Okkultismus contra Aufklärung

Matthias Eckoldt |
Erst Mitte des 19. Jahrhunderts kam der Okkultismus als Gegenbewegung zur Aufklärung und der mit ihr verbundenen mechanistischen und materialistischen Naturwissenschaft auf. Er setzte auf die verborgenen Kräfte, die der "normalen" Wissenschaft unzugänglich sein sollten. Und er traf die Wissenschaften an den wunden Punkten, nämlich dort, wo sie selbst vergeblich nach Antworten suchten.
So wurde immer wieder darüber spekuliert, dass alles in der Welt auf nur eine okkulte Kraft zurückgeführt werden könnte. So einfach und "mühelos" erklärt, war den Poltergeistern und Wunderheilern, den vibrierenden Tischen und symbolträchtigen Kornkreisen eine steile Karriere beschieden. Bis heute, wo esoterische Titel Millionenauflagen erreichen.

Kartenlegerin: "Ich mische die Karten, und Sie sagen bitte Stopp! Was ich als erstes hier erkennen kann ist, dass Sie ein Mensch sind, der zeitlebens lernt. Der gerne lernt, gerne den Menschen hilft. Ist das korrekt?"

Die Welt ist größer, reicher und zugleich widersprüchlicher, als es uns das moderne aufgeklärt-wissenschaftliche Zeitalter suggeriert. Diese These steht hinter allen okkulten Bemühungen, die sich an der – vor allem abendländischen – Rationalität abarbeiten.

Zugleich haben okkulte Praktiken einen hohen Trostfaktor in Zeiten, in denen die kirchlichen Institutionen nicht mehr fürs Seelenheil bürgen können. Bei der Kartenlegerin erfährt man nichts erschütternd Negatives. Und man kann sich recht gelassen auf eines der größten Abenteuer einlassen: Den Blick in die eigene Zukunft.

Kartenlegerin: "Ich sehe aber auch, dass Sie vom Kopf her ein bisschen blockiert sind. Aber diese Blockade, meine ich, die geht bald weg. ... Das heißt, es sind Probleme, die kommen, hervorgerufen durch Gedanken. Die Eulen stehen auch für die Gedanken. Das ist Ihre innere Haltung. Und Sie haben alles Potenzial, dass es positiv gehen kann. ... Die Sorgen ziehen ab. Sie haben die Glücksseite zu sich gewandt. Die dunklen Gewitterwolken, die ziehen einfach ab."

Okkultismus leitet sich vom lateinischen occultus ab, was soviel heißt wie:

"verborgen, verdeckt, geheim"

Im Mittelalter bezeichnet man jene Kräfte und Eigenschaften als okkult, die nicht unmittelbar wahrnehmbar sind. Also jene Phänomene, die unterhalb des Sinnlichen wirken wie Magnetismus oder nicht substanzgebundene Heilkräfte.

Diese Einteilung geht noch auf die Alten Griechen, namentlich auf Aristoteles zurück. Die eigentliche Karriere des Begriffs Okkultismus jedoch beginnt in Europa ausgerechnet mit dem Aufstieg der Naturwissenschaften und dem Siegeszug der Aufklärung.

"Okkultismus wäre ... die weltanschauliche Deutung, die davon ausgeht, dass es eine geistige und eine materielle Welt gibt, und dass diese Welt durchzogen ist von geheimnisvollen Kräften, die man sich nutzbar machen und entsprechend einsetzen kann."

Der Theologe Matthias Pöhlmann beschäftigt sich als Mitarbeiter der evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen mit Theorie und Praxis des Okkultismus.

"Der Begriff Okkultismus drückt ja schon aus, dass es hier um eine einheitliche Weltanschauung geht – also die Endung 'ismus'. ... Im 19. Jahrhundert spielt es insofern eine Rolle, als da der Begriff zum ersten Mal auftaucht – Okkultismus. Und der Okkultismus setzt sich natürlich aus verschiedenen Bausteinen zusammen, die es in der Menschheitsgeschichte schon immer gegeben hat. Thema Magie. Die Hoffnung des Menschen über bestimmte Gegenstände, über bestimmte Zauberformeln Einfluss zu nehmen, Effekte zu erzielen. ... Das muss man natürlich vor dem 19. Jahrhundert sehen. ... Manche sprechen auch von der Schattenseite der Aufklärung. Das heißt, dass es offensichtlich aufgrund der Überbetonung des Vernunftglaubens auch eine Gegenbewegung gegeben hat, eine Protestbewegung, die davon ausging: Es muss noch Geheimnisse in dieser Welt geben, zu denen der Mensch zunächst einmal keinen Zugang hat, aber dass es Mittel und Wege gibt, diese zu erschließen."

