Olga Tokarczuk: "Anna In. Eine Reise zu den Katakomben der Welt"
© Kampa Verlag
Die erste Heldin der Unterwelt
05:35 Minuten
Olga Tokarczuk
Lisa Palmes
Anna In. Eine Reise zu den Katakomben der WeltKampa, Zürich 2022192 Seiten
22,00 Euro
Sie schafft den Urmythos, steigt in das Reich der Toten und stellt sich dabei deutlich klüger an als alle Männer, die es nach ihr versuchen: Die polnische Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk imaginiert die Göttin Anna In als selbstlose Heldin.
Anna In, manchmal auch Inanna genannt, war eine Göttin aus der Zeit der Sumerer und der Babylonier. Sie gehörte den Völkern des Zweistromlandes.
Die Erzählungen über sie sind sehr alt und, das lässt uns die polnische Autorin und Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk wissen, sie finden sich verstreut in vielen Tonscherben, die über den ganzen Globus verteilt sind. Die Nacherzählung dieses alten Mythos war und ist ein Akt der Rekonstruktion, der Interpretation, der Imagination.
Reisen in die Unterwelt
Was gesichert ist: Inanna, die Göttin der Fruchtbarkeit und des Krieges - sie wird meistens mit einem Helm, mit Pfeilen und mit Flügeln dargestellt - steigt in die Unterwelt hinab.
Sie geht einen Weg, den in den Jahrhunderten nach ihr viele Gottmenschen und Helden gehen werden: Orpheus und Odysseus, Demeter und Persephone.
Wer im griechischen Mythos in die Unterwelt hinabsteigt, will meistens etwas Großes erreichen: eine geliebte Person zurückholen, Wissen erlangen, sich der eigenen Unsterblichkeit versichern.
Hier beginnt Olga Tokarczuks spannende Interpretation: Sie sieht den Gang der Inanna als den Urmythos aller späteren Hades-Erzählungen. Zugleich verleiht sie ihm einen Hauch von postmoderner Beliebigkeit.
Denn Anna In - sie ist eine schöne Frau, bei deren Berührung alles lebendig wird - hat kein eigennütziges Motiv. Vielmehr folgt sie dem Ruf ihrer Zwillingsschwester, die als Göttin des Todes über die Unterwelt herrscht.
Klugerweise hat Anna In, wie sie bei Tokarczuk meistens genannt wird, eine treue Dienerin an der Pforte zurückgelassen und diese angewiesen, nach drei Tagen Hilfe zu holen, falls sie nicht zurückkehrt. Ihre aufregende Rettungsaktion wird im Roman zu einer Heldenreise, auf der sich etliche skurrile Begegnungen ereignen.
Wie ein Gemälde von Hieronymus Bosch
Olga Tokarczuk schafft für ihren Roman eine faszinierende Oberwelt mit Aufzügen, Plattformen und hängenden Gärten, eine Endzeit- und Allzeit-Welt, in der sich verschiedene kulturgeschichtliche Epochen überlagern. Für beide Welten zitiert sie Themen und Motive des Abendlandes wie den mittelalterlichen Totentanz.
In diesen Roman einzutauchen ist so, als verirrte man sich in einem Gemälde von Hieronymus Bosch. Zugleich weht ein fast komischer Sinn für alles Skurrile durch diesen Mythos: Aufgepasst, wer sich in die kollektiven Katakomben der Menschheit wagt, sollte besser ein Ticket für die Rückreise haben.
Strahlende Neuübersetzung
Olga Tokarczuk hat diesen Roman ursprünglich 2006 für die Mythen-Reihe des Berlin Verlages geschrieben. Einige Themen und Motive ihrer späteren Romane sind hier schon vorhanden, so ihr Interesse für starke Frauenfiguren, für kollektive Erzählungen, die unser Bewusstsein bis heute bestimmen, auch für die Konstruktion von Archetypen nach C.G. Jung.
Vor allem aber ist hier eine begeisterte Autorin am Werk, die das Leuchtfeuer eines magischen Realismus inszeniert.
Für den Kampa-Verlag, der Olga Tokarczuks Gesamtwerk verlegt, wurde dieser Roman nun neu übersetzt von Lisa Palmes. Sie verleiht Tokarczuks Sprache eine faszinierende Strahlkraft und Beweglichkeit.