Wie Deutschland seine Zukunft gestaltet
Wie tickt Deutschland? Wollen wir eine offene Gesellschaft sein oder machen wir dicht? Flüchtlinge, Einheimische und Arbeitsmigranten - die Zusammensetzung der Deutschen wird sich weiterhin verändern. Welche Haltung nehmen wir dazu ein?
Flensburg. Europa-Universität.
Für die Diskussion ist das Auditorium Maximum vorbereitet. Das Audimax ist ein großer Raum aus hellen Hölzern mit ansteigenden Sitzreihen. Der Raum ist mit 220 Personen schnell gefüllt, dann überfüllt. Die freiwillige Feuerwehr wünscht, dass die Gänge freibleiben. Also wird ein zweiter Hörsaal eröffnet, von dem aus man die Veranstaltung wenigstens akustisch mit verfolgen kann, es sind um die 350 Personen anwesend. Flensburg im Hohen Norden, unmittelbar an der Grenze zu Dänemark, ist ganz offensichtlich interessiert. "Welches Land wollen wir sein?" lautet die Frage des Abends, begründet durch die Beobachtung von Harald Welzer, Professor in Flensburg:
"… dass es so etwas in diesem Land noch niemals gegeben hat, das ein äußerer Stressfaktor, eine große, sich immer weiter steigernde Zahl von Flüchtlingen und dass es eine Mehrheitsbevölkerung gibt, gab und gibt, die befürwortet, dass die alle kommen."
Die Flensburger Diskussion fand Mitte Januar statt. Die politischen und sozialen Entwicklungen haben sich in den letzten Monaten rasant beschleunigt. Seitdem verschieben sich die öffentlich präsentierten Meinungsbilder im Takt der Umfragen. Richtig bleibt, dass der äußere Stressfaktor anhält und Kriegsflüchtlinge mit großer Bereitwilligkeit aufgenommen werden.
"Ich bin ja Sozialpsychologe von Hause aus. Mir ist überhaupt kein vergleichbarer historischer Fall bekannt, wo mit Anwachsen des Problems die Zustimmung der Bevölkerung auch gewachsen ist, zu sagen, wir nehmen die und zwar aus keinem anderen Grund, als dass man einfach eine Verantwortung dafür hat, dass wenn die Menschen an Leib und Leben gefährdet sind, dass man die – ohnehin ein Verfassungstatbestand – aufnehmen muss, aber dass man das auch aus ethischen Verantwortungsgründen einfach machen muss."
Um einen Ort zu schaffen, wo über die Perspektive einer Gesellschaft und auch über die Ethik des eigenen Handelns diskutiert werden kann, haben Harald Welzer und Alexander Carius die Veranstaltungsreihe "Welches Land wollen wir sein?" ins Leben gerufen. Diese Reihe will ein neues Gesprächsformat initiieren. Es lehnt sich an die amerikanischen Townhall-Gespräche an, wo jeder mit jedem und gegen jeden redet, alle stehen auf gleicher Stufe. Jeder ist betroffen, jeder hat eine Stimme.
Es gibt jeweils zwei oder drei prominente Figuren, die eine Art Eröffnungsrede halten, nur einige Minuten lang. Zum Beispiel Detlev Buck, Filmemacher, Schauspieler und Produzent. Ausführlich berichtet er von Filmprojekten, die er seit Jahren verfolgt, ohne dass etwas zu Ende kommt. Allesamt Abenteuergeschichten zum Beispiel über Mönche, die im frühen Mittelalter den bluttriefenden Khan der Mongolen zum Christentum bekehren wollen – und während er auf seine trockene Art erzählt, weiß niemand, auf was er hinaus will. Dann aber doch:
"Ich lebe in einem Dorf, und manchmal ist mir im Dorf ein bisschen langweilig, muss ich zugeben, weil da so wenig Menschen sind, weil als ich zur Schule ging oder Landwirtschaftslehre hatte, da gab`s viele Betriebe, die sehr lebendig waren, und viele Leute, und als ich neulich mit meiner Freundin Fahrrad gefahren bin, in diesem leeren Dorf, kamen mir zwei Afrikaner mit Fahrrad entgegen und ich habe mich sehr gefreut und ich dachte Ah! Das Abenteuer kommt zu einem!" (Gelächter Applaus)
Auch Katrine Hoop, eine schmale blonde Frau, sitzt auf dem Podium. Sie gehörte zu den Freiwilligen, die tagelang Flüchtlinge versorgt haben, die in Flensburg gestrandet waren, als Dänemark seine Grenzen schloss. Sie erzählt vom Glück des Helfens.