Sabine Doering-Manteuffel, Professorin für Europäische Volkskunde an der Universität Augsburg, sieht die Entstehung des Okkultismus im Zusammenhang mit der großen Medienrevolution des Buchdrucks:

"Je heller das Licht, umso dunkler der Schatten. Das versteht man natürlich erst, wenn man den Zusammenhang mit dem Buchdruck sucht. Der Buchdruck ... ist ja ein Streben zum Licht der Erkenntnis. Man assoziiert normalerweise diese frühe Druckgeschichte mit dem Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit – wie Kant das im 18. Jahrhundert formuliert hat. ... Das heißt, das Streben zum Licht bedeutet natürlich auch Bildung für alle. Und die bezieht man aus den Büchern. Vorher war Bildung in einem so breiten Maße ja gar nicht möglich. Meine These geht nun dahin, dass vor allem im 18. Jahrhundert – dem sogenannten tintenklecksenden Säkulum - ... sehr viel gedruckt wurde, und eben nicht nur Gelehrtes, ... sondern tatsächlich auch eine ganze Reihe anderer Gattungen. Zum Beispiel Zauberbücher, Flugschriften, Jahrmarktszettel, Schicksalsvorhersagen, Planetenbücher, Astrologisches, medizinische Traktate, Hausbücher mit magischen Anhängen und so weiter."

Eine solche Flugschrift anonymer Provenienz aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts beschäftigt sich beispielsweise mit der Frage, auf welche Weise man am besten die Krone der Frösche bekommen kann...

"... und wozu diese Krone von Nutzen ist."

"Die Frösche haben auch einen König, dessen Krone schwarz und weiß ist. Diese soll man auf folgende Art erlangen können: Im August wirft man in eine Pfütze, wo die Menge derer Frösche zu sein pflegen, einen Schlauch. So sammeln sich alle Frösche um denselbigen und der König mit der Krone oben über alle andere. Da soll man eine gute Armbrust mit einem subtilen Pfeile haben, und den König damit schießen. Seine Krone soll dem Vorgeben nach dienen, die Schätze zu entdecken, die Hexen zu erkennen, und dem Gift zu widerstreben."

Dass mit solchen Texten und Praktiken auch nach Kants großem Sapere aude – zu Deutsch: "Wage es verständig zu sein!" – nicht Schluss ist, liegt vielleicht an der eigentümlichen Dialektik von Verdrängung und Wiederkehr des Verdrängten.

Gegen das dunkle, abergläubige, frömmelnde und obrigkeitshörige Mittelalter setzt die Aufklärung das Licht der Vernunft. Der Mensch wird wieder als das Vernunftswesen angesehen, als das er unter der griechischen Sonne der vorchristlichen Jahrhunderte firmiert. Für Sokrates, Platon und Aristoteles bewegt sich der Mensch inmitten des Logos. Sie wähnen ihn von Rationalität umgeben.

Der Mensch gilt damals noch nicht als von Trieben, uneingestandenen Wünschen und Obsessionen beherrscht, sondern wird als ein zur Vernunft hin ausgerichtetes Wesen gesehen. Der Logos ist stärker als die Leidenschaften. Dementsprechend leidet für die Hellenen der Unglückliche auch an einem zu hohen Maß von Unwissen. Glück hingegen ist das Kriterium für ein anverwandeltes Wissen, für den Grad der Abstreifung von Täuschung und Schein.

