholfen, wäre nicht etwas dazugekommen, was die Wiener "a Masel" nennen, einen glücklichen Zufall. Der Zeitpunkt war einfach günstig. "Gewählt", kann man nicht sagen, "günstig gewählt", nein, das Masel war, dass die entscheidende Phase der Verhandlungen in eine Zeit fiel, in der Tauwetter angesagt war, politisches. Oder wars andersrum?
Kann man mit einem Ereignis dieser historischen Dimension so salopp umgehen?
Befreit wird Wien bereits am 13. April 1945 - in Berlin ist noch Krieg. Aber bis Österreichs Außenminister Leopold Figl dem jubelnden Volk "Österreich ist frei!" zurufen kann, werden noch zehn Jahre ins Land gehen.
"Kaum befreit und wieder auferstanden, war Österreich in den Strudel des wachsenden Ost-West-Konfliktes geraten", so der Historiker Gerald Stourzh in seiner "Geschichte des Staatsvertrages", auf dessen profunde Darstellung wir uns hier stützen.
Wenn Österreich in seinem "Gedankenjahr 2005" - es heißt wirklich so - vor allem dem Abschluss des Staatsvertrages gedenkt, vor 50 Jahren, so aber auch seiner Befreiung, vor 60 Jahren.
Zum Jahrestag der Befreiung, dem 13. April 1945, Ulrich Weinzierl in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung":
"...Plakate verkünden: "Frauen und Kindern wird empfohlen, die Stadt zu verlassen."... Im Gefängnistrakt des Landesgerichts warten mittlerweile die unfreiwilligen Insassen auf Tod oder Befreiung... An den Gitterfenstern hängen die ausgetrockneten Gesichter von Männern, die noch in die Geschichte Österreichs eingehen sollten. Bundeskanzler Figl mit seinen roten Bartstoppeln. Oder der spätere Unterrichtsminister Hurdes..."
"Bundeskanzler" wird Leopold Figl von Dezember 1945 bis April 1953 sein. Anschließend: Außenminister.
Vom Westen her arbeiten sich die Angehörigen der 3. Ukrainischen Front unaufhaltsam durch die Donaumetropole. Die Schriftstellerin Dorothea Zeeman hat ihre Erlebnisse aufgezeichnet:
"‘Sie kommen!’ Wir liefen in die Wohnungen, um die weißen
Fahnen zu hissen! Leintücher, Servietten und Windeln flatterten aus den Fensterlöchern... Da kamen sie. Sie kamen. Ein Zug, gemessen schreitend. Vorne rote Fahnen... Dahinter Soldaten, schöne Soldaten wie im Film, das Gewehr schussbereit nach rechts und nach links im Anschlag. Langsam, ernsthaft."
"... Wien ist gefallen oder, wie die politische Losung lautet: vom deutsch-faschistischen Joch befreit...Auf ausdrücklichen Wunsch des sowjetischen Stadtkommandanten wird an diesem denk würdigen Datum das erste Konzert in Wien veranstaltet: Clemens Krauss dirigiert die Wiener Philharmoniker im Großen Konzerthaussaal. Auf dem Programm stehen Schuberts "Unvollendete",... und - eine kleine Verbeugung vor den Besatzern und Befreiern - die Fünfte Symphonie von Tschaikowsky. Gegen Ende fällt die Beleuchtung aus, das Orchester spielt im Dunkeln auswendig weiter."
Schon zwei Wochen später, zwei Wochen nach Wiens Befreiung, konstituiert sich in Wien eine "Provisorische Regierung". Angeführt von Karl Renner.
Dr. Karl Renner, seit 1907 im Reichstag. Führer des rechten Flügels der österreichischen Sozialdemokratie. Gründer der Ersten Republik. Bis 1938 erklärter Befürworter von Österreichs "Anschluss" an das Deutsche Reich.1945 Staatskanzler, ab Dezember Bundespräsident.
Handelt Renner auf eigene Faust? Er ist 75 und auf dem politischen Altenteil. Stalin soll ihn aufgestöbert haben, haben lassen, natürlich. Marschall Tolbuchin, der Kommandant der 3. Ukrainischen Front, hatte die Order, ihm sagen zu lassen, "dass das Oberkommando der sowjetischen Truppen ihn zwecks Wiederaufbaus der demokratischen Ordnung unterstützen werde."
