Franziska Davies, Katja Makhotina: "Offene Wunden Osteuropas. Reisen zu Erinnerungsorten des Zweiten Weltkriegs"
wbg Theiss, Darmstadt 2022
288 Seiten, 28 Euro
Buch: "Offene Wunden Osteuropas"
Das Mahnmal an den "Holocaust mit Kugeln" in der Gedenkstätte Babyn Jar erinnert in der Ukraine an die Ermordung von 33.000 Juden in dieser Schlucht. © picture alliance /dpa / Britta Pedersen
Leerstellen der deutschen Erinnerungskultur
15:10 Minuten
Die Historikerinnen Franziska Davies und Katja Makhotina füllen mit einem Buch Wissenlücken um die Verbrechen der Deutschen in Osteuropa während des Zweiten Weltkriegs. Es ist ein Reisebericht an Orte, die weitgehend vergessen sind.
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat auch viele alte Wunden in der Erinnerungskultur aufgerissen. Ihnen widmen sich die Osteuropa-Historikerinnen Franziska Davies und Katja Makhotina in ihrem Buch "Offene Wunden Osteuropas", bei dessen Entstehung sie nicht ahnen konnten, wie sehr es an trauriger Aktualität gewinnen würde.
In der öffentlichen Erinnerungskultur Deutschlands gehe es meist um deutsche Juden als Opfer des Holocaust, sagt Makhotina. Dabei werde wenig bedacht, dass die meisten Opfer sowjetische und polnische Juden waren. Für die Historikerin hängt das "mit mangelndem Wissen über die konkreten Orte des Holocaust im östlichen Europa" zusammen.
Familiengeschichte wird verdrängt
Davies beobachtet, dass die gesellschaftliche Verantwortung für die NS-Verbrechen in Deutschland inzwischen weitgehend anerkannt ist. Allerdings nur allgemein: "Sobald es darum geht, einzuschätzen, was haben eigentlich die eigenen Großeltern, die eigenen Urgroßeltern gemacht, kommt es zu einem Missverhältnis." Hier werde der Anteil der Schuld immer noch stark verdrängt.
In ihren Uni-Seminaren haben die beiden Historikerinnen nach eigenen Angaben viele Studenten erlebt, die wenig über die NS-Geschichte in Osteuropa wussten. Das sei der Antrieb gewesen, das Buch "Offene Wunden Osteuropas" zu schreiben. Es ist ein Reisebericht mit zehn Essays: Die Dozentinnen waren mit ihren Studenten in der Ukraine, Russland und Belarus unterwegs.
Konfliktbeladene Diskurse
Dort sei die Erinnerung aufgrund der beiden Diktaturen überall noch sehr konfliktbeladen, berichtet Makhotina. Es gebe verschiedene Opferdiskurse und Erinnerungskulturen.
So lebe in Belarus bis heute der alte Mythos der Partisanenrepublik fort, als ob alle Belarusen im antinazistischen Widerstand gewesen seien. "Alle waren Helden", sagt Makhotina. Vor diesem Hintergrund führe die europäische Dimension der Holocaust-Erinnerung dort nur ein Schattendasein.
Anders sei das in der Ukraine, wo die Holocaust-Erinnerung durch eine neue Geschichtspolitik gefördert werde. Das gelte auch für das Gedenken an den eigenen Beitrag zur Befreiung Europas vom Nationalsozialismus. In Litauen werde dagegen die Rolle der Roten Armee bei dieser Befreiung negiert.
Der Missbrauch der Geschichte
In dem Buch gehe es auch um die Frage, wie Geschichte heute instrumentalisiert werde, sagt Davies. "Da sieht man in der russischen Diktatur eine besonders krasse Form." Seit dem Machtantritt von Präsident Putin sei es immer schwieriger geworden, die eigene Geschichte und die Verbrechen des Stalinismus zu thematisieren: "Jetzt ist es gar nicht mehr möglich."
Putin missbrauche das antifaschistische Erbe der Sowjetunion, um seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine zu legitimieren, sagt Davies. "Das ist natürlich eine völlige Pervertierung." Jeder vermeintliche Feind Russlands werde als Nazist oder Faschist dämonisiert. Wie absurd und gefährlich das sei, könne man derzeit in der Ukraine sehen.
(gem)