Ähnlich hell nun ist das Konzept der Aufklärung. Sowohl die kirchliche Deutungshoheit, als auch die absolutistische Macht wird seit dem 17. Jahrhundert demontiert. Einziger Herrscher soll nunmehr die Vernunft sein. Kant schreibt,

"dass bei nächtlichen Schatten oftmals der Wahn die Sinne betrog, und aus zweideutigen Gestalten Blendwerke schuf, die der vorhergehenden Meinung gemäß waren, woraus endlich die Philosophen Anlass nahmen, die Vernunftidee von Geistern auszudenken und sie in Lehrverfassung zu bringen."

Leitbild der Epoche ist die Naturwissenschaft. Kausalität, präzise Begrifflichkeiten und Definitionen sollen die Welt regieren. Der Wirklichkeit wird gleichsam unterstellt, dass sie den Kriterien naturwissenschaftlichen Forschens entspricht. Die Zeiten des Aberglaubens und der Magie sollen vorbei sein.

Doch spätestens nach zwei Jahrhunderten Aufklärung meldet sich das Verdrängte mit Macht zurück. Denn die Zeitdiagnose ist konträr zu der der Aufklärung: Die Wirklichkeit zeigt eher ihre chaotischen als ihre vernunftgeleiteten Züge, und der Mensch fühlt sich mehr von irrationalen Trieben als von aufgeklärten Ideen beherrscht.

Die unterdrückte Nachtseite des Menschen bricht sich im 19. Jahrhundert Bahn. Und es wird gependelt, Gläser gerückt, mit Verstorbenen Kontakt aufgenommen, Wünschelruten kommen zum Einsatz, die Astrologie erlebt eine Hochkonjunktur ebenso wie Geister, Hexen und Spuk aller Art. Nicht zu vergessen natürlich das Kartenlegen.

Dabei sind es vor allem die gehobeneren Schichten, die sich für das Okkulte interessieren. Als im März 1903 die Spiritistin Anna Rothe wegen Betrugs in 56 Fällen vor Gericht steht, liest sich die Zeugenliste wie ein How-is-How der damaligen Zeit:

"Eine illustre Schar ehemaliger Kunden hatte Abenteurliches zu Protokoll gegeben: etwa Frau Rittergutesbesitzerin Solbrig, der ihr Schwager, Kommerzienrat Rösler, aus dem Jenseits erschienen war und erzählte, dass er jetzt in der kältesten Polarregion wohne und dringend einen Überzieher brauche, dann eine Fürstin Karatschka, eine Gräfin Moltke, der Magnetograph Carl Groll, Schneidermeister Toron, der Reichstagsabgeordnete und Hofprediger a.D. Stöcker sowie Generalleutnant von Zastrow mit mehreren Offizieren."

Nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich der Zuspruch fürs Okkulte demokratisiert. Das Interesse an übernatürlichen Phänomenen geht quer durch alle sozialen Schichten. Der Zuspruch in unseren Tagen ist enorm. Beispielsweise glaubt nach einer statistischen Untersuchung heute jeder zweite Bürger der Bundesrepublik, dass die Sterne auf irgendeine Weise das Schicksal beeinflussen.

Kartenlegerin: "Des Weiteren sehe ich hier, dass Sie eine sehr stabile Beziehung haben, dass Sie eine Frau haben, mit der sie fürs Leben verbunden sind. Dass es Probleme überall mal gibt, ist natürlich, aber dadurch, dass das hier so liegt, ist es einfach eine Einrichtung: Über dieser Partnerschaft steht die Sonne!"

Im Zuge der Aufklärung und dem damit verbundenen Abbau der kirchlichen Autorität gewinnt auch die Frage zentrale Bedeutung, was nun mit den Toten nach ihrem Verscheiden geschieht. Die Antwort der Naturwissenschaft ist ebenso einfach wie unbefriedigend:

Der Geist wird als Integration der Körperfunktion verstanden und somit stirbt auch die Seele, wenn die Zellen ihren Dienst quittieren.

Hin ist hin und weg ist weg.

Auch gegen dieses kalte Schulterzucken gegenüber dem Wertvollsten, das ein Mensch besitzt, löckt der Okkultismus wider den Stachel.