Renner, kein Zauderer, geht sofort ans Werk. Er bildet ein Kabinett, in dem die SPÖ, die ÖVP und die KPÖ gleich stark vertreten sind. Und bereits am Tag der Regierungsbildung verkündet er, gestützt auf die "Moskauer Erklärung", die Wiederherstellung der Republik.
Die Initiative geht von England aus. Frühjahr 1943. Das Foreign Office macht sich Gedanken über die Zeit nach dem Krieg. Auch ein Memorandum mit dem Titel "Die Zukunft Österreichs" wird erstellt. Unter den möglichen "Lösungen" befinden sich neben der "Wiederherstellung Österreichs als freier und unabhängiger Staat" auch Denkmodelle, die eine "Einbeziehung Österreichs in eine "süddeutsche" oder "eine mittel- oder osteuropäische Konföderation" mit Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn vorsehen.
Im Juni 1943 wird dieses Memorandum im englischen "Kriegskabinett" behandelt. Dem Abschnitt über die "Zukunft Österreichs" wird eine Passage angefügt, dernach "die Haltung des österreichischen Volkes während des Krieges in Rechnung zu stellen ist", für die "die Österreicher eine Verantwortung tragen, der sie nicht entrinnen können". - Die "Verantwortungsklausel".
Nicht ganz vom Tisch ist weiterhin der Gedanke - als Gegengewicht zu dem zu erwartenden Machtzuwachs Russlands in Europa - Österreich in eine mittel- oder osteuropäische Konföderation einzubinden. Aber dagegen ist Molotow. Er sieht die Gefahr einer möglichen Stärkung des westlichen Sicherheitsgürtels.
Bei der am 19. Oktober 1943 in Moskau beginnenden ersten Konferenz der Außenminister Englands, der USA und der Sowjetunion - Anthony Eden, Cordell Hall und Wjatscheslaw Molotow - kommt es zu einigen "Verschärfungen" bei der "Verantwortungsklausel".
Die "Verantwortlichkeit, der es nicht entrinnen könne", wird jetzt nicht mehr "den Österreichern" zugeschrieben, sondern "Österreich". Womit sie von der moralischen Ebene auf eine juristisch-völkerrechtliche transferiert wird. Weiter wird nun auch genauer gesagt, wofür Österreich eine Verantwortlichkeit trage, nämlich "für die Teilnahme am Krieg auf der Seite Hitler-Deutschlands".
Die "Moskauer Erklärung über Österreich" lautet schließlich:
"Die Regierungen des Vereinigten Königreichs, der Sowjetunion und der Vereinigten Staaten von Amerika sind darin einer Meinung, dass Österreich, das erste freie Land, das der typischen Angriffspolitik Hitlers zum Opfer fallen sollte, von deutscher Herrschaft befreit werden soll. Sie betrachten die Besetzung Österreichs durch Deutschland am 13. März 1938 als null und nichtig...Österreich wird aber auch daran erinnert, dass es für die Teilnahme am Krieg an der Seite Hitler-Deutschlands eine Verantwortung trägt, der es nicht entrinnen kann."
Im November 1943 schließt sich Frankreich dieser Erklärung an.
In Renners "Proklamation über die Selbständigkeit Österreichs" vom 27. April 1945 ist die "Moskauer Erklärung" dann, einschließlich der "Verantwortungsklausel", ein wesentlicher Bestandteil.
Bis zum 14. Mai 1955, dem Tag vor der Unterzeichnung des Staatsvertrages, steht diese "Verantwortlichkeitsklausel" in der "Präambel" aller Staatsvertrags-Entwürfe. In der schließlichen Endfassung des Vertrages aber ist sie nicht mehr enthalten. Warum nicht?
Figl hatte auf der Botschafterkonferenz vor diesem 14. Mai 1955 den Antrag auf Streichung gestellt. Sie sei in politisch-ideologischer wie rechtlicher Hinsicht für Österreich untragbar:
"Wenn Österreich nunmehr als grundsätzlich neutraler Staat mit der besonderen politischen und moralischen Aufgabe und Verantwortung eines solchen Staates in Erscheinung treten und in dieser Rolle gewissermaßen seine künftige Staatsidee finden und realisieren soll", dann wäre es doch geradezu "zweckwidrig und widersinnig, diesem neuen österreichischen Neutralitäts- und Friedensfaktor bei seiner Geburt ein Schuldmal aufzubrennen und so seine innere und äußere Entwicklung mit einer moralischen Hypothek zu belasten."
