Olivia Manning: "Der größte Reichtum"
Aus dem Englischen von Silke Jellinghaus
Rowohlt Verlag, Berlin 2020
464 Seiten, 24 Euro
Den Umständen zum Trotz unentwegt feiern
07:22 Minuten
Bukarest 1939. Ein junges Ehepaar harrt im Auge des Taifuns der Dinge, die da kommen, inszeniert Shakespeare und stellt fest, dass es keinen größeren Reichtum gibt als das Leben selbst. Ein großer Roman ist jetzt, neu übersetzt, wiederzuentdecken.
Das alte Europa ist zweimal untergegangen: einmal im Ersten Weltkrieg, wovon es besonders viele literarische Zeugnisse gibt, und dann noch einmal, endgültig, im Zweiten Weltkrieg. Davon erzählt die Britin Olivia Manning (1908–1980) in einer 1960 bis 1975 erschienenen Serie von sechs Romanen, die auf eigenen Erlebnissen während der Flucht vor dem Krieg basieren, einer Odyssee von 1938 bis 1947: Bukarest, Athen, Palästina, Kairo. Eine große Autorin ist da (wieder) zu entdecken. Den Auftakt macht der erste Band der sogenannten Balkan-Trilogie in einer – bisweilen etwas spröden, aber verdienstvollen – Neuübersetzung.
Mit den frisch verheirateten Pringles kommen wir in Bukarest an. Guy ist als Dozent ans dortige British Council entsandt. Harriet begleitet ihn. Es ist weitgehend ihre Perspektive, aus der Manning die überbordende Zahl von Haupt- und Nebenfiguren durch die desorientierte, noch nicht vom Krieg, aber von Korruption, Missgunst, Chauvinismus, Rassismus, Faschismus und Antisemitismus porös gewordene Stadt dirigiert, in der den Umständen zum Trotz unentwegt gefeiert wird. Das Korsett des Romans bilden die Kriegs-Ereignisse von September 1939 bis Juni 1940.
Eine Bar wie das Auge des Taifuns
Die Schlinge zieht sich zu um Bukarest. Die Calea Victoriei und die Englische Bar sind so etwas wie das Auge des Taifuns. Hier tummelt sich, wer sich – noch – aus dem Sturm hat retten können. Dazu gehört auch Prinz Jakimov, halb Ire, halb Russe, ein eleganter Schnorrer, der "wie ein Phantom aus dem ersten Weltkrieg" ragt. Er trägt immer denselben Mantel, den der Zar seinem Vater vermacht haben soll. Mit Harriet verachten wir ihn, mit dem unverbesserlich menschenfreundlichen Guy erfreuen wir uns voller Mitleid an seinen Schrullen. Am Ende wartet ein Triumph auf den "armen alten Jaki".
Am Ende nämlich führt Olivia Manning die vielen wahnsinnigen und doch so realistischen Geschichten aus dem Bukarest des Jahres 1940 auf meisterliche Weise eng in ihre allegorische Spiegelung: Guy inszeniert im Stadttheater Shakespeares Troilus und Cressida (28 Sprechrollen!). Das belagerte Troja, das sind die Briten, die kriegerischen Athener die sie bedrängenden Faschisten. Wie im Bukarester Alltag bleibt Harriet auch hier außen vor, dafür brilliert der heimatlose Prinz und findet seinen Platz in der Welt, wenn auch nur kurz und nur in der Fiktion. Nach der Premiere ist es so weit: Die Pringles müssen fliehen.
Von der eigenen Kindheit erholt man sich nie
Ist es realistisch, dass erwachsene Menschen, akut bedroht, ihre Energie in einen eleganten Shakespeare-Abend stecken? Am Ende dieses lebensprallen Romans hält man alles für möglich. Und was heißt erwachsen? "Wir haben uns benommen wie Kinder", sagt Harriet einmal. Und als sie wirklich Kinder waren, ging die Welt gerade zum ersten Mal unter. "Es gibt Dinge", auch das sagt Harriet, "die kann man nicht hinter sich lassen". Die eigene Kindheit zum Beispiel: "Davon erholt man sich nie."
Was bleibt? Das Leben. Denn, so der immer optimistische Guy am Anfang und noch einmal auf der letzten Seite dieses großen Romans: Es gibt "keinen größeren Reichtum als das Leben. Wenn man das verstanden hat, hat man alles verstanden."