Pöhlmann: "Das entscheidende Jahr 1848. ... In den USA kommt es in diesem Jahr zu merkwürdigen Klopflauten im Haus der Farmers John Fox. Die Töchter sind davon überzeugt, dass sie es mit einem Geist eines Verstorbenen, eines Ermordeten im Haus zu tun haben. Und sie gehen dazu über, in Kontakt zu treten mit diesem Verstorbenen. Und innerhalb kurzer Zeit entwickelt sich so etwas wie eine spiritistische Erweckung in den USA in den 1850er-Jahren. Und zeitversetzt kam das natürlich auch nach Deutschland."

Das Medium sitzt am Rande eines geschlossenen Kreises, am Stirnpunkt. Nach einem meist lockeren Gespräch untereinander schließt das Medium die Augen, lehnt sich zurück und atmet tief ein und aus. Es versetzt sich in eine spektrale Sphäre, die einem tranceähnlichen Zustand gleich kommt. Nach kurzer Zeit machen sich Veränderungen der Gestik, Mimik und Stimme bemerkbar. Sobald der Kontakt zu einem Geist hergestellt wurde, begrüßt dieser die Gruppe. Es ist nicht selten, dass er erst einmal zu erzählen beginnt. Man kommt teilweise gar nicht dazu, im angefertigten Fragenkatalog nachzuschauen, da man - ohne danach gefragt zu haben - des Öfteren einfach eine Antwort auf eine aufgeschriebene Frage bekommt.

Manteufel: "Das Tischerücken ist bekannt vor allen Dingen. Es gab im 19. Jahrhundert eine echte Tischrückmanie, eine Seuche regelrecht. Ab 1860 in den großen Städten tun sich überall solche Seancen auf, wo sich Menschen zusammenfinden, die den Versuch betreiben, mit ihren verstorbenen Verwandten Kontakt aufzunehmen. Da gibt es zum Beispiel eine Technik Ecriture Automatique – automatisches Schreiben. ... Diese Spiritisten machen es dann so: Es gibt so eine Geisterbuchstabiertafel, so ein Alphabet. Und die Klopfgeräusche, die dann auf den Tisch kommen, die durch ein Medium irgendwie verursacht werden, die werden übersetzt in Buchstaben. Und etwas Unsichtbares führt dann einen Stift und der tippt dann auf diese Geisterbuchstabiertafel drauf und gibt dann Buchstabe für Buchstabe die richtige Antwort. ... Die Leute sind ganz begeistert von dieser Möglichkeit, mit ihren verstorbenen Verwandten in Kontakt zu treten. Es ist regelrecht eine Art Volkssport."

Nun könnte man denken, dass der Okkultist ein eher distanziertes Verhältnis zu Naturwissenschaft und Technik hat. Dem ist aber nicht so. Auch wenn er vom Geiste her die apparative und aufgeklärte Vernunft verurteilt, bedient er sich doch der modernsten Technik.

Der Okkultismus hält Schritt mit den technischen Entwicklungen. Er ist auf der Höhe. So kommt es auch, dass die Kontaktaufnahme im beginnenden Zeitalter von Telegraphie, Radio und Tonband immer effektiver wird.

Noch heute gibt es in Deutschland einen Verein für Tonbandstimmenforschung. Als Transkommunikationsforschung bezeichnen die Mitglieder ihre Arbeit. Transkommunikation wird dabei als Sammelbegriff für alle Methoden der Kontaktaufnahme zu anderen Bewusstseinsbereichen verstanden. Im Fokus stehen hier aber technische Verfahren.

Der Verein beschreibt seine Zielsetzung auf der Homepage so:

"Transkommunikationsforschung ist kein Selbstzweck. Sie will vielmehr der weltanschaulichen, philosophischen und psychologischen Forschung neue Perspektiven eröffnen durch den Nachweis des Fortlebens nach dem Tode."

Um auf elektromagnetische Weise Kontakt zu den Toten herzustellen, braucht man nach Angabe der Betreiber keine besonderen medialen Fähigkeiten. Nur ein handelsübliches Gerät und ein wenig Geduld.

Interessanterweise handelt es sich bei diesen Stimmen oft um intelligente und bezugnehmende Äußerungen, zum Beispiel auf vorher gestellte Fragen. Die ganzen Begleiterscheinungen, die Inhalte der Aussagen, der Stimmcharakter der Sprechenden usw. legen die Vermutung nahe, dass es sich dabei um die Äußerungen von Verstorbenen handelt. Hier könnte also ein wissenschaftlich fundierbarer Beweis für das Weiterleben der Seele nach dem Tode gefunden werden.