Bei der anschließenden, am 14. Mai stattfindenden Sitzung der Außenminister stimmt Molotow, der den Vorsitz führt, ebenso wie Dulles, Macmillan und Pinay, Figls Antrag zu. Sie beschließen die Streichung der "Verantwortungsklausel".
Hatte sie Figl mit seiner Argumentation wirklich überzeugen können? Wusste Figl den günstigen Moment, einen Tag vor der Unterzeichnung des Staatsvertrags, für sich zu nutzen? Es könnte andere Gründe gegeben haben. Gründe strategischer Art. Vor kurzem erst war die BRD der NATO beigetreten - und: der "Warschauer Vertrag" geschlossen worden.
Kritische österreichische Historiker werden in der Zukunft diese Streichung immer wieder anprangern: Sie trage zu einem "Gründungsmythos" bei, der auf einer fragwürdigen "Opferthese" basiere.
Als Österreich dann ein "Staatsgründungsdenkmal" errichtet, 1966, mit dem Text der "Verantwortungsklausel" in Stein gemeißelt, liegt die Annahme nahe, man habe sich jetzt höheren Ortes besonnen, wolle sich zu seiner Vergangenheit bekennen. Aber - wo steht das Denkmal? Im Schweizer Garten, außerhalb des Gürtels, einer Hauptverkehrsstraße Wiens. "Wo es niemand sieht", sagt der Wiener Politikwissenschaftler Peter Diem. Absicht?
In den 80er Jahren, als die Waldheim-Affäre eine internationale Diskussion über Österreichs Opferrolle und Pflichterfüllungsmythos auslöst, muss es seine "Gründungserzählung" - wie der Historiker Ernst Hanisch es ausdrückt - "reformulieren".
Am 8. Juli 1991 erklärt Bundeskanzler Franz Vranitzky, ein Sozialdemokrat, vor dem österreichischen Nationalrat:
"... Wir dürfen auch nicht vergessen, dass es nicht wenige Österreicher gab, die im Namen dieses Regimes großes Leid über andere gebracht haben, die Teil hatten an den Verfolgungen und Verbrechen dieses Reiches... Viele Österreicher waren an den Unterdrückungsmaßnahmen und Verfolgungen des Dritten Reiches beteiligt, zum Teil an prominenter Stelle."
Zurück ins Jahr 1945: "Die Provisorische Regierung arbeitet", titelt die unter Patenschaft der Alliierten gegründete Tageszeitung "Neues Österreich" am 15. Mai.
Sie hebt die Gesetze aus der Nazizeit auf, führt die Meldepflicht für ehemalige Nazis ein, vornehmlich jener "Illegalen" vor 1938, die den "Anschluss" vorbereiten halfen. 36 Todesurteile werden im Entnazifizierungs-Verfahren verhängt werden und 5.300 Gefängnisstrafen.
Aber die Westmächte - sie rücken erst Anfang Mai in das westliche Österreich ein - sind misstrauisch. Renner gilt ihnen als "Marionette des Russen-Regimes". Überlegungen, eine Gegenregierung zu bilden, werden angestellt. Erst im Juli konstituiert sich ein gemeinsamer "Alliierter Kontrollrat". Abgrenzung der Besatzungszonen, Aufteilung Wiens in 4 Sektoren. Gemeinsame Verwaltung des ersten Bezirks. - "Die Vier im Jeep"! - Im Oktober: endlich die Anerkennung - Ein Mann der Russen war Renner zu keinem Zeitpunkt.
Im November 1945 darf Österreich wählen. Das Ergebnis schockiert die Sowjets. Molotow hat für die KPÖ mit 30 Prozent der Stimmen gerechnet. Sie bekommt nur 5,4. Die ÖVP 49,8 und die SPÖ 44,6. Leopold Figl wird Bundeskanzler. Er lässt die Kommunisten mitregieren, bildet eine "Konzentrationsregierung" aus ÖVP, SPÖ und KPÖ.
Leopold Figl, Agraringenieur. Kommt aus bäuerlichen Verhältnissen. Katholisch geprägt. Konservativ. Als Gegner der Annexion Österreichs, von 1938 bis 45, mit einer kurzen Unterbrechung, im KZ. 1945 bis -53 Bundeskanzler, 1953 Außenminister.