"Das war und ist immer noch ein so unglaubliches Gefühl gewesen, dass wir da zusammengekommen sind, ganz viele Menschen, die sich vorher nicht kannten, die nichts voneinander wussten und wir sind zusammen gekommen mit einem gemeinsamen Ziel, einer Vision und haben ganz unabhängig von bürokratischen Vorgaben, eine ganz andere Form des Zusammenlebens geschaffen, was ich zumindest noch nie erlebt habe."
Und aus diesem Erlebnis hat sie auch die Schlüsse gezogen über das Land, in dem sie leben möchte.
"Ich möchte gern in einer Gesellschaft leben, die Luft lässt für Engagement, wo man nicht mehr diesem künstlichen Ideal der Vollzeitbeschäftigung und des verplanten Alltags hinterher strebt, sondern tatsächlich Luft lässt, damit sich auch spontan Menschen finden können und sich engagieren können für die Sachen, die wirklich wichtig sind."
Die Debatte geht in den Saal. Dort sitzen Norddeutsche, es geht ruhig und gesittet zu, die Teilnehmer nennen ihre Namen und erzählen, was sie bewegt.
"Ich bin John Wildner Höfer, ich bin auch Dorfbewohner wie du, Detlev, und ich hab eine Frage: Wie geht deine Geschichte weiter? Du hast die beiden Afrikaner getroffen auf dem Fahrrad, hast du Moin gesagt? Ich glaub, das ist das erste Zeichen, dass man offenes Visier hat, und ich glaub, das geht weiter, und geht noch auf dem Dorf weiter, nicht nur auf dem Flensburger Bahnhof, sondern es gibt auch auf dem Dorf sehr gute Initiativen, wo man sich mit Neuzuwanderern begegnen kann und Begegnung ist sozusagen die erste Voraussetzung, sich kennen zu lernen und vielleicht auch bis zu dem Punkt zu kommen, sich auch lieben zu lernen und zu verstehen." (Starker Applaus)
Die noch ungewohnte Gesprächsform hakt am Bühnenaufbau: Die Initiativrednerinnen und -redner sitzen auf der Bühne, die übrigen Gäste im Zuschauerraum. Daraus entsteht eine Situation wie im Frontalunterricht und immer wieder kommt es dazu, dass aus dem Publikum der Professor Welzer auf der Bühne um seine Meinung gebeten wird. Was dieser im Regelfall höflich verweigert und stattdessen den Ball wieder ins Publikum spielt. Simone Lange spricht:
"Und ich wiederhole einen Satz, den ich auch schon zu Beginn des Abends gesagt habe: Die so genannte Stimmung, die da kippt, ja, ich hab das auch so empfunden, es wird uns eingeredet, und ich hab immer an alle appelliert und habe gesagt, die Stimmung kippt dann, wenn wir sie kippen lassen. Wir müssen zurückkommen dahin, dass wir Menschen wieder motivieren, mitzumachen, sich nicht abzugrenzen, weder von Politik noch von Gemeinschaft, noch von allen anderen Facetten. Vielen Dank!" (Starker Beifall)
Wirtschaftliche Fragen spielen große Rolle
Dann kommt Widerspruch auf! Eine Frau tritt kampfbereit ans Mikrofon, das ist etwas übersteuert.