Im Okkultismus zu Zeiten der Beherrschung elektromagnetischer Wellen drückt sich das unbedingte Bedürfnis aus, die von den Naturwissenschaften entzauberte Welt wieder zu verzaubern.

Man will die Rufe des Schattenreichs hören – als unwiderlegbaren Beweis dafür, dass die Welt widersprüchlicher und hintergründiger ist, als es die Aufklärung darstellt.

Pöhlmann: "Zunächst mal kann man sagen, dass der Spiritismus ein antimoderner Modernismus ist. Das ist jetzt vielleicht erstmal ein offensichtlicher Widerspruch. Es geht im Prinzip um eine weltanschauliche Deutung, die auch eine Protesthaltung in sich trägt gegen die Rationalität der Wissenschaft. Es geht also im Grunde genommen um eine anitmaterialistische Zielsetzung. Das heißt, man möchte ein Jenseits beweisbar machen. Und dazu nimmt man nun neue Medien und technische Gerätschaften in Gebrauch und versucht das letztendlich beweisen zu wollen, dass es ein Leben nach dem Tod gibt und eine Geisterwelt."

Das Radio liefert den Jenseitsforschern in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein neues Betätigungsfeld. Ihr Hauptaugenmerk richten die Okkultisten jener Jahre auf die Frequenzen zwischen den Sendern.

Das vom Knistern durchsetzte Rauschen wird als der geheimnisvolle Ort der Toten und Geister bestimmt. Besondere Aufmerksamkeit schenken die Toten ihren geneigten Zuhörern bei extremen Wetterlagen.

Pöhlmann: "Man sucht Bereiche, wo das sogenannte weiße Rauschen zu hören ist, wo möglichst wenige oder keine Sender zu hören sind. In diesen Bereichen nimmt man dann eben auf und wertet das am Ende so aus, dass man dann eben auch Anhaltspunkte finden möchte, und man kann das natürlich auch durch Überlagerungen interpretieren. Aber überzeugte Spiritisten ... sind davon überzeugt, hier melden sich verstorbene Wesenheiten aus dem Jenseits, um dann uns Mitteilungen zu überbringen.

Das herkömmliche Medium wie im 19. Jahrhundert ist damit überflüssig. Man nutzt also das neue Medium – sprich das Radiogerät, um diese Botschaften irgendwie aufzufangen. Das ist natürlich auch die ideale Projektionsfläche für individuelle Wünsche und für die Hoffnung, dass es eben Geistermittelungen gibt. Und falls man etwas hört, muss man sagen, sind doch diese Botschaften relativ platt und banal. Kritiker nennen das auch so ein bisschen den Tante-Emmi-Spiritismus. Also die Frage: Geht es dir gut im Jenseits? Und die platte Antwort lautet dann: Ja!"

Während sich die Tonbandstimmenforscher unter den Okkultisten mit den Geistern im Jenseits beschäftigen, kümmern sich die Chiromantinnen um die Gegenwart und nahe Zukunft der irdischen Seelen.

Chiromantie – zusammengesetzt aus dem griechischen "cheir" für Hand und "manteia" für Weissagung - beschreibt die Kunst des Handlesens. Auch diese okkulte Praxis wird von der Aufklärung in die Jahrmarktsbuden vertrieben und meldet sich mit Macht zurück.

Handleserin: "Also bitte beide Hände mal ganz kurz, um mal so reinzugucken. Links ist so tendenziell, was da so los ist, rechts das, was Sie so draus machen in Ihrem Leben. Ja, also die Linien sind jetzt mal von Links zu Rechts verhältnismäßig gleich. Das bedeutet, dass Sie jemand sind, der nicht unbedingt so zerrissen durchs Leben geht.

Ja, das ist hier so die Karrierelinie, die fängt hier an und ist doch ziemlich zielstrebig und so klar orientiert. Also Sie wollen sich nicht hängen lassen, Sie wollen so Ihr Ding schon machen im Beruflichen. Und jetzt nur so Familie leben, ist eigentlich nicht so zu sehen. Wenn Sie das gemacht haben, haben Sie so ein bisschen was gegen sich gemacht."