Gut geht es dem Land nicht in diesen Tagen. Die Besatzungskosten belasten das Staatsbudget. Die Bevölkerung hungert. Der Schwarzhandel blüht - wer einen Rucksack trägt, wird kontrolliert. Wer sich "antisowjetischer Aktivitäten" verdächtig macht, und dessen bedarf es keines Beweises, wird verschleppt. Nach dem für die Russen enttäuschenden Wahlausgang ist Eiszeit angebrochen.
Eiszeit! Kein gutes Klima für Staatsvertragsverhandlungen.
Was ist denn das überhaupt, ein Staatsvertrag?
"Der zwischen mindestens zwei Staaten geschlossene völkerrechtliche Vertrag... "
Und ein Friedensvertrag?
"Im Völkerrecht bildet den Gegensatz zum Frieden der Krieg, der durch Abschluss eines Friedensvertrages formell beendet wird."
Hat, völkerrechtlich, Österreich demnach keinen Krieg geführt?
Da sich in der völkerrechtlichen Bewertung die "Okkupationstheorie" gegenüber der "Annexionstheorie" als Staatsauffassung durchgesetzt hat, ist das die logische Schlussfolgerung. Denn nach der "Okkupationstheorie" ist Österreich "nur" besetzt worden, während es nach der "Annexionstheorie" staatsrechtlich im Deutschen Reich aufgegangen wäre. Die "Okkupationstheorie" geht also von der Kontinuität eines Rechtsverhältnisses aus: das Österreich des 27. April 1945 ist dasselbe wie das Österreich des 13. März 1938.
Österreich hat demnach also keinen Krieg geführt. "Trägt" aber für seine Beteiligung am Krieg auf Seiten Hitler-Deutschlands "Verantwortung". - siehe "Verantwortungsklausel"! Und kann daher seine volle Souveränität mit einem Staatsvertrag erlangen.
"Tu felix Austria"?
Die erste Sitzung der "Sonderbeauftragen für die Vorbereitung eines Vertrages mit Österreich" findet im Januar 1947 in London statt. Österreich ist nicht offizieller Teilnehmer, wird aber zu Anhörungen - "Hearings" - eingeladen.
Das letzte Staatsvertrags-Treffen wird im Mai 1955 erfolgen, auf Außenminister-Ebene, in Wien, am 14. Mai, dem Tag vor der Vertragsunterzeichnung.
Am 15. Mai berichtet die Wiener "Arbeiterzeitung":
"8 Uhr, Wien, Prinz-Eugen-Straße:... Im Schloss sind die letzten Vorbereitungen im Gang. Die Teppiche rutschen auf dem glatten Parkett, ein Fotoreporter stürzt. Um Gotteswillen, wenn das dem Außenminister passiert!..."
10 Uhr, Schloss Belvedere: "...Die Spannung steigt. Außenminister Dr. Figl und Staatssekretär Dr. Kreisky kommen an."
11 Uhr: "... Die russische Delegation braust im Achtzigkilometertempo die Prinz-Eugen-Straße herauf - vier haargleiche, glitzernde ‘Zis’- Limousinen... Molotow steigt freundlich lächelnd aus der ersten Limousine und wird in das Foyer geleitet."
Molotow: "... Der Vertrag, den wir heute unterzeichnen, stellt die Souveränität und die Unabhängigkeit eines demokratischen Österreichs her. Er schlägt eine neue Seite in der Geschichte des österreichischen Volkes und in den Beziehungen zwischen den Staaten Europas auf: Österreich erklärt, eine dauernde Neutralität einhalten zu wollen, und neben der Schweiz wird jetzt inmitten Europas auch ein neutrales Österreich bestehen..."
Stichwort "Neutralität"
Österreichs Haltung ist von Anfang an von der Maxime bestimmt: keine einseitige Orientierung! Weder am Osten, noch am Westen. Eine Spaltung des Landes vermeiden. Erst bei der Berliner Außenministerkonferenz im Februar 1954, bei der erstmals eine österreichische Delegation zugelassen ist, macht Österreich "Andeutungen" über einen denkbaren "Status der Neutralität". Julius Raab, seit 1953 Bundeskanzler, bringt Österreichs Position auf die Formel "Alles ein Guss". Er will die Klärung weiterer, noch offener Punkte einbezogen wissen.
Molotow lässt jetzt, nach Stalins Tod und nach Beendigung des "Kalten Krieges" Entgegenkommen erkennen. Nicht so die Westmächte. Österreich in ihr Bündnissystem einzubinden, notfalls auch nur den Westteil des Landes: das ist noch immer Teil ihrer Strategie.
