Oh du schöne Einsamkeit

Josef Hanimann im Gespräch mit Andreas Müller |
Zu einem Rendezvous mit der Einsamkeit rät der Philosoph Josef Hanimann gerade in diesen trubeligen Tagen. Man solle sie begrüßen, mit ihr ins Gespräch kommen und sie verabschieden wie eine gute Freundin, so der in Paris lebende Publizist.
Andreas Müller: Viele von uns werden heute Abend im Kreis von Familie oder Freunden Weihnachten feiern. Und wenn alles gut geht, werden Streit und Zank draußen bleiben – dann kann es ein schöner und besinnlicher Moment werden. Nicht wenige aber sind heute allein, weil da niemand mehr ist, der zu einem gehört, oder ganz freiwillig, wenn jemand die Einsamkeit an einem Abend wie heute sucht. Einsamkeit, das klingt wahrscheinlich für die meisten von uns nicht unbedingt nach einer erstrebenswerten Situation, das klingt doch nach Depression und Elend. Zahllose Bücher sind als Lebenshelfer erschienen, die Wege aus der Einsamkeit aufzeigen wollen. Aber: Einsamkeit kann auch ein Quell der Kraft sein, ein Zustand, der zur Luxusware geworden ist, sagen andere. Und so finden sich inzwischen auch Wegweiser in die Einsamkeit auf den Büchertischen. Der Journalist Ulf Poschardt legte vor zwei Jahren sein Büchlein "Einsamkeit: Die Entdeckung eines Lebensgefühls" vor, in dem es heißt, die Einsamkeit ist ein Freund. Anfang des Jahres veröffentlichte der US-amerikanische Politikwissenschaftler Professor Thomas Dumm sein Buch "Loneliness as a Way of Live". In dem argumentiert er, dass wir erst durch Einsamkeit eine Stufe der Selbsterkenntnis erreichen können, die uns als vernünftige Wesen mit anderen interagieren lässt und so den Weg frei macht für neuartige Bindungen. In Paris begrüße ich nun den Publizisten und Philosophen Josef Hanimann, der bereits vor zehn Jahren einen Essay mit dem Titel "Vom Schweren" vorlegte, in dem er feststellte, dass die geschwinde Moderne ein tiefes Bedürfnis nach Stetigkeit, Ruhe und Langsamkeit hervorbringt. Schönen guten Tag, Herr Hanimann!

Josef Hanimann: Ja, guten Tag!

Müller: Der Jakobsweg, in den vergangenen Jahren bekanntlich ein gern genommener Weg zur Selbstfindung, ist offenbar zu überlaufen. Für ausgewiesene Individualisten soll es nun die Einsamkeit richten?

Hanimann: Ja, die Einsamkeit allein kann das nicht richten. Die Einsamkeit, dieses Hin und Her zwischen dem, was man eben verabscheut, was man fürchtet, und dem, was man irgendwo doch auch herbeiwünscht, das dauert ja nun schon seit über 2000 Jahren, das kennen wir aus alter Antike, diese Einsamkeit als Einstellung, als philosophische Einstellung. Es gab ja auch Zeiten wenn man von der Antike sprach, von den über 2000 Jahren, in denen man über dieses Phänomen nachdenkt, gab es ja lange Perioden, wo eigentlich die Einsamkeit seltsam ausgeblendet war, im Mittelalter, das christliche Mittelalter. Da gab es zwar die Einsiedelei, die Einsiedler, aber im Grunde wissen wir doch alle und hat man zu allen Zeiten gewusst, dass der Mensch doch ein gesellschaftliches Wesen ist. Die Einsiedelei war ja auch eigentlich im christlichen Sinne kein Alleinsein, sondern es war ein Vis-à-vis-Leben mit Gott. Wenn wir Einsamkeit so einfach in den Raum werfen, wie wir es also heute verstehen, dann geht das doch im Wesentlichen auf die Renaissance zurück.

Müller: Was hat die Renaissance für eine Idee von Einsamkeit?