"Ja, mein Name ist Tauss und ich gebe offen zu, dass ich ganz anderer Meinung bin als die meisten Herrschaften hier. Ich hoffe, sie können diese andere Meinung ertragen, denn dort vorne steht ja, wir sind in einer offenen Gesellschaft. Bislang habe ich nur verordnetes Denken gehört. Von den Regierungsparteien und von den Medien. Ich nenne das eine Gesinnungsdiktatur. Ich muss sagen, ich fühle mich in diesem Land nicht sehr wohl, meine Tochter ist ausgewandert. Ich habe jetzt folgende Frage: Ich bin eine Befürworterin einer bedarfsorientierten Zuwanderung, das wird ihnen nicht gefallen, aber das müssen sie sich einfach mal anhören. Ich wünsche mir, dass am Ende dieser Diskussion mal ganz offen gesagt wird, wer denn die Gewinner und die Verlierer dieser Bemühungen sein werden."
Wirtschaftliche Fragen spielten an diesem Abend immer wieder eine Rolle, so auch in diesen Hochrechnungen.
"Wir werden hier fleißige Arbeitsbienen haben von Migranten und sie werden in Konkurrenz treten zu der einheimischen Bevölkerung, spricht Prekariat. Haben Sie eigentlich mal darüber nachgedacht, welche sozialen Verwerfungen das in Deutschland nach sich ziehen wird? Jetzt meine allerletzte Frage an Sie, Herr Professor Welzer: Wer ist eigentlich der Geldgeber Ihrer Stiftung. Ja, das ist eine ganz… ich weiß gar nicht was darüber zu lachen ist, nur wer ein bisschen… naja, ich möchte mich dazu nicht weiter äußern."
Das Gelächter im Publikum lässt erkennen, dass man auf weitere Äußerungen durchaus verzichten kann. Im Netz kann jeder nachlesen, dass es der ehemalige Unternehmer Dieter Paulmann und seine Frau sind, die die Stiftung finanzieren. Dem Publikum stellen sich an diesem Abend ganz andere Fragen, wie die Wortmeldung einer Studentin, einer geborenen Russin, zeigt.
"Ich bewege mich in dem Kreis, ich nenne sie jetzt mal Russen, meine Freunde und meine Familie etc., und nicht mal die haben sich richtig integriert, selbst die haben Vorurteile gegenüber Deutschland. Dazu die Gesellschaft, in der ich mich hier in Flensburg befinde, die vor allem auch türkisch sind etc. und auch Migrationshintergrund haben. Auch die reden oft sehr negativ, in einem Alter von 18 und aufwärts, wo ich mir denke: Okay, ihr könnt Deutsch, ihr habt Schulbildung genossen, ihr könnt hier so viel und trotzdem fühlen sie sich nicht komplett integriert. Von ihrer Seite, nicht dass wir sie nicht integriert haben, bzw. Deutschland."
Es ist absolut still im Saal. Man hatte routinierte Skepsis von denen erwartet, die sich für gewöhnlich von Presse und Politik unterdrückt fühlen, aber die Warnungen der jungen Studentin, die selbst eingewandert ist, beeindrucken die Zuhörer.
"Und da ist die Sache: Wie ändern wir das Denken von denen, die hier herkommen? Also unser Denken verändern, klar, das ist positiv, dass das hier gesagt wird, aber irgendwie muss es ja auch an die rankommen und irgendwie müssen die uns ja auch entgegen kommen, und das ist die Frage, ob es funktioniert oder nicht, und das werden wir in den nächsten 20 Jahren, glaub ich, nicht wissen, sondern die nächste Generation selbst nach mir." (Applaus)
Die Stimmung im Saal wird nachdenklich. Die Studentin hat offenbar einen wunden Punkt getroffen. Über fast eineinhalb Stunden haben Rednerinnen und Redner das Problem der Zuwanderung – noch hat Angela Merkel nicht verkündet, dass nicht alle Asylbewerber im Lande bleiben können – aus moralischer, abenteuerlustiger oder ökonomischer Sicht beurteilt. Manche rechnen mit Gewinnen, manche mit Verlusten. Aber deutlich wird, was auch immer im Sommer 2015 begonnen hat, die Wellen werden lange ausrollen.
