"1917 steht in der Reihe von 1789"
Der Gewalt habe die Oktoberrevolution nicht entkommen können, sagt Jörg Morré, der Leiter des Deutsch-Russischen Museums in Berlin. Mit einem angemessenen Gedenken an die Ereignisse vor 100 Jahren tue sich das heutige Russland schwer.
Zum 100. Jubiläum der Oktoberrevolution hat der Direktor des Deutsch-Russischen Museums in Karlshorst, Jörg Morré, betont, dass dieses historische Datum lange für eine Zäsur stand. "Damals war es der Beginn der Zeitgeschichte", sagte Morré. "Gut, das hat sich ein bisschen verschoben, aber im Grunde steht 1917 in der Reihe von 1789, der Französischen Revolution."
Die Schwierigkeiten der russischen Regierung mit diesem Datum angemessen umzugehen, hätten vor allem mit der aktuellen Politik zu tun. Morré beschrieb den Zarenkult der heutigen Kreml-Führung so: "An der Stelle, an der die Zarenfamilie erschossen wurde, in Jekaterinburg, hat man eine Riesenkirche gebaut, Putin ist permanent in orthodoxen Kirchen zu sehen."
Es gebe einen Versuch, die Russische Revolution nur als eine kleine Erhebung zu interpretieren und im Kontext der jahrhundertalten Geschichte Russlands zu sehen. "Und dann denkt man in Dynastien, wenn man so will auch in der der Romanows, ohne dass man jetzt die Zarenfamilie wieder an die Macht kommen lassen will, aber es ist dann im Grunde das große russländische Reich, das sich jetzt heute wieder fortsetzt, das wieder zu einer Stärke gekommen ist."
Das Interview im Wortlaut:
Dieter Kassel: Das Jahr 1917 war ein entscheidendes für ganz Europa. Es begann natürlich alles schon mit der Februarrevolution, die war vor allen Dingen für Russland alles andere als unbedeutend, denn damit begann natürlich alles, was danach passierte, damit, dass das Zarenreich durch diese Februarrevolution zu Ende ging, die Herrschaft der Zaren abgeschafft wurde.
Aber die richtigen Umwälzungen, die eben dann auch viel mehr Länder noch betrafen als Russland allein, die begannen vor exakt 100 Jahren, denn am 7. Oktober 1917 nach unserem Kalender begann die Oktoberrevolution. Sie ist deshalb heute eines der Themen des Tages hier in Deutschland, im heutigen Russland aber wird dieser Jahrestag nur relativ verhalten begangen. Das war zu Zeiten der UdSSR noch ganz anders. Wir wollen darüber jetzt mit Dr. Jörg Morré reden. Er ist seit acht Jahren der Direktor des Deutsch-Russischen Museums in Berlin-Karlshorst. Einen schönen guten Morgen, Herr Morré!
Jörg Morré: Ja, guten Morgen, Herr Kassel!
Kassel: Wenn man sich so wie Sie eigentlich sein ganzes Erwachsenenleben zumindest über mit der Sowjetunion und mit Russland und mit Deutschland beschäftigt hat, ist das für Sie eigentlich heute in irgendeiner Form wirklich ein besonderer Tag?
Morré: Wenn ich ehrlich bin, gar nicht mal so. Ich habe jede Menge Bezüge zu diesem Datum, auch durch mein Haus natürlich. Aber na ja, es ist eine Zäsur verloren gegangen. Ich habe in den 80er-Jahren angefangen, Geschichte zu studieren, da war 1917 natürlich das Datum. Das ist weg. Aber davon habe ich mich schon seit Längerem verabschiedet.
Kassel: Das scheint ja das heutige Russland auch getan zu haben. Muss man nach 100 Jahren wirklich sagen, so bedeutend war das doch nicht, was damals begann?
Morré: Oh, das stimmt überhaupt nicht, das war sehr bedeutend. Das, was wir heute in Russland erleben, diese Leerstelle … Oder so leer ist die gar nicht, aber es ist sozusagen nicht das prägnante Ereignis und das Event, was wir erwarten. Das hat einfach viel mit der aktuellen Politik zu tun, das hat viel mit dem Untergang der Sowjetunion zu tun und hat leider ganz wenig mit der geschichtlichen Einordnung und geschichtlichen Erforschung zu tun.
1917 ist tatsächlich ein großes Ereignis und die Zäsur in meinem Studium hat es durchaus verdient, eine Zäsur zu sein. Damals war es der Beginn der Zeitgeschichte. Gut, das hat sich ein bisschen verschoben, aber im Grunde steht 1917 in der Reihe von 1789, der Französischen Revolution.
Alle schauten nach Moskau
Kassel: Auch doch sicherlich in dem Sinne – das, glaube ich, gilt sogar für die Oktoberrevolution noch stärker als für die Französische Revolution –, dass diese Revolution ja nicht nur Russland verändert hat, sondern eigentlich ganz Europa.