Hanimann: In der Renaissance wurde die Einsamkeit in den Zusammenhang gestellt mit den großen Themen wie gewisse Melancholie, Traurigkeit in Maßen. Warum? Weil die gefügte Welt, wie sie eben gerade das Mittelalter noch kannte, mit einem Gott, der über allem stand, war zerbrochen oder war dabei zu zerbrechen, der Mensch, das Individuum stand plötzlich allein vor einem All, vor einer Welt, die gleichgültig ihm gegenüber geworden ist. Und gleichzeitig hat sich diese Persönlichkeit herausbilden müssen, um überhaupt bestehen zu können gegenüber dieser großen Indifferenz. Also Einsamkeit als verstärktes Ich-Sein, als ein stärkeres Selbst-Sein, ein höheres Selbst-Sein kann man sagen, mit dieser, auch hier wieder dieses Balancieren zwischen Schmerz – ist natürlich Schmerz – und gleichzeitig Wonne, ein höheres Ich-Gefühl. Also das ist diese Einsamkeit des Renaissance-Menschen, die im Grunde auch in unseren modernen Vorstellungen noch nachklingt.

Müller: Die Moderne ist ja geprägt von – einfach gesagt – von einer großen Geschwindigkeit. Wir sind offensichtlich nicht mehr wirklich geerdet. Können wir denn ungeübt überhaupt noch mit Einsamkeit umgehen?

Hanimann: Nein. Nein. Weder heute noch zu irgendwelcher Zeit. Einer der interessantesten Denker zu diesem Thema war Montaigne, der dazu schreibt, um sich selbst bei sich aufzunehmen, um mit sich selbst allein zu sein – darauf muss man sich vorbereiten. Und wie bereitet man sich darauf vor? Indem man lernt, sich selbst zu regieren – se gouverner soi-même, schreibt er. Man kann in der Einsamkeit ebenso scheitern wie in der Gesellschaft, sagt ebenfalls Montaigne. Also das ist ein langer Weg, man muss wissen, wie man mit sich selbst umgeht, also man kann nicht unfreiwillig gezwungenermaßen aus irgendwelchen äußeren Umständen oder aus seiner persönlichen Verfasstheit in Einsamkeit geworfen werden, sondern es ist praktisch ein Sich-an-sich-selbst-Herantasten und Sich-selbst-Kennen und dann mit dieser Einsamkeit leben.

Müller: Weil es sonst gefährlich werden könnte, weil es fast schon ungesund werden könnte, weil Depression vielleicht sogar Wahn aus ihr entstehen könnte?

Hanimann: Ja, das ginge dann weiter. Einsamkeit als das große Loch, als das schwarze Loch, in dem man versinken kann. Also die Psychologie und auch ein Stück weit die Psychoanalyse hat sich ja da sehr weit und breit ausgelassen dazu, Einsamkeit als Bedrücktheit, als Depression, wo im Grunde diese Gestimmtheit – wenn ich vorher von Schmerz und Wonne, dieser Verbindung, sprach, dann ist das eine Gestimmtheit, Einsamkeit, dieses süßes, bittere Gefühl, da zu sein, allein da zu sein, aber so ganz doch wieder nicht allein, weil man ja mit sich selbst ist. Also es gibt Situationen, wo diese Gestimmtheit plötzlich nicht mehr stimmt, also wo man wirklich in die Indifferenz, in die Leere der Welt stürzt, ins nichts. Und auch da haben die, sogar gerade die Romantiker, die ja Tendenz hatten, die Einsamkeit zu idealisieren – einige Romantiker haben das sehr klar erkannt. Also Ludwig Tieck zum Beispiel sagte in einem Gedicht mit dem Titel "Einsamkeit": Also solange wir Schmerzen fühlen, solange wir eine gewisse Trauer, eine gewisse Sehnsucht fühlen in unserer Einsamkeit, dann haben wir danach einen Freund, nämlich unsere Tränen. Aber es gibt Situationen, wo wir nicht mal mehr das fühlen, also wo wir in der absoluten Indifferenz sind, und dann wird es schlimm.

Müller: Im Deutschlandradio Kultur spreche ich mit dem Publizisten und Philosophen Josef Hanimann über die Einsamkeit, und wir sprechen jetzt an Weihnachten von Einsamkeit. Und obwohl das traute, hochheilige Paar im Stalle einsam wachte, ist es eigentlich ja nicht opportun, die Einsamkeit zu thematisieren. Das war nicht immer so, das haben wir schon gehört. Seit wann ist der Begriff so negativ behaftet? Mit dem Aufkommen der Psychologie, wie Sie es eben angedeutet haben?