Ohne Deutsch, aber bestens integriert
Die Diskussionen im geschützten Raum des Auditorium Maximum der Flensburger Universität sind sicherlich ein wichtiges, und – wenn sie sich als demokratische Gepflogenheit durchsetzen sollten – ein vielleicht die Zukunft bestimmendes Instrument. Aber wie sieht die Situation außerhalb der festen Gebäude der Hochkultur aus?
Treffen mit Katrine Hoop am Flensburger Bahnhof. Am Fahrkartenschalter hängt noch das handgemalte Schild "Drücken / push" und dazu die Kalligraphie der arabischen Version. Bis zu 2500 Menschen pro Tag mussten versorgt werden. Die Katastrophensituation ist ausgestanden, jetzt beginnen die Mühen der Ebene, der langanhaltende Integrationsprozess. Katrine Hoop gehört zur dänischen Minderheit in Schleswig-Holstein. Dass sie mit zwei Sprachen aufgewachsen ist, war ihr eigener Wunsch. Es hätte nicht sein müssen. Nach ihrer Einschätzung ist Sprache –anders als jetzt von vielen gefordert – vielleicht gar nicht der entscheidende Punkt für die Integration.
"Ich seh das schon so, weil wir in Flensburg eine Situation haben, wo viele Dänen leben, die aufgrund der tollen Infrastruktur auch in der Minderheit komplett in einem dänischen Umfeld leben und eigentlich kein Deutsch brauchen. Da ist eben diese Getto-Struktur, die natürlich macht, dass wenn man kein Deutsch braucht, lernt man`s auch nicht. Ich hatte früher in der Schule durchaus Lehrer aus Dänemark, die kaum deutsch sprachen. Weil sie es nicht mussten, es auch nicht gelernt haben, aber die waren natürlich trotzdem integriert. Also die haben hier gerne gelebt und sich auch an die Gepflogenheiten gehalten und wenn sie es können, ohne die Sprache zu brauchen, dann sehe ich auch keinen Grund, diese Sprache zu lernen."
Die Dänen in Schleswig-Holstein sind als Minderheit vom Gesetz geschützt und privilegiert. Beispielsweise gilt für sie nicht die parlamentarische Fünf-Prozent-Hürde. Und offenkundig können sie einen Lebensstil leben, in dem sie mit der deutschen Mehrheitsgesellschaft nicht reden müssen. Ähnliches gilt wohl auch für die japanische Community in Düsseldorf. Es gilt nicht für die Minderheit der Deutschen in Belgien, wo die Kinder im Kindergarten zweisprachig erzogen werden. Wie entscheidend also ist der Spracherwerb für das Zusammenleben?
Katrine Hoop findet es wichtig, dass jetzt Begegnungen organisiert werden, dass man den Flüchtlingen einen Alltag geben muss, in dem sie nicht isoliert in ihren Containern sitzen müssen, aber den Spracherwerb zu jener alles entscheidenden Hürde zu erheben, über die jeder Asylbewerber springen muss…
"… ich finde, das ist falsch. Sprache muss ein Mittel sein zur Kommunikation, aber es ist ja an sich noch keine Integrationsleistung, eine Sprache zu sprechen, sondern es kann durchaus auch jemand, der die Sprache relativ schlecht spricht hervorragend integriert sein und umgekehrt sind Sprachkenntnisse kein Garant dafür, dass man sich gut einfügt."
"Der Fachbereich heißt ganz genau Einwohnerservice und Willkommenskultur, ist auch in diesem Jahr erst als Fachbereich neu gegründet worden, weil man dem Thema Willkommenskultur in der Stadt eine besondere Bedeutung zumessen will und besondere Strategien dafür entwickeln möchte."
Uta Weinerdt-Höfer leitet behördlicherseits die Flensburger Willkommenskultur. Deren Aufgabe ist es, Asylverfahren rechtmäßig durchzuführen, Flüchtlinge unterzubringen und die Integration einzuleiten.
