Olga Grjasnowa: "Der verlorene Sohn", Roman
Aufbau Verlag, Berlin 2020
384 Seiten, 22 Euro
Folkloristisches Basis-Inventar aus dem Zarenreich
05:52 Minuten
Olga Grjasnowa erzählt in "Der verlorene Sohn" von einem Kaukasier, der im 19. Jahrhundert als Kriegspfand ans russische Heer übergeben wird. Um das leidvolle Verhältnis zwischen Kaukasiern und Russen ins Bild zu setzen, braucht sie aber zu viele Klischees.
In ihren drei vorangegangenen Romanen hat Olga Grjasnowa aus unterschiedlichen Gegenwarts-Milieus geschöpft. Ihr neuer Roman geht erstmals weit zurück in die Vergangenheit. "Der verlorene Sohn" beginnt im Jahr 1839. Er begleitet den anfänglich neunjährigen Protagonisten Jamalludin über einen Zeitraum von zwei Jahrzehnten auf seinem Lebensweg vom nordkaukasischen Dagestan über Russland und Polen und wieder zurück in seine Heimat. Russland versucht in diesen Jahrzehnten, durch diverse Kriege eine vollständige Kontrolle über die Region zu erlangen.
Jamalludin wird als Sohn des widerständigen "Gotteskriegers" und Anführers Imam Schamil (eine historischen Figur) während militärischer Verhandlungen als Pfand an das russische Heer übergeben. Die Russen behalten den Jungen, schicken ihn zur Kadettenausbildung nach St. Petersburg und später zu Militäreinsätzen in Polen, um ihn zum zukünftigen russlandtreuen Herrscher im Nordkaukasus auszubilden.
Altehrwürdiger Topos
Jamalludin passt sich schmerzvoll an, wird unter persönlicher Obhut des Zaren immer mehr zu einem Bürger Russlands - zunehmend zerrissen zwischen einem privilegierten russischen Leben und einer verwässerten kaukasischen Identität. Als Jamalludin sich für das russische Leben entscheidet und eine Russin heiraten will, holt ihn der Vater zurück nach Dagestan, wo Jamalludin nicht mehr heimisch werden kann.
Wer möchte, kann in Grjasnowas märchenhafter Geschichte Parallelen zu einem Klassiker der russischen Literatur erkennen. Der Roman "Hadschi Murat" von Lew Tolstoj erzählt vom gleichnamigen historischen Freiheitskämpfer aus Dagestan, der zu den Russen überläuft und daran zerbricht.
In der russischen Literatur ist der Kaukasus und speziell der Freiheitsdrang der Kaukasier (im Widerstand gegen das autoritäre Russland) ein zentraler und altehrwürdiger Topos. Puschkin und Lermontov haben darüber geschrieben, ebenso Dichter des 20. Jahrhunderts wie Mandelstam, Pasternak oder wichtige zeitgenössische Schriftsteller und Schriftstellerinnen wie Alexander Ilitschewski oder Alissa Ganijewa. Wiewohl Grjasnowa am Ende ihres Buchs unter anderen der letztgenannten Moskauer Kollegin dankt, knüpft sie stilistisch in einem irritierend romantisierten Tonfall an das 19. Jahrhundert an.
Obligatorisches Duell wäre verzichtbar
Bildreich skizziert sie die elenden Lebensumstände der Menschen in Dagestan genauso wie das prächtige Leben am russischen Hof und die Armut der leibeigenen russischen Bevölkerung. Berühmte Opernsängerinnen mit glanzvollen Auftritten in Russland dürfen im Roman ebenso wenig fehlen wie das obligatorische Duell, das in der Dramaturgie des Romans durchaus verzichtbar gewesen wäre.
Durch bekannte Stichworte der russischen Geschichte skizziert Grjasnowa das repressive System unter Zar Nikolaj I.: Der Dekabristenaufstand wird en passant gestreift, ebenso der Revolutionär Bakunin, dessen Familie Jamalludin kennenlernen darf. Auch die berühmte Geschichte von Dostojewskis Begnadigung kurz vor seiner Erschießung wird erwähnt.
Turnende Bärenkinder auf dem Cover
Gesellschaftliche Phänomene wie der grassierende Antisemitismus in Russland und die frühen Emanzipationsversuche junger adliger Damen werden pflichtschuldig durch Szenen und Figuren eingearbeitet, die wie am Reißbrett entworfen scheinen. Vieles liest sich wie das folkloristische Basis-Inventar für einen Roman aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Olga Grjasnowa hat als russische Muttersprachlerin, die im Südkaukasus geboren wurde, schon biografisch ein besonderes Verhältnis zur leidvollen Beziehung zwischen Kaukasiern und Russen. Ihr Roman, der im Anhang eine lange Literaturliste mit Sekundärwerken präsentiert, verrät großen Fleiß - wie bei einer Magisterarbeit - und liest sich flüssig. Dennoch bleibt ein Unbehagen, weil viele Aspekte und Figuren an der Oberfläche bleiben und häufig Klischees bedienen. Das beginnt schon mit dem Buchcover ihres Romans, auf dem niedliche Bärenkinder an einem Baum herumturnen.