Molotow lädt eine österreichische Regierungsdelegation nach Moskau ein. Raab, Schärf, Figl und Kreisky reisen an. Am 15. April 1955 unterzeichnen sie das "Moskauer Memorandum" - der Durchbruch in den Verhandlungen mit den Sowjets. Wichtigster Punkt: Österreich soll seine Neutralitäts-Erklärung erst abgeben, wenn es ein Staat ist, der die volle Souveränität besitzt. Der aus freiem Willen handelt. Nicht von Außen bestimmt. Heißt: erst nach Abschluss des Staatsvertrages.
Das Gesetz dann über "die immerwährende Neutralität Österreichs" wird am 26. Oktober 1955 vom Nationalrat beschlossen werden, fünf Monate nach Abschluss des Staatsvertrages. Wenn die Alliierten ihre Besatzungstruppen bereits abgezogen haben werden.
Dulles, der amerikanische Außenminister, in Zugzwang geraten, sieht in dem "was die Russen ausgekocht haben", etwas, "das zwar den Österreichern schmeckt, aber nicht uns". Die Westmächte wollen das "Memorandum" erst einmal auf einer Botschafterkonferenz diskutieren lassen - die 374. in Sachen Staatsvertrag. Dabei kommt es schließlich zu einer Einigung. Schon in Berlin hatte Molotow Dulles daran erinnert, dass er, Dulles, 1954 erklärt habe, "der Status der Neutralität ist ein Ehrenstatus für einen Staat, wenn er von diesem freiwillig gewählt wurde".
Gar nicht gefallen will diese Entwicklung Adenauer. Er sieht "durch die Wiener Politik seine einseitige West-Orientierung erheblich gestört", so Der Spiegel später, im Rückblick , "da setzen sich die Österreicher, unzuverlässig wie immer, ab in die Neutralität"!
Nachdem Adenauer "vergeblich versucht hatte, den Abschluss des Staatsvertrages zu verhindern", rät das Bonner Außenamt nun auch, Österreichs "Neutralitätserklärung allenfalls kommentarlos zur Kenntnis zu nehmen". Denn: "Bonn hatte damals den "Anschluss" von 1938 formal noch immer nicht annulliert".
"11 Uhr 10: Die britische Delegation biegt in das Belvedere ein. Außenminister Macmillan steigt aus seinem Rolls-Royce und wird begrüßt."
Harold Macmillan: "Der heutige Tag bedeutet eine ganz große Ehre für mich: Die Ehre, diesen lang erwarteten Staatsvertrag im Namen Ihrer Majestät, meiner Königin, zu unterzeichnen... Für uns alle ist dieser Tag ein denkwürdiger und Glück bringender Tag. Österreich selbst aber muss immer wissen, dass es sich auf die treue Freundschaft des britischen Volkes verlassen kann."
"11 Uhr 14: Die Amerikaner kommen. Der große Chrysler des US-Botschafters trägt heute nicht nur das Sternenbanner, sondern auch den blauen Wimpel des amerikanischen Außenministeriums. Außenminister Dulles steigt aus und geht in das Schloss."
John Foster Dulles: "Vor 17 Jahren fiel Österreichs Freiheit einer - wie es damals schien - unüberwindlichen Macht zum Opfer. Aber auch in diesem Fall, wie in der Regel, unterlag die militärische Macht der moralischen Macht eines Ideals. Das österreichische Volk hat niemals seinen Glauben an ein freies, unabhängiges Österreich verloren und seine Worte und Taten drückten allezeit die feierliche Entschlossenheit aus, diese Idee zu verwirklichen..."
Stichwort "Vor 17 Jahren"
Auch Österreichs Außenminister Leopold Figl wird in seiner Rede von "siebzehn Jahren" sprechen:
"Ein siebzehn Jahre dauernder, dornenvoller Weg der Unfreiheit ist beendet". "
Kann man die 7 Jahre des annektierten Österreich, von 1938 bis 45, und die 10 Jahre nach der Befreiung, aber unter alliierter Besetzung, von 1945 bis 55, einfach so addieren?
Man kann, - völkerrechtlich - wenn man die Jahre von 1938 bis 45 als Besetzung Österreichs versteht, siehe "Okkupationstheorie", und nicht als Eingliederung Österreichs in das Deutsche Reich.
