Mehr über die "Jakobsbücher" und die Schriftstellerin Olga Tokarczuk hören Sie in Sabine Adlers Feature "Polnische Verhältnisse lesen" am Sonntag, den 11. Dezember 2016 um 00:05 Uhr.
Polnische Autorin kämpft gegen Nationalismus
Die polnische Erfolgsautorin Olga Tokarczuk schreibt gegen ein Polen an, das den Nationalismus feiert und nach "Homogenität" der Bevölkerung strebt. Ihr Vorwurf: "Die neue polnische Ideologie betreibt Geschichtsfälschung".
Bei den "Jakobsbüchern" fängt der Leser auf Seite 905 an und liest sich ans Ende vor zu Seite 1. In ihrer Heimat Polen erhielt Schriftstellerin Olga Tokarczuk für ihre "Jakobsbücher" die wichtigste Literaturauszeichnung, den Nike-Preis, in Schweden wurde der Roman "Buch des Jahres" – doch ob deutsche Leser ihn je in den Händen halten werden, ist bislang unklar. Die beiden Übersetzer Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein bemühen sich zwar intensiv um das Buch, doch noch hat kein Verlag zugestimmt. Unklar, ob es am Umfang liegt, oder an der reichen Illustration mit historischen Kupferstichen, Landkarten, technischen Zeichnungen und Gemäldereproduktionen.
Olga Tokarczuk bedauert, dass sich bislang kein deutscher Verlag herantraut, dabei hat der historische Roman unübersehbar aktuelle Bezüge.
"Polen sind eine Mischung aus Deutschen, Juden, Tschechen..."
"Es gibt keine ethnischen Polen. Wir sind eine mitteleuropäische Mischung aus Deutschen, Juden, Tschechen, Ukrainern, Armeniern. Ich würde mir wünschen, dass mein Buch verstehen hilft, dass wir anders auf die Staaten Europas schauen müssen, dass auch Frankreich nicht rein französisch war. Mein Roman zeigt, wie wichtig dieses 18. Jahrhundert für Europa war. Mit der Aufklärung, in der Enzyklopädien verfasst wurden, in der man in Wiener Cafés Bildungsjournale las und darüber diskutierte."
Das ehemals multiethnische, multikonfessionelle Polen fesselte Olga Tokarczuk zu keiner Zeit so sehr wie während der Arbeit an "Jakobsbüchern", die 2014 im Original erschienen sind. Darin beschreibt sie teilweise fiktiv die historische Bewegung der Frankisten, die im 18. Jahrhundert für Europa weites Aufsehen sorgte. Frankisten waren osteuropäische Juden, die zum Katholizismus konvertierten, angeführt wurden sie von Jakob Joseph Frank.
Ihm waren sein Schtetl zu eng geworden, die Regeln und Vorschriften seines Glaubens zu rigide, er pfiff auf den Talmud und die Thora, provozierte, bis man ihm nach dem Leben trachtete, suchte Schutz in Istanbul und konvertierte dort zum Islam. Wenig später vollführte er die nächste Kehrtwende und ließ sich taufen. Seinem Beispiel folgen Tausende Anhänger, alles sogenannte Frankisten.
"Die Dörfer reichen Jakob einander weiter wie ein Wunderding. Wo er Rast macht, laufen sofort die Menschen herbei, spähen durch die Fenster, lauschen seinen Reden, auch wenn sie nicht alles verstehen, und Tränen der Rührung treten ihnen in die Augen."
"Ein Polen, das sich angeblich von seinen Knien erhebt"
"Heute ist es die neue Ideologie in Polen, die wieder Geschichtsfälschung betreibt", sagt Olga Tokarczuk. "Sie propagiert ein Polen, das sich angeblich von seinen Knien erhebt. Dieser Trend ist in vollem Gange und überrollt uns gerade wie eine Lawine. Wir müssen etwas tun, darüber reden, um diese Krankheit zu überwinden, kluge Leute zu werden, die mit ihren guten Zeiten in der Geschichte ebenso zurechtkommen wie mit ihren dunklen Seiten. Eine Gesellschaft formiert sich nicht aus dem Nichts. Sie muss solche Fragen immer wieder neu verhandeln."
Die Staatsbürgerin in ihr drängt sie derzeit, Polens demokratische Kräfte zu stärken, nicht zuzuschauen, wie Nationalisten die Gesellschaft nach ihrem Gusto verwandeln. So ernst die Lage auch sein mag – Olga Tokarczuk hält es dennoch für verfrüht, in Alarmismus zu verfallen.
"Im Moment ist es wichtiger zu handeln, als zu Hause zu sitzen und zu schreiben"
"Es gibt völlig unterschiedliche Auffassungen darüber, wie sich Polen entwickeln soll und wie unsere Geschichte zu sehen ist. Ich finde das furchtbar. Ich hätte nicht gedacht, dass es eine solch tiefe Spaltung gibt. Im Moment ist es für Polen wichtiger, zu handeln und sich einzumischen, als zu Hause zu sitzen und zu schreiben. Derart heftige und entscheidende Diskussionen hat es seit Jahren nicht gegeben. Ich bin übrigens optimistisch, was den Ausgang anbetrifft. In solchen Zeiten bilden sich in einer Gesellschaft neue Werte heraus. Polen braucht jetzt diese Debatte!"