Olga Grjasnowa: "Der verlorene Sohn"
Aufbau Verlag, Berlin 2020
383 Seiten, 22 Euro
Ein Freifahrtschein für Autokraten
06:44 Minuten
Der Streit um Bergkarabach werde als nationalistischer Konflikt inszeniert, sagt die Schriftstellerin Olga Grjasnowa: "Wenn sich alle um den Krieg kümmern, schaut sich keiner die Innenpolitik an." Die Staatschefs in der Region könnten machen, was sie wollen.
Andrea Gerk: In verschiedenen Regionen der russischen Föderation herrscht Krisenzustand, in Belarus gibt es Demonstrationen und Festnahmen, in Aserbaidschan Kämpfe und Kriegszustand.
Olga Grjasnowa ist in Baku geboren und als Elfjährige mit ihrer Familie nach Deutschland gekommen. Auch ihre Romane spielen zum Teil in Aserbaidschan, wie ihr viel gelobtes Debüt "Der Russe ist einer, der Birken liebt", und ihr zuletzt erschienener Roman "Der verlorene Sohn" führt tief in die Geschichte des Landes hinein.
Die internationale Gemeinschaft schreitet nicht ein
Kurz nachdem wir Sie eingeladen hatten, kam gestern die Nachricht aus Belarus, dass Swetlana Alexijewitsch das Land verlassen hat, sie ist nach Berlin gekommen, angeblich aus rein privaten und medizinischen Gründen. Glauben Sie das, oder steckt da mehr dahinter?
Grjasnowa: Das kann natürlich sein, aber das ist auf jeden Fall ein sehr trauriges Signal, dass selbst sie das Land verlassen muss oder verlassen hat. Vor allem ist es natürlich auch ein Signal, dass die autokratischen Regierungen in unserer Zeit einfach mit allem davonkommen und die internationale Gemeinschaft, falls es überhaupt noch eine gibt, wird auch nicht einschreiten. Sie können alles machen, was sie möchten.
Gerk: Ist es das, was Sie daran so bewegt? Wir wollten mit Ihnen ja eigentlich vor allem über Aserbaidschan sprechen, aber dann haben Sie gestern gleich gesagt: Dazu möchte ich auch unbedingt etwas sagen. Was wühlt Sie daran auf, oder was bewegt Sie?
Grjasnowa: Es ist einfach diese Hoffnungslosigkeit mittlerweile, auch die Hoffnungslosigkeit, die, glaube ich, ausstrahlt. Während des Konflikts in Syrien wurde nicht eingeschritten, es wurde nichts gemacht, um die Leute zu unterstützen. Jetzt lassen wir die Leute noch nicht mal mehr nach Europa, die tatsächlich sich irgendwann mal für die Demokratie ausgesprochen haben, oder schon allein aus humanitären Gründen.
Auch in Weißrussland hat sich nichts geändert, sondern das ist einfach jetzt wie ein Freifahrtschein. Ich glaube auch, dass zum Beispiel Aserbaidschan und Armenien sich diese Entwicklung sehr genau angeschaut haben, natürlich die Türkei - für sie ist das natürlich ein großartiges Signal, und sie wissen auch: Sie können machen, was sie wollen.
Tiefe Prägung durch Krieg und Pogrome
Gerk: Gucken wir mal auf Aserbaidschan: In Ihrem ersten Roman kommt die Protagonistin, wie Sie selbst auch, als Elfjährige nach Deutschland, und in Ihrem jüngsten Roman haben Sie sich auch mit der Geschichte Aserbaidschans auseinandergesetzt. Was verbindet Sie mit dem Land?
Grjasnowa: Das ist natürlich meine ganze Herkunft. Ich bin in Aserbaidschan geboren worden, und ich bin mitten im Kaukasuskrieg aufgewachsen. Ich war natürlich nie an der Front, aber das ist, glaube ich, das, was mich zutiefst geprägt hat.
Den ersten Roman wollte ich unbedingt schreiben, weil ich über die Pogrome an den Armeniern, die damals stattgefunden haben in Sumgait und auch in Baku, berichten wollte, aber auch über den Schwarzen September in Baku, als das russische Militär einmarschiert ist und es sehr viele Tote gab, also praktisch die ganze Zeit danach.
Das war nicht unbedingt eine sehr schöne Erfahrung, und das hat mich zutiefst geprägt, vor allem diese staatlich organisierte Gewalt, und ich glaube, seitdem lässt es mich nicht los.
Nationalismus lenkt von Verfehlungen der Regierung ab
Gerk: Sie sind ja viel auf Twitter unterwegs. Wie ist da die Stimmung, wie wird da auf dieses Geschehen, auf den neuerlichen Konflikt um Bergkarabach geschaut?