Eine "obszöne Vereinfachung" aber nennt das Heide Schmidt, die Leiterin des Wiener Instituts für eine offene Gesellschaft, "eine obszöne Vereinfachung, die keinen Unterschied macht zwischen mörderischem Terrorregime und Alliiertenzeit".
Nun hat auch Dulles von "17 Jahren" gesprochen. Rehabilitiert das Figl? Relativiert es seine Worte? Die Worte eines ehemaligen KZ-Häftlings! Hätte diese bittere Erfahrung für Figl nicht gerade bedeuten müssen, "einen Unterschied zu machen zwischen mörderischem Terrorregime und Alliiertenzeit"?
Oder aber - so eine ganz andere Sichtweise - müsse man Figl nicht eigentlich hoch anrechnen, von "17 Jahren" gesprochen zu haben? Denn, wenn damals in Wien, 1955, jemand gefragt wurde, wie lange Österreich nicht frei war, habe doch jeder nur von "10 Jahren" gesprochen.
Offiziell, freilich, weiß Österreich inzwischen klar zu unterscheiden: zwischen "60 Jahren Republik in Frieden und Freiheit", also einschließlich der Besatzungszeit durch die Alliierten, und "50 Jahren in voller Souveränität", seit der Unterzeichnung des Staatsvertrages.
" "11 Uhr 21: Als letzte trifft die französische Delegation ein: Außenminister Pinay und Gefolge..."
In was für einer Staatskarosse die Franzosen vorfahren, wird uns hier vorenthalten. - Antoine Pinay also:
"...Frankreich freut sich, dass am Ende einer langen Wartezeit, nach geduldigen Verhandlungen, zehn Jahre nach Kriegsende die Unterzeichnung des Staatsvertrages stattfindet... Heute beglückwünscht Frankreich Österreich aufrichtig aus tiefstem Herzen und wünscht ihm eine glückliche Zukunft in Wohlergehen."
"11 Uhr 30: Endlich kommen sie: zuerst die Russen, an ihrer Spitze Molotow.... Dann die Engländer, voran der korrekt und soigniert aussehende Macmillan. Von den Amerikanern haben Außenminister Dulles und Botschafter Thompson rotweißrote Kokarden in den Rockaufschlag gesteckt. Schließlich die Franzosen, angeführt von dem eleganten Außenminister Pinay."
Stichwort "Rot Weiß Rot"
"Bis in den Tod, Rot-Weiß-Rot" - Schuschniggs letzte Worte in seiner Rede im Februar 1938 im österreichischen Bundestag, wenn er den drohenden Einmarsch deutscher Truppen beschwört. Rotweißrot ist die Flagge, die österreichische Widerständler am 9. April 1945 auf der Spitze des Stephansdom hissen. "Rot-Weiß-Rot" nennt sich 1945 der amerikanische Sender in Wien.
"rot - ich weiß - rot", weiß Ernst Jandl.
Mit ihrer glücklichen Heiratspolitik, wie schon erwähnt, verfolgen die Habsburger - "Rot-Weiß-Rot" in ihrem Wappen - "die Mehrung des Reiches". Ein schwäbisches Dynastengeschlecht, für das schon im 15. Jahrhundert die Bezeichnung "Casa d’Austria" aufkommt, "Haus Österreich". Im 17.Jahrhundert steigt es zu einer europäischen Großmacht auf. Gewinnt die Vorherrschaft im "Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation". Gerät in Gegnerschaft zur neu erstandenen Großmacht Preußen. 1866 militärisch entschieden, zu Gunsten Preußens. Die österreichischen Deutschen scheiden staats- und völkerrechtlich aus dem deutschen Nationalverband aus.
"Indem es um die Hegemonie bei der im 19. Jahrhundert angestrebten deutschen Einheit konkurrierte, wurde Habsburg zum ernsthaften Rivalen Preußens. Das Imperium verlor den Wettbewerb, weil es sich, im Unterschied zu Preußen, nicht auf ein ethnisches Maß reduzieren ließ..."
So Richard Wagner in der "Frankfurter Rundschau" vom 2. August 2004. Und Rudolf Burger in der Wiener "Presse" vom 15. März 2005:
"Im Unterschied zu den Hohenzollern, für die der Nationalismus nach 1871 ein Einigungsmittel des Reiches war, konnte sich ein spezifisch österreichisches Nationalbewusstsein unter den Bedingungen der multinationalen Habsburgermonarchie nicht bilden... Der Ausschluss Österreichs vom Deutschen Bund seit 1866, der mit der preußischen, kleindeutschen Reichsgründung 1871 ratifiziert wurde, dauert als Trauma des Ausschlusses fort, das nach 1938 in ein Anschlusstrauma umgeschlagen ist."
