Olivia Manning: "Die gefallene Stadt"
Aus dem Englischen von Silke Jellinghaus
Rowohlt, Berlin 2021
464 Seiten, 24 Euro
Als würde Shakespeare für Netflix schreiben
06:53 Minuten
Bukarest 1940: Im zweiten Band von Olivia Mannings Balkan-Trilogie zieht sich die Schlinge um die britische Community in Rumäniens Hauptstadt immer fester zu. Im Auge des Taifuns harrt das junge Ehepaar Pringle aus. Wie lange noch?
Es gibt eine gute Nachricht – und gleich noch eine: Mit "Die gefallene Stadt" liegt der 1962 erschienene zweite Band der Balkan-Trilogie der Engländerin Olivia Manning (1908 – 1980) neu übersetzt vor. Der Auftakt "Der größte Reichtum" hatte Kritik und Publikum überrascht und begeistert.
Zweitens: Es geht so spannend, intensiv und lebensnah weiter wie in der Exposition, auch wenn die faszinierend überbordende Vielzahl an Charakteren, die das Stadtpanorama von Bukarest im Zweiten Weltkrieg zunächst bevölkert hat, auf eine überschaubare Zahl von Personen vor allem aus der britischen Community reduziert ist. Aber keine Sorge: "Der arme alte Jaki", der verschlagene halbrussische Prinz, bei dem man nie wissen kann, ist weiter dabei – und wie.
Missgunst und Chauvinismus
Ihr erzählerisches Geschick stellt Manning gleich auf den ersten Seiten wieder unter Beweis. Naht- und gleichzeitig voraussetzungslos knüpft sie an die Ereignisse des Vorgängers an, der im Finale die gesellschaftliche Konstellation einer sich in Missgunst, Chauvinismus, Korruption und Opportunismus auflösenden Gesellschaft in einer Shakespeare-Inszenierung spiegelte.
Doch die Stadtplätze von Bukarest haben in jenen Kriegsmonaten nicht weniger dramatische Wendungen, überraschende Begegnungen und blutige Grausamkeit zu bieten als Shakespeare. Der König verschanzt sich, die Regierung verschwindet, brutale Faschisten übernehmen die Macht, die Gestapo ist schon da.
Es sind nicht mehr nur Jüdinnen und Juden, die hier ihres Lebens nicht sicher sein können, die in zynischen Schauprozessen gedemütigt und im Gefängnis gefoltert werden wie der einst mächtige Bankier Drucker, oder untertauchen müssen wie dessen Sohn Sasha, den der Englisch-Dozent Guy Pringle und seine Frau Harriet bei sich verstecken. Zunehmend erwischt es auch die Mitglieder der britischen Kolonie.
Mittendrin halten die Pringles weiter die Stellung in ihrer Wohnung über dem zentralen Platz der Stadt ("Wir sind im Zentrum des Geschehens"). Von ihrem Balkon aus lässt sich Geschichte in Bildern hautnah erleben.
Ein veritabler Cliffhanger
Es ist nicht zuletzt die Stimmigkeit und Intensität der Bilder, die Manning erzeugt, die ihre Erzählung so lebendig und auch so modern erscheinen lassen.
Coronabedingt womöglich besonders streamingerprobte Leserinnen und Leser mögen bisweilen der Illusion erliegen, sie befänden sich in der zweiten Staffel einer besonders gelungenen Netflix-Serie. Das Schlusskapitel wartet denn auch mit einem veritablen Cliffhanger auf: "Aber das ist nicht das Ende", sagt Guy Pringle gegen Ende. Gott sei Dank.
Faszinierende Serie von Geschichten
Und noch eine gute Nachricht: Nachdem Übersetzerin Silke Jellinghaus im ersten Band im Detail vielleicht nicht immer ganz stimmige Antworten auf Mannings zwischen britisch ironischer Distanzierung und detailverliebter Beschreibung oszillierende Sprache fand, geleitet sie uns hier klar und sicher durch die deutsche Version einer anhaltend faszinierenden Serie von sehr menschlichen Geschichten in einer der dramatischsten Phasen der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts.