Olga Tokarczuk: "Empusion"
© Kampa Verlag
Die schlesische Variante des "Zauberberg"
07:11 Minuten
Olga Tokarczuk
EmpusionKampa Verlag, 2023384 Seiten
26,00 Euro
„Empusion“ von Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk spielt wie „Der Zauberberg“ in einem Sanatorium. Im Gegensatz zu Thomas Manns Opus Magnum werden Themen wie die sexuelle Identität in dieser brillanten Geschichte aber raffiniert verhandelt.
Kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs durchläuft ein junger Ingenieurstudent bei einem Kuraufenthalt für Lungenkranke in den Bergen eine besondere Entwicklung. Olga Tokarczuks erster Roman seit Vergabe des Literaturnobelpreises markiert unverhohlen die Parallelen zum „Zauberberg“, dem Opus Magnum von Thomas Mann – eines anderen Literaturnobelpreisträgers.
„Empusion“ ist allerdings rund 100 Jahre nach Veröffentlichung der berühmten Vorlage keine tiefe Verbeugung, sondern eine so ehrfurchtslose wie raffinierte Erwiderung. Themen wie Eros, Natur, Tod und Weiblichkeit werden hier gegen den Strich gebürstet. Schon formal kommt der Roman radikal anders daher. Olga Tokarczuk wählt für ihre Coming-of-Age-Geschichte über den 24-jährigen polnischen Studenten Mieczyslaw Wojnicz die Gattung des Schauerromans – kaum ein Genre könnte im Zusammenhang mit Thomas Mann bizarrer (und humorvoller) anmuten.
Merkwürdige Todesfälle und zwei alte Hexen
Tempo- und ereignisreich verlaufen die knapp zwei Monate der erzählten „natur(un)heilkundlichen Schauergeschichte“, die der Untertitel des Romans ankündigt. Er hantiert mit klassischen Horrormotiven. Merkwürdige Todesfälle ereignen sich alljährlich im November im kleinen niederschlesischen Kurort Görbersdorf. Es trifft jeweils einen jungen Mann, der im Wald in Stücke gerissen aufgefunden wird. Der „Schneetraum“ von Hans Castorp im „Zauberberg“ lässt grüßen.
Darin wird ein kleiner blonder Junge von zwei widerlichen alten Hexen zerrissen und verschlungen, was spätere Interpretationen als Abwehr der eigenen „abgründigen Natur“ und homoerotischen Neigung Thomas Manns lasen. In „Empusion“ übernehmen die übernatürlichen Kräfte das Ruder. Sie rächen sich. Geschickt steigert die Autorin die Spannungsmomente, das Unbehagen wächst – nicht zuletzt dank einer geheimnisvollen Erzählerstimme, die als kollektives „Wir“ aus dem Verborgenen zu beobachten scheint und an Metaphysik glaubt.
Wir aber glauben, dass das Interessanteste stets im Schatten bleibt, im Unsichtbaren.
Der Romantitel „Empusion“ ist ein Wortspiel aus zwei Begriffen: Die „Empuse“ ist eine weibliche Spukgestalt aus der griechischen Mythologie, die sich ihrem erschreckten Gegenüber als Tier oder als Frau präsentiert. Das „Symposion“ als „geselliges gemeinsames Trinken“ verweist auf die Männerrunde, mit der der junge Mieczyslaw im „Gästehaus für Herren“ viel Zeit mit sehr gesprächigen Mit-Patienten verbringt.
Die Antipoden in der Geschichte
Vor allem zwei Figuren – der katholische Traditionalist Longinus Lukas aus dem preußischen Königsberg und der humanistisch gebildete Kosmopolit August August aus Wien lassen sich (analog zu Naphta und Settembrini im „Zauberberg“) als Antipoden unterschiedlicher Weltanschauungen verstehen. Doch egal, ob die Herren in „Empusion“ über Religion, Kultur, Europa oder den Sozialismus reden, sie landen unweigerlich immer beim Thema Frauen.
Verglichen mit dem zivilisierten Mann stelle das enger mit der Natur und deren Rhythmen verbundene Weib gewissermaßen einen Atavismus dar, konstatierte Lukas voller Selbstgewissheit, die er noch hervorhob, indem er das Wort A-ta-vis-mus in seine einzelnen Silben unterteilte. Opitz wiederum fügte hinzu, zwar verstehe er nicht ganz, was so ein Atavismus eigentlich sei, gewiss jedoch sei das Weib häufig ein gesellschaftlicher Schmarotzer, unter entsprechender Anleitung aber könne es sich durchaus zugunsten der Gesellschaft betätigen, etwa als Mutter.
Entlarvung toxischer Männlichkeit
Der Spott der Autorin ist deutlich, aber keine Übertreibung. „Sämtliche misogyne Ansichten in diesem Roman stellen Paraphrasen von Textpassagen folgender Autoren dar“, heißt es am Ende von „Empusion“ in der „Notiz der Autorin“, der mehr als 30 Namen aus rund 3000 Jahren männlicher Kulturgeschichte folgen. Sie alle haben der Nachwelt ihre Beiträge zum Thema Frauenfeindlichkeit hinterlassen – vom antiken Dichter Hesiod über Ovid und Plato bis hin zu Thomas von Aquin, William Shakespeare, Sigmund Freud oder auch William S. Burroughs.
Doch es geht in diesem Roman nicht allein um die Entlarvung zeitlos aktueller toxischer Männlichkeit. Olga Tokarczuk, psychoanalytisch geschulte Psychologin und Anhängerin von C.G.Jungs Ideen, feiert in ihrem Roman vieles, was bei Thomas Mann verdrängt scheint. Ihr Schauplatz Görbersdorf, zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein bedeutender Kurort für Gäste aus ganz Europa, ist ein Zwischenreich aus Imagination und Wirklichkeit, in dem das Unterbewusste und der Traum, ihren Platz haben.
Leerstellen schlesischer Geschichte
Zugleich füllt Tokarczuk aber auch viele Leerstellen über die uns unbekannte (weibliche) Geschichte Schlesiens mit seinem jahrhundertelangen Völkergemisch, seinen Mythen und Märchen – ein trotziger Gegenentwurf zum mondänen Davos. Last but not least aber ist dieser brillant komponierte und sprachlich großartig übersetzte Roman die Geschichte einer erfolgreichen Initiation.
Am Ende der Geschichte macht es Sinn, dass der so sanftmütig und differenziert vielfältig gezeichnete Protagonist einen martialischen Namen trägt. „Wojnicz“ bedeutet „Krieger“ – und Mieczyslaw nimmt den Kampf an, er steht zu seiner sexuellen non-binären Identität – und das im Jahr 1913.