Doch -, so der österreichische Historiker Erwin Schmidl,
"mit dem Beitritt Österreichs zur Europäischen Union ist der Anschlussgedanke der alten Art - als nationaler Zusammenstoß der beiden deutschen Staaten - unwiderruflich zu Grabe getragen worden"."
"...Zuerst unterschreiben die Russen, dann die Engländer, dann Amerika, dann Frankreich, zuletzt Außenminister Figl. Unmittelbar danach halten die Außenminister in ebendieser Reihenfolge ihre Ansprachen."
Molotows Ansprache - wir müssen noch einmal hineinhören:
"...Die Verhandlungen verliefen im Geiste wahrer Verständigung und Zusammenarbeit... Dabei wurden auch wichtige wirtschaftliche Fragen geregelt. Gemäß dem Vertrag ist Österreich von Reparationszahlungen befreit. Von großer Bedeutung war jedoch die Frage des ehemaligen deutschen Eigentums..."
Stichwort "deutsches Eigentum"
Zwar verzichten die Alliierten bereits in Potsdam, Juli 1945, auf Reparationen von Österreich, das Land muss aber für die Besatzungstruppen, insgesamt 352.000 Mann, die Kosten tragen. Zudem verliert es fast seine gesamte Großindustrie. Sie gehört, nach Ansicht der Alliierten, zum Auslandsvermögen des Deutschen Reiches, auf das sie, die Alliierten, Anspruch erheben. Es wird daher als "Deutsches Eigentum" deklariert, genauer, wie Molotow sagt, als "ehemaliges deutsches Eigentum".
Hitler-Deutschland hatte zwischen 1938 und 45 alle bedeutenden Industriebetriebe Österreichs in seine Konzernsysteme eingegliedert. Sie gelten daher jetzt als "deutsches Eigentum". Soweit dieses in der Sowjetzone liegt, und das ist der überwiegende Teil, wird es beschlagnahmt und als "sowjetisches Vermögen in Österreich" deklariert.
1955, mit Abschluss des Staatsvertrages, muss Österreich dieses in seinen Grenzen liegende "sowjetische Vermögen", das "ehemalige deutsche Eigentum", von den Russen wieder zurückkaufen. Es wird mit einem Betrag von 150 Millionen Dollar beziffert. Man einigt sich auf Warenlieferungen, vor allem Öl, die innerhalb eines Zeitraums von sechs Jahren an die Sowjetunion zu leisten sind.
Als Letzter hält Leopold Figl seine Ansprache - Bundeskanzler Raab lässt dem Außenminister den Vortritt. Nach der Begrüßung: der Satz von den "siebzehn Jahren", dessen Umstrittenheit schon kommentiert wurde. Figl setzt fort:
"...Ich bin der festen Überzeugung, dass dieses Vertragsinstrument... sich künftig unter dem Zeichen einer Politik der Neutralität und Unabhängigkeit gegenüber allen Staaten entwickeln wird. Österreichs Volk jubelt heute, Österreichs Volk dankt heute für die Freiheit, Österreichs Volk geht heute aber auch mit dem festen Vorsatz der Pflichterfüllung für die ganze Welt an die Arbeit... Mit dem Dank an den Allmächtigen wollen wir die Unterschrift setzen und mit Freude rufen wir aus: "Österreich ist frei!"."
Es sind diese Worte von Leopold Figl, die in die Geschichte eingehen werden, "Österreich ist frei!". Er wird sie wiederholen, wenn die Regierungsdelegationen anschließend auf den Balkon treten, und Figl, sichtlich bewegt, die geöffnete Mappe mit dem Staatsvertrag, dem, nun freien österreichischen Volk zeigt.
Wer hat denn nun sein politisches Ziel erreicht?
Keiner. Aber man muss nach dem Minimalziel fragen. Dann lautet die Antwort: alle. Die Sowjetunion hat erreicht, dass Österreich nicht Teil des Westblocks wird, die West-Alliierten, dass Österreich nicht Teil des Ostblocks wird, und Österreich, dass es nicht geteilt wird.
Hat jemand etwas gewonnen?
Ja, Österreich.
Was?
Die Neutralität.