"Natürlich ist das ein Paradigmenwechsel. Wir sind es ja in Flensburg gewohnt, auch durch die Nähe zu Dänemark, bunt zu sein und auch damit zu leben und das ist auch in der Bevölkerung natürlich aufgrund der Historie fest verankert. Wir haben aber gemerkt, nachdem die Flüchtlinge zu uns kamen, auch in größerer Zahl, dass wir dem Thema Willkommenskultur eine andere Bedeutung bemessen müssen, weil viele fremde Kulturen kommen und weil das auch für eine Stadt eine Herausforderung ist."
Schleswig-Holstein hat eine sehr bewegte Geschichte der Aufnahme von Flüchtlingen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden hier Flüchtlinge aus Pommern und Ostpreußen angesiedelt. In den 60er-Jahren kamen Italiener, die als Gastarbeiter einreisten und als Deutsche blieben. Die türkischen Einwanderer kamen und blieben. Russlanddeutsche kamen und immer schon da waren die Dänen. Es gibt eine Integrationsroutine in Flensburg, scheint es.
"Natürlich gibt es immer kritische Stimmen, die gibt es auch in dieser Stadt, weil auch Bevölkerungsschichten, nenn ich es jetzt mal, Angst davor haben, dass man sie vergisst. Das ist aber eine Minderheit, es ist aber auch völlig in Ordnung, dass das artikuliert wird, aber die Mehrheit freut sich darauf, und findet es auch ganz normal, dass wir jetzt Geld investieren müssen, um Schulen, Kitas etc. weiter aufzubauen und auszubauen, und auch die Wirtschaft ist hocherfreut darüber."
"Integration ist immer ein zweiseitiger Prozess"
Monika Eigmüller ist die Gastgeberin der Flensburger Diskussion. Sie ist Vizepräsidentin der Europauniversität Flensburg. Ihr hauptsächliches Themengebiet ist die europäische Integration.
"Ich würde die Frage nach Integrationsfähigkeit immer zweiseitig stellen, also einmal die Integrationswilligkeit oder -fähigkeit derer, die kommen, aber auch die Integrationsfähigkeit der Aufnahmegesellschaft, weil Integration immer ein zweiseitiger Prozess ist. Ein Aushandlungsprozess von einer Gruppe von Menschen, die sich dann eben, in dem Moment wo andere dazu kommen, neu zusammensetzt."
Das geschieht in Uni-Seminaren genauso wie in einer Baufirma, wo neue Arbeiter eingestellt werden. Alle müssen sich neu einrichten. Die Alteingesessenen nehmen oft für sich in Anspruch, dass sie das Sagen haben, die Neuen testen die Grenzen der alterprobten Übereinkommen aus.
Etliche meinen, dass das Deutschland, das sie kennen, für sie gut sei. Und deshalb wollen sie keine Veränderung. Falsch gedacht, sagt die Soziologin Eigmüller.
"Gesellschaft ist immer ein dynamischer Prozess. Wenn wir denken an die deutsch-deutsche Wiedervereinigung, die ja sehr holprig gelaufen ist, wo es dann immer hieß, es muss mindestens eine Generation vergehen, vielleicht sogar mehr. Da kann man genau beobachten, was passiert, wenn die Aufnahmegesellschaft nicht bereit ist, sich Gedanken darüber zu machen, wie sie sich eben auch verändern kann oder muss und Regeln neu zu definieren, sondern es war ganz klar, wir sind die Aufnahmegesellschaft, die aus dem Osten kommen jetzt und die sollten sich dann anpassen. Dann hat man alles abgeschafft, Polikliniken genauso wie alles andere, und erst nach zehn, fünfzehn Jahren hat man angefangen, drüber nachzudenken, vielleicht kommen da ja doch Ideen, kulturelle Werte, neue Vorstellungen, die gar nicht so schlecht sind."
Szenenwechsel – nach dem westlichen Flensburg ist das östliche Potsdam der Austragungsort der Debatte. Das Diskussionsformat unter dem Titel "Welches Land wollen wir sein?" ist bereits durch mehrere deutsche Orte gezogen. Frankfurt hatte mit 700 Teilnehmern die bislang höchste Besucherzahl.
