Offensive Auseinandersetzung mit der Gegenwart

Was, wenn die Wirklichkeit so wäre, wie sie von den Medien gezeichnet wird? Was, wenn die Menschen sich so verhielten, wie es die Kulturkritiker und Trendforscher behaupten? Dann sähe unsere Welt wahrscheinlich aus wie ein Roman von Joachim Lottmann. Dieser Autor nimmt die Klischees beim Wort, er leitet die mediale Soße in seine Töpfe, um eine eigene Suppe daraus zu kochen.
In "Der Geldkomplex" wird die Geschichte von Lottmanns Alter Ego, dem Erfolgsschriftsteller und Jugendforscher Johannes Lohmer, fortgeschrieben. Viel ist derzeit von der Pornografisierung der Gesellschaft die Rede. So hat auch Lohmer, verlassen von der Ehefrau, neuerdings eine "Bitch" - Schlampe - namens Elena Plaschg an seiner Seite, die ihn für prominent und deshalb "reich" hält. Mitsamt ihren Freundinnen gibt sie ein Bild entsublimierter Jugend ab, bei dem man sich fragt: Ist das nun ein bösartiges Lottmann-Phantasma oder tatsächlich die Wirklichkeit von morgen, dem Heute schon abgelesen? "Der Medientrash wurde im eigenen blöden Leben nachinszeniert", heißt es über die Konsumenten des enthemmten "Unterschichtsfernsehens". Der "globale Pornotalk" setzt dem verhinderten Romantiker Lohmer zu.

Unterdessen verliert der rapide verarmende Autor den eigenen Internetanschluss, die Gas- und Stromversorgung und das Auto. Lohmers legendärer Wartburg wird stillgestellt durch die neue Abgasverordnung. Dann reicht es auch nicht mehr für die Getränke. Die Maskeraden, mit denen der Autor die Fassade wahrt, sind Kabinettstücke literarischer Komik. Er gibt den feinen Herrn mit astreinem Knigge-Wortschatz, ein schöner Kontrast zum restringierten Lady-Ray-Bitch-Vokabular seiner jungen Freundin.

Obwohl er sich zum "Weltmeister des Sparens" entwickelt, ist Lohmer bald zum Hungern gezwungen. Hamsun lässt grüßen. Im Hungerdelirium schreibt er einen offenen Brief an die Bundeskanzlerin. Um dann fluchtartig nach Italien aufzubrechen. Dort gibt er sich sentimentalen Kindheitserinnerungen hin, verführt die Tochter eines Svevo-Spezialisten und träumt schließlich von einem Leben als Fischer, der Welt gründlich abhandengekommen.

Während die Finanzkrise über die Welt hereinbricht, trifft auf Lohmers Konto antizyklisch Geld ein. Sein Verlag hat versehentlich einen viel zu hohen Vorschuss überwiesen. Bald sieht man Lohmer wieder in Berlin, nun ein großer, spendabler, überall gern gesehener, von den Frauen verwöhnter Mann; alle vormaligen Kollegen und Medienfreunde aber hat die Krise übel erwischt. Das ist ausgewalzte Wunscherfüllungsprosa – und weitaus weniger unterhaltsam als die galgenhumoristische erste Hälfte des Buches.

Seit Adam und Eva gebe es zwei Dinge: "die Wirklichkeit und das Reden über die Wirklichkeit. Das sind verschiedene Sachen." Sehr wahr, nur werden sie bei Lottmann ununterscheidbar. Er spielt mit Versatzstücken der Realität, zugleich ist er ein großer Plünderer der Medienkultur. Prominente aller Schattierungen werden in die Simulationsmaschine seines Erzählens hineingesogen. Lottmann macht im "Geldkomplex" den Bundestag unsicher, er besucht die Partys der digitalen Boheme und schmarotzt sich durch die Medien-Schickeria. Man liest seine Texte mit permanentem Fake-Verdacht, zugleich aber auch als Bruchstücke einer Konfession, die vor keiner Selbstentblößung zurückscheut, ebenso amüsant wie geschwätzig.
Aber ist dies ein gelungener Roman? Im herkömmlichen Sinn wohl nicht. Die Figurenzeichnung bleibt (vom hochdifferenzierten Ich-Erzähler Lohmer abgesehen) flach und begnügt sich oft mit tendenziösem Namedropping – eine Masche, die sich allmählich erschöpft hat. Die Handlung ist eher ein Notbehelf als ein ernstzunehmender Plot. Und trotzdem: Lottmanns eigenwillige Mischung aus Satire, Polemik, übler Nachrede und klugen Gedanken bietet eine offensive Auseinandersetzung mit der Gegenwart, wie man sie in Romanen nur selten findet.

Besprochen von Wolfgang Schneider

Joachim Lottmann: Der Geldkomplex
Roman
Kiwi, Köln 2009
351 Seiten, 9,95 Euro