Ohne Heimat

30.04.2010
In seinem Roman "Zurückkehren" versetzt sich der im Maghreb geborene Schriftsteller Tahar Ben Jelloun in die Rolle eines Familienvaters, der nach Frankreich emigriert ist. Seine Gedanken kreisen unentwegt um die Entfremdung der Kinder vom Elternhaus.
Als junger Mann hat Tahar Ben Jelloun eine Hadsch nach Mekka gemacht und in einem Zeitungsartikel die Rücksichtslosigkeit mancher Pilger rund um die Kaaba und die Schlampigkeit der Saudis angeklagt. Diese intervenierten damals und verlangten vom marokkanischen Königshaus, es möge den Vater des Schreibers auffordern, seinen Sohn besser zu erziehen und ihm Schmähartikel zu verbieten. Der Sohn aber lebte längst in Frankreich. Jetzt lässt Ben Jelloun den Rentner Mohammed, der in einer Pariser Vorortbehausung auf einem Kunststoffteppich das Gebet verrichtet und die Rückkehr nach Marokko plant, über die barbarische Inbrunst mancher muslimischer Glaubensbrüder sinnieren. Er streift die Kluft zwischen den Einwanderern der ersten Generation und deren sozial gestrandeten Nachkommen, die sich im Namen des Islam politisch radikalisieren.

Ben Jelloun schreibt aus der Perspektive eines ungebildeten fünffachen Familienvaters, der 40 Jahre hart in einer Fabrik gearbeitet und nur für den Sonntag gelebt hat, an dem er andere Einwanderer in der Moschee und dann zum Dominospielen im Café traf. Seine Gedanken kreisen unentwegt um die Entfremdung der Kinder vom Elternhaus. Diese lassen sich einbürgern, sie heiraten christliche Partner, sie haben kein Interesse daran, ihren Jahresurlaub in dem abgelegenen, strom- und wasserlosen Wüstendorf zu verbringen, aus dem ihr Vater stammt. Ben Jelloun denunziert weder das "Sippe bleibt Sippe"-Denken seines Protagonisten noch das Lob auf die Schweigsamkeit und das sich Klammern an Umgangsregeln, die alle Affekte kaschieren. Das Drama des entwurzelten, resignierten Arbeiters aber macht er so wirkungsvoll sichtbar, denn klar ist: Ben Jelloun hält die Immigration für ein Unglück.

Ein Mensch versinkt wider Willen in dem selbstgerechten Gefühl, das Opfer der eigenen Kinder geworden zu sein und kann doch mit keinem Wort glaubhaft ausdrücken, warum das Leben in Marokko besser sein soll als in Frankreich. Kleine Einsprengsel über die Stigmatisierung Behinderter in Marokko wie den offenen Rassismus gegenüber Schwarzafrikanern verkehren sich in Argumente für das Streben der Kinder nach Einbürgerung in Frankreich.

Mit nichts als dem Koran im Gepäck - "eingeschlagen in weißes Leinen, ein Rest des Leichentuchs, in dem sein Vater beigesetzt worden war" - hatte Ben Jellouns Protagonist Marokko 1962 verlassen, und zum Sterben kehrt er zurück ins Dorf. Mohammed versinkt im "Brunnen der Kindheit", und nach 40 Tagen der Meditation ist auch sein Körper in die Erde eingesunken.

Tahar Ben Jelloun, geübt im Verfassen atemloser Monologe, die individuelles wie gesellschaftliches Versagen attackieren, ersinnt in "Zurückkehren" eine wundersame Wende. Ganz so, als gelte es die Wunden eines resignierten Lebens zu besänftigen. Mohammeds Leichnam verströmt paradiesischen Duft und die Dörfler, die erst nach dem Tod des unglücklichen Heimkehrers Erbarmen mit ihm haben, erklären ihn zum Heiligen. Auch das ein Bild großer Verlassenheit, und keine Klage, nirgends.

Besprochen von Sigrid Brinkmann

Tahar Ben Jelloun: Zurückkehren
Aus dem Französischen von Christiane Kayser
Berlin Verlag, Berlin 2010
142 Seiten, 22 Euro