Im Hans-Otto-Theater haben sich circa 100 Personen eingefunden. Potsdam ist schon zum zweiten Mal Testlabor für die Zukunft des Landes. Anders als in Flensburg gibt es keine Hierarchie mehr zwischen Oben-auf-der-Bühne und Unten-im-Zuschauerraum, in Potsdam sitzen die Besucher auf einer Ebene im Oval. Offenbar sind es die Menschen hier nicht gewohnt, ihren Namen öffentlich zu nennen. Die meisten reden gleich drauflos. Befürchtungen werden geäußert.
"Viele junge Leute kommen da, die aus patriarchalischen Verhältnissen kommen, die nicht den Halt der Familie haben, die leicht zugänglich sind für unmögliche Geschichten, die werden angesprochen und es geht in die falsche Richtung – da vermiss ich bisher überhaupt ein Statement, ich sehe eine Verstärkung der Unsicherheit in der Bevölkerung, dadurch, dass man nicht sagt: Also wir brauchen Geld dafür, wir brauchen sehr viel Geld dafür, um das überhaupt bewältigen zu können und das macht mich ein bisschen unsicher."
Wahrscheinlich verstärkt Jasmin Taylor, die als Flüchtling aus dem Iran nach Deutschland kam, die Sorgen des jungen Mannes. Als sie in den 80er-Jahren vor dem Iran-Irak-Krieg floh, kamen noch relativ wenige Flüchtlinge nach Deutschland. Die Situation war für beide Seiten besser überschaubar und daher leichter. Taylor bringt einen neuen Aspekt in die Diskussion: Es wird nie wieder leicht sein.
"Die Welt ist sehr mobil. Die Menschen sind auch mobil. Nicht nur wir sind mobil, sondern die sind auch mobil, die machen sich auf den Weg. Wir müssen alle wissen, das 21. Jahrhundert wird das Jahrhundert der Flüchtlinge sein. Wenn wir die Kriegsflüchtlinge in Ordnung bringen, es werden sehr viele Umweltflüchtlinge sein. Immer wieder hört man oder liest man, es werden in diesem Jahrhundert 200 bis 500 Millionen aus Umweltgründen sich auf den Weg machen. Es sind nicht nur politische Flüchtlinge, es sind auch wirtschaftliche, die haben auch eine Daseinsberechtigung, weil man hat es vielleicht auch satt, jeden Abend hungrig ins Bett zu gehen."
"So ein Land, wie es jetzt ist, wollt ich auch nicht sein"
Ein Teilnehmer versucht die Erwartungen herunter zu schrauben und sagt, er könne durchaus damit leben, wenn Menschen sich in unterschiedlichen Dimensionen kulturell anpassen, ohne dass man gleich befürchten muss, es bildeten sich – wie er sagt – verdächtige Parallelgesellschaften. Dann meldet sich eine Frau zu Wort, gleich mit dem Hinweis, sie sei 1989 nicht auf die Straße gegangen.
"Die Frage ist, welches Land wollen wir sein? So ein Land, wie es jetzt ist, wollt ich auch nicht sein, wo von Demokratie gesprochen wird, sie aber nicht gelebt wird und diejenigen, die von Demokratie sprechen, sie erst recht gar nicht leben. Und es wurde hier auch heute noch nicht darüber gesprochen: Was ist denn mit uns? Es wurde nur immer über die Flüchtlinge gesprochen. Ich hab heute einen Bericht gesehen, wo 1,2 Millionen Kinder keine warme Mahlzeit haben, deutsche Kinder. Sind wir nicht verpflichtet, auch denen was zu geben? Und sind wir nicht vielleicht auch verpflichtet, gerecht zu verteilen und nicht nur den Flüchtlingen sehr viel mehr zukommen zu lassen als den Arbeitslosen, die in Hartz IV sind? Also ich denke, hier ist ganz viel Ungerechtigkeit am Werke und vor allen Dingen, es herrscht keine Ehrlichkeit."
Die Behauptung, dass Asylbewerber finanziell besser gestellt seien als Hartz-IV-Empfänger, wird schnell korrigiert. Manches wird an diesem Abend ausgesprochen, aber nicht ausdiskutiert. Aber wenn man – nach circa 25 dieser Veranstaltungen den Initiator Harald Welzer richtig versteht, dann ist schon das Gespräch der größte Wert.