Morré: Richtig. Das war der Impuls. Vielleicht hätte das keiner erwartet, dass der gerade aus Russland kommt, aber natürlich haben die ganzen Arbeiterbewegungen im ausgehenden 19. Jahrhundert, die sich formiert haben, nach Moskau geguckt. Und gerade in Deutschland hat sich natürlich die deutsche Kommunistische Partei, die sich dann gründete, natürlich da dranhängen wollen. Wir werden nächstes Jahr viel wahrscheinlich über 1919 reden in Deutschland, aber auch in Großbritannien, USA, Frankreich, Italien, natürlich, die guckten alle nach Moskau.
Kassel: Wenn man heute zurückblickt als Historiker und die Abläufe … Ich fasse die mal sehr vereinfachend in nur zwei, drei Schritten zusammen: eine Oktoberrevolution, die erst mal friedlich begann, die für viele Menschen, gerade natürlich die Arbeiterklasse, um die es ging, eine große Hoffnung darstellte und die dann doch so relativ schnell umschwang zunächst in Gewalt und dann ganz bald auch in die stalinistische Diktatur … Wenn man zurückblickt, hätte es wirklich anders kommen können?
Morré: Da bin ich mir nicht so sicher. Denn eine Sache haben ja die letzten Jahre doch ergeben: Der Erste Weltkrieg als Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, der auch ganz Europa betraf … Also es ist ein unheimlich gewaltaufgeladener Großraum, wie wir jetzt so gerne sagen. Gewalt durch den Krieg war schon mal a) etabliert, b) gibt es den Bürgerkrieg von mindestens vier Jahren, egal wie man ihn jetzt periodisiert, weil natürlich die Gegenseite nicht friedlich einstimmt und sagt, na ja, dann habt ihr eben gewonnen, eigentlich ein normaler Prozess bei Revolutionen. Und es ist eine Riesenwelle der Enteignung, da gibt es eine enorme Vermögensverschiebung, so was wird nicht klaglos hingenommen. Also Gewalt, denke ich, dem konnte man nicht entkommen.
Schock nach dem Ende der Sowjetunion
Kassel: Ist das, um darauf wieder zurückzukommen, einer der Gründe, warum der Umgang mit diesem Jahrestag im heutigen Russland so ambivalent, für viele so schwierig ist?
Morré: Das glaube ich weniger. Das hat mehr damit zu tun, dass der Schock des Auseinanderbrechens der Sowjetunion mit all seinen Begleitumständen – also der beginnenden Perestroika, dem Niedergang des sozialistischen Systems, dann der Leere, dem wirtschaftlichen freien Fall in den 90er-Jahren – noch nicht verwunden ist. Und man sucht nach Erklärungen. Und ein zweites Phänomen in Russland: Diese Erklärung erwartet man im Grunde von der Staatsführung, von oben sozusagen. Und dann bekommt man sie.
Kassel: Ist es nicht auch ein bisschen schwierig … Ich glaube, wir vergessen in Deutschland oft, wenn wir über die Oktoberrevolution reden, die Februarrevolution. Ohne die eine hätte es die andere wahrscheinlich nicht gegeben, und die Februarrevolution hat im Kern ja das Zarenreich abgeschafft. Und im heutigen Russland sieht man doch – ich sage es mal ganz vorsichtig – die Zarenzeit bei Weitem nicht mehr so kritisch, wie das zu UdSSR-Zeiten war.
Morré: Das müssen Sie gar nicht vorsichtig sagen, der Zar ist von der orthodoxen Kirche heiliggesprochen worden. An der Stelle, an der die Zarenfamilie erschossen wurde, in Jekaterinburg, hat man eine Riesenkirche gebaut, Putin ist permanent in orthodoxen Kirchen zu sehen. Also das läuft alles wieder zusammen. Ja, das ist ja auch der Versuch der Interpretation, die Russische Revolution als eine kleine Erhebung, aber in der jahrhundertealten Geschichte Russlands zu sehen.
Und dann denkt man in Dynastien, wenn man so will auch in der der Romanows, ohne dass man jetzt die Zarenfamilie wieder an die Macht kommen lassen will, aber es ist dann im Grunde das große russländische Reich, das sich jetzt heute wieder fortsetzt, das wieder zu einer Stärke gekommen ist. Also diese ganzen positiven Aspekte, die ein Stück weit mit 1917 auch verloren gehen, die versucht man wieder aufleben zu lassen. Und deswegen muss diese Zäsur von 1917 auch weg.
Kassel: Ich würde jetzt am liebsten zum Ende unseres Gesprächs sagen, ich bin sehr gespannt, wie wir uns zum 150. Jahrestag darüber unterhalten, aber ich glaube, da setzt nicht die historische Forschung, sondern die Biologie uns beiden möglicherweise Grenzen. Ich bedanke mich für heute! Jörg Morré war das, der Direktor des Deutsch-Russischen Museums in Berlin-Karlshorst. Herzlichen Dank, Herr Morré!
Morré: Gern geschehen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.