Grjasnowa: Da bin ich ehrlich gesagt fast gar nicht. Aber dieser Konflikt um Bergkarabach - das ist nicht erst seit heute so, sondern schon von Anfang an - wird immer als ein sehr nationalistischer Konflikt inszeniert, weil es natürlich wahnsinnig einfach ist, mit diesem Nationalismus den Krieg zu rechtfertigen. Und wenn sich alle um den Krieg kümmern, dann schaut sich keiner mehr die Innenpolitik an.
Zum Beispiel ist die Regierung Aliyev durchaus für Geldwäsche bekannt. Sie kommt in den Panama Papers vor, man findet regelmäßig irgendwelche Unregelmäßigkeiten bei den britischen Konten - oder auch bei den deutschen Immobilien. Und das alles muss nicht mehr besprochen werden, sondern im besten Fall werden sie jetzt Bergkarabach zurückgewinnen, und dann kann Aliyev natürlich seine Macht für die nächsten 40 Jahre manifestieren und auch locker weitergeben an seinen Sohn, seine Söhne oder wen auch immer. Es ist eine wahnsinnig einfache Legitimation, um so weiterzumachen, den Status quo zu erhalten.
Erfindung des modernen Dschihadismus im Kaukasus
Gerk: In Ihrem letzten Buch, in "Der verlorene Sohn", legt Schamil, bevor sein Sohn den Russen als Pfand ausgeliefert wird, die Hände auf die Schulter seines Sohns, er soll den Russen übergeben werden, und da heißt es im Roman: "Das ganze Gewicht seiner Herkunft spürte er auf sich." Was macht denn dieses Gewicht der Herkunft oder die Last der Geschichte aus?
Grjasnowa: Wahrscheinlich ziemlich viel. Das ist natürlich auch das Narrativ unseres Lebens, das wir immer wieder abhandeln und an dem wir uns immer reiben. Aber zum Beispiel Schamil, um den es in meinem letzten Roman geht, das war auch derjenige, der praktisch den modernen Dschihadismus mit erfunden hat und auch den Dschihad als Erster eigentlich mithilfe des Osmanischen Reiches auf den Krieg übertragen hat. Und heute sprechen wir auch von diesen angeblichen - oder vielleicht auch sehr wahrscheinlichen - 4000 dschihadistischen Kämpfern aus Syrien.
Ich bin selber keine Journalistin, aber meine Vermutung ist auch ehrlich gesagt, dass diese "Söldner" eigentlich aus dem Kaukasus kommen, und das sind eben diese dagestanischen und tschetschenischen Krieger, die in der Tradition von Schamil stehen, dann irgendwann mal in Syrien als Söldner gekämpft haben, und jetzt wieder zurückkommen. Das ist einfach etwas, was mir immer sehr komisch vorkam, diese Formulierung "syrische Söldner", die jetzt angeblich in Aserbaidschan kämpfen - oder vielleicht sogar bestimmt.
"Die EU hat die Region von Grund auf vernachlässigt"
Gerk: Aber gibt es denn so etwas wie eine kaukasische oder aserbaidschanische Identität? Sie selbst sind ja auch quasi ein "Gemisch" und haben mal gesagt, dass Sie diese Frage nach der kulturellen Herkunft gar nicht so spannend finden.
Grjasnowa: Na, es ist eben diese Mischung. Die gibt es natürlich, aber sie ist wahnsinnig vielfältig, und es gibt die unterschiedlichsten Verbindungen auch. Aserbaidschan ist eigentlich ein sehr multikulturelles Land. Es gab da sehr viele gemischte Ehen, es gab sehr viele Armenier, die dort gewohnt haben, Georgier. Es gab die aschkenasischen Juden, es gab die Bergjuden, und es gab eine wahnsinnige Vielfältigkeit auch in den unterschiedlichen Sprachen und in unterschiedlichen Bergstämmen, die eigentlich immer frei ausgelebt werden konnten, zumindest für die Armenier bis 1988.
Gerk: Wenn wir jetzt noch mal auf die ganze Region schauen, was würden Sie sich wünschen? Vermissen Sie da von der EU eine stärkere Haltung oder sich stärker einzubringen?
Grjasnowa: Die EU hat es ja von Grund auf vernachlässigt. Die EU ist ja gerade nicht unbedingt ein sehr mächtiger Akteur, zumindest keiner, der sich tatsächlich mit den Problemen auseinandersetzt und etwas dagegen tut. Ich glaube, der Konflikt lässt sich durchaus diplomatisch lösen, es muss nur der politische Wille da sein, und den sehe ich gerade nicht.
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