"Was sich tatsächlich in allen Veranstaltungen ergeben hat ist, dass die Leute unglaublich diskussionsbereit sind und sie sind auch wahnsinnig geduldig. Es gibt nicht so diesen Fall, dass man sofort einen Schlagabtausch hat oder dass Meinungen unterdrückt werden, oder dass es aggressiv ist, sondern es gibt offensichtlich das Bedürfnis, dass man sich austauschen möchte. Welches Land wollen wir sein? Das brennt den Leuten schon unter den Nägeln, aber das führt überhaupt nicht dazu, dass es eine Art hysterische oder hektisierte Diskussion gibt, sondern die warten bis sie dran sind und entgegnen dem, der vor drei Stationen etwas gesagt hat und das macht es interessant. Das ist für mich ein total interessantes Experiment, dass Diskussionen dieser zivilisierten Art unter 500 Leuten möglich sind."
Wir verlassen das Theater "als moralische Anstalt", so wie Friedrich Schiller es gelehrt hat und kehren noch einmal zurück in die tatsächliche Wirklichkeit. Wo man sich aus dem Moment heraus verständigen musste und muss: Welches Land sind wir? Wie packen wir an? In Königs Wusterhausen, am südlichen Stadtrand von Berlin, arbeitet die Initiative "willkommen-in-kw". Nur die Besucher des Schlosses sagen Königs Wusterhausen, alle anderen sagen KW. Die Initiative wurde von Pfarrer Hartmut Hochbaum gegründet.
"Wir bieten Deutschkurse an entweder über die Volkshochschule oder auf ehrenamtlicher Basis. Das Zweite ist: Wir versuchen einen Begleitdienst für Behörden, für Patienten, die zu Ärzten müssen, einzurichten, damit die Menschen, wenn sie sich auf den Weg machen, wissen, wir haben jemanden an unserer Seite, der uns hilft in unserer Kommunikation und daraus entwickelt sich der dritte Pool, ein Pool von Dolmetschern. Also: Wer spricht Paschtu, Urdu, wer spricht Arabisch, das sind so die herausragenden Sprachen. Und das läuft relativ gut."
Die Initiative hat sich im vergangenen September gegründet. Sie umfasst ungefähr 40 bis 50 Aktive, von denen viele mit der Kirche nichts zu tun haben, aber mit Flüchtlingen.
Martina Göller ist im Vorruhestand. Sie war Fremdsprachen- und Geschichtslehrerin. Jetzt unterrichtet sie für "willkommen-in-kw" Flüchtlinge in der deutschen Sprache und zum Thema Deutschland. Die Asylsuchenden werden im Übrigen nicht von staatlichen Behörden unterrichtet, hier müssen schon Freiwillige einspringen. Merkels "Wir schaffen das!" kommt wohl nicht auf allen Verwaltungsebenen an.
"Dann kamen aus Eigeninitiative zehn Pakistani und forderten den Deutsch-Unterricht ein und das hab ich dann angefangen. Leider sind dann sechs von dieser Gruppe versetzt nach Massow, aber mit vier von den Pakistani hab ich dann sehr intensiv weitergearbeitet, auch jetzt noch, wo sie im Heim in Uckley sind, dazu sind noch drei Somali gekommen, davon zwei Analphabeten, also, es ist ein sehr anspruchsvoller Unterricht, den man da machen muss, und es macht mir unheimlich Spaß."
Es zeigt sich, dass die angebliche Schwemme gut ausgebildeter syrischer Ärzte in Königs Wusterhausen nicht angekommen ist. Stattdessen Analphabeten oder Menschen mit prekärem Bildungshintergrund.
Integrationsmanagerin für Ängste zuständig
Im Landratsamt von Königs Wusterhausen erfüllt Antje Pretky die Aufgaben der Integrationsmanagerin. Neben vielem anderem ist sie auch für die Ängste der Menschen zuständig. Mehr noch als im Westen ist im Osten Deutschlands der unmittelbare Kontakt mit Nicht-Deutschen gewöhnungsbedürftig.