Okkultismus steht synonym auch für die Begriffe Esoterik und Spiritismus – alle drei eint das Bestreben, die eigentlichen Seinswahrheiten jenseits von Naturwissenschaft und Aufklärung zu suchen. Alle okkulten Praktiken sind eingebettet in eine Metaphysik. Eine Art Fibel des Okkultismus bildet die Geheimlehre von Helena Petrovna Blavatsky. Ihre – später unter anderem von Rudolf Steiner weiterentwickelte – Lehre der Theosophie vereint okkultistische Vorstellungen mit denen der östlichen Religionen. Ziel ist es, eine Art Ur-Religion zu entwickeln.

Durch die Aufdeckung universeller Prinzipien im Lebendigen ebenso wie im Kosmischen wird in der Theosophie eine Versöhnung von Spiritualität und moderner Rationalität angestrebt. Madame Blavatsky geht von der Unsterblichkeit der Seele aus und entwickelt die Idee des sogenannten Astralkörpers, der die irdische Inkarnation der Seele überdauern soll.

Pöhlmann: "Helena Petrovna Blavatzky, eine Deutsch-Russin, die ihre Karriere in einem Spiritisten-Zirkel begonnen hat, dann ausgedehnte Reisen nach Tibet unternommen haben soll, um auch das Wissen der anderen Religionen in den Westen zu bringen. Und sie hat daraus eine Art Synthese entwickelt, ... die Theosophie. ... Das führt natürlich zu einem universalreligiösen Anspruch. Ich glaube, der Erkenntnisanspruch, der hier maßgeblich ist, entspringt einem Bedürfnis nach einer Wiederverzauberung der Welt. Auf der anderen Seite natürlich auch die Suche nach Sicherheiten. Und diese Sicherheiten sucht man vor allem in den Mitteilungen von aufgestiegenen Meistern, wie es die Theosophen sagen, in den Mitteilungen von höheren Bewusstheiten und Intelligenzen."

Verbunden werden solche Spekulationen mit einer elitären Genesis, nach der sich die Menschheit aus sieben sogenannten "Wurzelrassen" entwickelt hat. Sabine Doering-Manteufel schreibt dazu in ihrem Buch "Das Okkulte":

"Was von diesem Weltmodell zurückblieb, waren unter anderem der Zusammenhang von Rasse und Erwähltheit, das spekulative Alter der Menschheit und die Vorstellung der Existenz ätherischer Altvölker in einem anderen Bewusstseinszustand, von denen ausschließlich die Mythen berichten. Der Mensch sei der Ausgangspunkt allen Lebens, aus seinem Stamm sollen sich andere Lebewesen abgezweigt haben. Die Arier stellten seit dem nachatlantischen Zeitalter die hochwertigste Rasse unter den Menschen dar."

Diese Ideen werden von den NS-Ideologen dankbar aufgenommen, weswegen dem Okkultismus bis heute eine gewisse Nähe zum Nationalsozialismus nachgesagt wird.

In unseren Tagen besitzt das Okkulte eine enorme Anziehungskraft. Das zeigt sich nicht zuletzt in dem Run auf esoterische Bücher, astrologische Auskunftsdienste, parapsychologische Anlaufstellen und sogenannte Geistheilungen.

Nach statistischen Erhebungen suchen in Deutschland jährlich knapp drei Millionen Menschen Geistheiler aller couleur auf und geben dafür bis zu sechs Milliarden Euro aus für das Besprechen von Symptomen, für Handauflegen und die Auflösung schwarzmagischer Angriffe, wie für Trancearbeit und energetisches Heilen.

Die extensive Zerstörung natürlicher Ressourcen und Lebensräume in unseren Tagen spielt sicherlich der Sehnsucht des Einzelnen nach einer Rückkehr zu einer friedvollen Ganzheit und einer Akzeptanz einer kosmischen Ordnung voll in den Lauf.

