"Okzidentalismus"
Ian Buruma und Avishai Margalit hatten eine bestechende Idee: Gleicht das Bild, das die Feinde des Westens mit Osama Bin Laden an der Spitze von ihrem Hassobjekt haben, nicht jenem, das der imperialistische Westen im 19. Jahrhundert von den Kolonien entwarf?
Letzteres hat der palästinensische Intellektuelle Edward Said Orientalismus genannt und damit eine verächtliche Haltung gegenüber dem Orient gemeint, dessen Menschen als wild, dumm und tierähnlich galten. Analog, meinen der niederländische Publizist Buruma und der israelische Philosoph Margalit, könne man von einem Okzidentalismus des Ostens sprechen. Die beiden Autoren sind nicht die ersten, die den Begriff verwenden. Aber sie sind wohl die ersten, die ihn als philosophisch-religiöses Konstrukt zu begreifen suchen. Für sie ist der Okzidentalismus eine Sichtweise, die weit über eine Kritik, auch die hasserfüllteste, hinausgeht: Okzidentalismus ist ein "entmenschlichendes Bild des Westens".
"Okzidentalismus. Der Westen in den Augen seiner Feinde" heißt das Buch, in dem Ian Buruma und Avishai Margalit versuchen, das Kunstwort mit Inhalt zu füllen. Seine Pointe ist die These, dass die Wurzeln des Okzidentalismus im Okzident liegen. Die angesehenen Autoren tragen eine große Zahl vernunft- und fortschrittskritischer Stimmen europäischer, vor allem deutscher Provenienz der Vergangenheit zusammen: Herder, die Romantiker Fichte, Hegel und Schelling, Marx, Nietzsche - sie alle beklagten Opfer und Kosten der Industrialisierung und werden von Intellektuellen in den sich entwickelnden Ländern begierig gelesen. Denn Japan, China, Vietnam, Indien, Russland und die islamischen Länder erlebten und erleben eine beschleunigte Modernisierung nach westlichem Vorbild mit denselben Konsequenzen. Dort wird nun beklagt, was zuerst hier beklagt wurde: kapitalistische Entfremdung, städtische Dekadenz, selbstsüchtiger Individualismus, kalte Vernunft, modernes Chaos, ethnische Mischung, moralisch-sittliche Degeneration, Geldgier, Händlertum, Materialismus, "Komfortismus" (Sicherheitsstreben). Ihnen stellten und stellen die Kritiker gegenüber: warme menschliche Beziehungen, Gemeinschaft, tiefere Bedeutung, Glaube, Held, Opfer und Ruhm.
Die Ideologeme können je nach Interesse relativ frei kombiniert werden. Doch nicht aus diesem Grund wiederholen sich Buruma und Margalit oft. Ihr schnell zusammengeschriebenes Buch lässt einen stringenten Aufbau, oft auch eine klare Argumentation vermissen. Die Autoren untersuchen erst die Stadt als Ort der Sittenverderbtheit und des Kommerz, dann den Gegensatz von Helden und Händlern sowie die slawophile Bewegung im Russland des 19. Jahrhunderts. Das vorletzte Kapitel stellt dann kursorisch einige wenige islamische Denker vor und konzentriert sich auf deren zunehmend verschärfte Interpretation des Götzendienstes, den nach Meinung einiger auch die zuvor ausgenommenen Christen und Juden begehen. Das Buch endet mit einer Platitüde: "Der Okzidentalismus wird erst dann zur Gefahr, wenn er sich mit politischer Macht verbindet."
Buruma und Margalit behandeln radikale islamische Denker viel zu knapp. Und sie beantworten die Fragen nicht, wie die europäische Kritik der Modernisierung im Osten verstanden und wie sie beim Einfügen in andersartige Religionen und Philosophien verändert wird. Es hat den Anschein, als ob sich die vorwiegende Beschäftigung mit der europäischen Geistesgeschichte zu einem guten Teil dem "Komfortismus" der Autoren verdankt: Auf diese Weise konnten sie ihre vorhandenen Kenntnisse noch einmal verwerten.
Ian Buruma/Avishai Margalit, Okzidentalismus. Der Westen in den Augen seiner Feinde.
Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn.
Carl Hanser Verlag. München/Wien 2005.
160 S., 15,90 Euro
"Okzidentalismus. Der Westen in den Augen seiner Feinde" heißt das Buch, in dem Ian Buruma und Avishai Margalit versuchen, das Kunstwort mit Inhalt zu füllen. Seine Pointe ist die These, dass die Wurzeln des Okzidentalismus im Okzident liegen. Die angesehenen Autoren tragen eine große Zahl vernunft- und fortschrittskritischer Stimmen europäischer, vor allem deutscher Provenienz der Vergangenheit zusammen: Herder, die Romantiker Fichte, Hegel und Schelling, Marx, Nietzsche - sie alle beklagten Opfer und Kosten der Industrialisierung und werden von Intellektuellen in den sich entwickelnden Ländern begierig gelesen. Denn Japan, China, Vietnam, Indien, Russland und die islamischen Länder erlebten und erleben eine beschleunigte Modernisierung nach westlichem Vorbild mit denselben Konsequenzen. Dort wird nun beklagt, was zuerst hier beklagt wurde: kapitalistische Entfremdung, städtische Dekadenz, selbstsüchtiger Individualismus, kalte Vernunft, modernes Chaos, ethnische Mischung, moralisch-sittliche Degeneration, Geldgier, Händlertum, Materialismus, "Komfortismus" (Sicherheitsstreben). Ihnen stellten und stellen die Kritiker gegenüber: warme menschliche Beziehungen, Gemeinschaft, tiefere Bedeutung, Glaube, Held, Opfer und Ruhm.
Die Ideologeme können je nach Interesse relativ frei kombiniert werden. Doch nicht aus diesem Grund wiederholen sich Buruma und Margalit oft. Ihr schnell zusammengeschriebenes Buch lässt einen stringenten Aufbau, oft auch eine klare Argumentation vermissen. Die Autoren untersuchen erst die Stadt als Ort der Sittenverderbtheit und des Kommerz, dann den Gegensatz von Helden und Händlern sowie die slawophile Bewegung im Russland des 19. Jahrhunderts. Das vorletzte Kapitel stellt dann kursorisch einige wenige islamische Denker vor und konzentriert sich auf deren zunehmend verschärfte Interpretation des Götzendienstes, den nach Meinung einiger auch die zuvor ausgenommenen Christen und Juden begehen. Das Buch endet mit einer Platitüde: "Der Okzidentalismus wird erst dann zur Gefahr, wenn er sich mit politischer Macht verbindet."
Buruma und Margalit behandeln radikale islamische Denker viel zu knapp. Und sie beantworten die Fragen nicht, wie die europäische Kritik der Modernisierung im Osten verstanden und wie sie beim Einfügen in andersartige Religionen und Philosophien verändert wird. Es hat den Anschein, als ob sich die vorwiegende Beschäftigung mit der europäischen Geistesgeschichte zu einem guten Teil dem "Komfortismus" der Autoren verdankt: Auf diese Weise konnten sie ihre vorhandenen Kenntnisse noch einmal verwerten.
Ian Buruma/Avishai Margalit, Okzidentalismus. Der Westen in den Augen seiner Feinde.
Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn.
Carl Hanser Verlag. München/Wien 2005.
160 S., 15,90 Euro