Hanimann: Nein, ich glaube, das beginnt schon früher. Also im Mittelalter war es eher ausgeblendet als negativ besetzt, würde ich sagen. Aber dann die Negativbesetzung war spürbar im 17., 18. Jahrhundert, denn es gab die Einsamkeit sagen wir als Resignation. Also da war Einsamkeit eher negativ besetzt. Man tat so zumindest, als ob man tätig wäre. Und die Einsamkeit als Resignation kann auch im Spiegel der Natur, der Naturerfahrungen erscheinen. Also man geht hinaus in die Natur und sieht sich von aller Welt verlassen in dieser zwar verlockenden, aber eben auch leeren Natur. Und dann gab es später, dann in der Erfahrung der Moderne, der Beschleunigung aller Dinge kam die Negativbesetzung dann auch wieder zur Wende hin, 19., 20. Jahrhundert, wo alles schnell gehen sollte, wo alles intensiv passieren sollte, wo man immer drei Dinge zugleich tun möchte und wo, das weiß ich selbst, allein stehen natürlich dann überhaupt nicht mehr ins Konzept passte.

Müller: Wie kann man denn aber nun aus Einsamkeit Kraft schöpfen, wie kann sie Quelle von Neuem sein? Montaigne haben Sie eben zitiert, der sagt, das Sich-selbst-Regieren, das ist schon mal etwas, das ist sicherlich ein richtiger Schritt zum autonomen Menschen hin. Aber wie kann man in ihr nicht versinken, sondern gestärkt zurückkommen aus der Einsamkeit?

Hanimann: Ich denke, also man soll zum Beispiel ganz konkret mit ihr umgehen. Man soll, jetzt, wenn wir an einen Tagesablauf denken, sagen wir, wir sind allein, ich bin allein den ganzen Tag, was uns allen mal wieder passiert, dann soll dieser Tag eine Form haben, also indem man, indem, wenn sich die Einsamkeit etwas depressiv, in Form von Langeweile zum Beispiel meldet, soll man ihr sagen: Na ja, na ja, also in zwei Stunden machen wir einen Spaziergang oder in zwei Stunden hören wir Musik oder was weiß ich. Also der Tag soll einen gewissen Ablauf haben. Und ich glaube, dann wird die Einsamkeit das, als was sie bei vielen Dichtern immer wieder präsentiert wird, eine Freundin. Man trifft sich praktisch mit seiner eigenen Einsamkeit für einen Spaziergang oder für eine andere Aktivität und lässt sie dann wieder vorübergehend, aber eben nur vorübergehend allein. Also ein Hin und Her gegenüber dieser Einsamkeit, ein Gespräch – man führt ein Gespräch im Grunde mit ihr. Das wäre, denke ich, eine Möglichkeit, sie produktiv, kreativ, vielleicht eher kreativ als produktiv zu machen.

Müller: Wäre das auch ein Ratschlag für Menschen, die heute Abend nicht unbedingt freiwillig einsam sind?

Hanimann: Würde ich schon denken, also dass man diesem Abend eine Form, eine Gestalt gibt und ein Rendezvous mit seiner Einsamkeit hat, mit den verschiedenen Phasen, die dazugehören, also mit dem Begrüßen, mit dem Austausch und mit der Verabschiedung. Weil die Einsamkeit wird sich ja auch wieder verabschieden, irgendwann wird ein Besuch nicht von innen, praktisch mit der Einsamkeit kommen, sondern irgendwann wird ein Besuch von außen auch kommen. Also die Einsamkeit ist eine Partnerin, eine im Grunde sehr gefügige Partnerin – man muss nur nett mit ihr umgehen. Man soll ihr nicht allzu deprimiert und auch nicht allzu böse ins Gesicht schauen, sondern man soll sie kommen lassen und dann auch wieder gehen lassen.

Müller: Sie leben in Paris, wie werden Sie den heutigen Abend verbringen, den Heiligen Abend?

Hanimann: Bei mir ist's ein bisschen das, was Sie am Anfang gesagt haben, bei mir ist's freiwillige Einsamkeit. Meine Familie fährt nach Nordafrika, wo eine Wurzel von ihr verankert ist, tief verankert. Und ich werde wahrscheinlich Musik machen, werde ein bisschen lesen, bisschen spazieren gehen und werde dann meine Familie, wenn sie zurückkommt, freudig begrüßen – das ist beinah schon eine Tradition.

Müller: Sagt der Publizist und Philosoph Josef Hanimann. Mit ihm sprach ich hier im Deutschlandradio Kultur über die Einsamkeit. Vielen Dank!

Hanimann: Ich danke Ihnen!