Das okkulte Wissen und die entsprechenden Praktiken suggerieren in solchen Zeiten, ein ganzes Arsenal wichtiger Schlüssel zu den verborgenen Weltgesetzen in Händen zu halten. Getragen von dem durch Naturwissenschaft und Aufklärung angefeindeten tiefen Glauben daran, dass das, was man sehen und beweisen kann, nur die Oberfläche einer im Grunde rätselhaften Welt ist.

Während das Christentum weiter an Autorität verliert, steht der Okkultismus in einer Situation der Bedürftigkeit nach höheren Werten auch als Patchwork-Glauben ungebrochen zur Verfügung:

Manteufel: "Das Christentum orientiert sich ja an einer Heiligen Schrift. ... Da scheint es Probleme gegeben zu haben ... in der Beantwortung von offenen Fragen, die dieses technisch-rationale Weltbild und die Industriemoderne erzeugt haben. Als ob man aus dieser Heiligen Schrift nicht unbedingt mehr Antworten generieren konnte, die einem da Hoffnung vermitteln. Wir erleben ja auch die ... Globalisierung. Das heißt, dass sich die Weltgesellschaft nicht mehr so abgeschottet geben kann. ... Und das Ganze ist auch etwas Atomisiertes. Man nimmt sich heute Partikel und Bausteine raus. Wir leben in einer Welt, wo sich Weltbilder aus verschiedenen Bausteinen zusammensetzen, ... um sich selber als Individuum Erklärungen abzugeben."

Der Einzelne wird mit seiner Erklärungsnot heute weitgehend allein gelassen. Dies öffnet Okkultisten, Schwarzmagiern und Verschwörungstheoretikern Tür und Tor zur orientierungslos gewordenen Einzelseele.

Seit kurzem kursiert in okkulten, esoterischen Kreisen immer wieder ein mythisches Datum: Der alte Maya-Kalender sagt nämlich für den Achsentag 13.0.0.0.0 den Untergang der Welt voraus! Wenn man die Zählweise der Maya auf unseren gregorianischen Kalender umlegt, droht das Weltenende genau am 21. Dezember 2012.

Wie das Ende aussieht, darüber herrscht weitgehend Uneinigkeit. Droht für diesen Tag ein Sonnen-Tsunami, der hochenergetische Röntgenstrahlung auf die Erde zutreibt oder ist es mit einer erneuten Weltwirtschaftskrise getan?

Die moderne Apokalyptik lehnt sich interessanterweise an die christliche Denkfigur an. In der Bibel steht Apokalypse nicht einfach für Zerstörung und Untergang, sondern für die Enthüllung. Für die Offenbarung des Wunderbaren. Ähnlich im modernen Okkultismus:

"Nach dem Maya-Kalender leben wir heute in einer Endzeit. Nach dem Konzept der Maya von Zyklen und Zeitübergängen bedeutet dieses Ende gleichzeitig einen Neuanfang. Tatsächlich wurde dieser Übergang von den alten Maya als das Entstehen eines neuen Weltzeitalters angesehen. Am Ende jedes Zeitalters steht eine Neugeburt","

so schreibt der 1948 in Ungarn geborene Philosoph und Vorsitzende der "Schweizer Metaphysischen Gesellschaft" Tibor Zelikovic in seinem Buch "Zeitenwende 2012". Für den Okkultismus besteht die von ihm ausgerufene Neugeburt im Sieg des Magischen über das Kausale, des Kosmischen über das Materialistische, des Rätsels über die Gewissheit, des Schattens über das Licht – kurz im Sieg des Okkultismus über die Aufklärung.

In der Rückschau auf die letzten beiden Jahrhunderte steht allerdings zu vermuten, dass weder der Okkultismus, noch die Aufklärung einen Sieg davonträgt, sondern diese beiden Pole menschlicher Weltaneignung als Kontrahenten erhalten bleiben werden. Jedes Licht wirft seine Schatten – aber ohne Licht gibt es auch den Schatten nicht.

Handleserin: ""Dann schauen wir mal weiter. Dann Ihre Lebenslinie: Wow! Die geht ja richtig weit rum. Sind Ihre Großeltern sehr, sehr alt geworden? Bei Ihnen kann es ja bis an die hundert rangehen! Das ist schon ganz ordentlich!"