"Das sind in erster Linie Ängste, die das alltägliche Leben betreffen. Die Begegnung und den Umgang mit den Menschen, die für viele ja doch neu und anders sind, andere Kulturen, andere Sitten, andere Glaubensrichtungen oder einfach die andere Leben zu leben oder mit dem Leben umzugehen. Wenn man hier lebt, man hat sein Haus, seinen Hof, seine Familie seinen Alltag und ich habe in meinen Gesprächen halt den Eindruck gewonnen, dass die Menschen Angst um ihre kleine heile Welt haben."
Antje Pretky muss in Gesprächen mit den Alteingesessen immer wieder betonen, dass ihre vorgeblichen Informationen oft nur Mutmaßungen sind oder Hörensagen von der Straße oder nicht immer saubere Angaben aus den Medien. Und rät zur Umsicht.
"Ihr erwartet von denen, dass die sich anpassen an uns, andersrum müssen auch wir ihnen die Hand reichen, damit sie überhaupt die Chance haben, hier irgendwo anzukommen und sich anzupassen. Wenn wir ihnen nicht zeigen, wie wir hier leben, wie sollen sie es dann lernen und kennenlernen? Und mitunter kommt dann in so einen Gespräch schon eigentlich ein Angebot von den Menschen, zu sagen: Können wir uns denn nicht mal mit denen treffen? Also die kommen da schon von ganz alleine auf Ideen, wie man diese Grenze im Kopf irgendwo überwinden kann. Das ist manchmal eigentlich ganz einfach."
Abgesehen davon, dass das Grundgesetz uns verpflichtet, Menschen in Not zu helfen, stellt sich auch in Königs Wusterhausen die Frage: Was hat dieses Land davon, Flüchtlinge aufzunehmen?
"Bei uns im Landkreis haben wir im Moment 1000 unbesetzte Stellen zur Verfügung und an die 300 Ausbildungsplätze, die nicht besetzt sind. Also, wir suchen da schon Menschen, die bei uns Arbeit suchen und finden, wir arbeiten sehr eng mit dem Jobcenter und der Agentur für Arbeit zusammen. Die haben mittlerweile auch Mitarbeiter zur Verfügung gestellt, die auch sehr zeitnah in die Gemeinschaftsunterkünfte gehen, um mit den Menschen ins Gespräch zu kommen. Und es sind auch immer Mitarbeiter in der Ausländerbehörde, wenn in der Ausländerbehörde die Aufenthaltstitel ausgegeben werden, dass man den Menschen gleich sagt, jetzt könnt ihr ins Nebenzimmer, da sitzt schon der vom Jobcenter, der berät euch, der kann euch da schon weiter helfen."
Im Februar 2016 waren im Landkreis Königs Wusterhausen 1010 Flüchtlinge in Deutschkursen. Werden sie als Asylsuchende anerkannt, gibt es für sie Integrationskurse, die in 660 Stunden nicht nur Sprache vermitteln, sondern auch Geografie, Geschichte, Politik und wie das Leben in Deutschland so funktioniert. Zum Abschied noch schnell die Merkel-Frage an Antje Pretky: Schaffen wir das?
"Klar schaffen wir das."
Der Optimismus scheint noch ungebrochen. Aber der Druck wird nahezu täglich größer. The German Angst – sind die Fremdenfeinde in Deutschland Angstbeißer?
Die Frage bleibt noch auf Jahre hinaus: Was für ein Land wollen wir sein? Offen oder exklusiv? Das Land hat eine Diskussion vor sich. Die äußere Situation spitzt sich zu, der Migrationsdruck wächst. Umso mehr ist es wohl nötig, einen Ort der geduldigen Verständigung zu finden, an dem sich die Bürgerinnen und Bürger vereinbaren können, wie das Land aussehen soll, in dem sie leben wollen. Einen Ort, an dem auch regelmäßig die optimistische Vision vom tatsächlichen Alltag überprüft werden kann.