Olivier Adam: "Die Summe aller Möglichkeiten"
Aus dem Französischen von Michael von Killisch-Horn
Klett-Cotta, Stuttgart
445 Seiten, 25 Euro
Wo die Schönen und Reichen durchreisen
Der französische Autor Olivier Adam entwirft ganz unterschiedliche Protagonisten und lässt dann ihre Wege kreuzen. Seine Figuren sind Menschen am Rande der Gesellschaft - nur spielt der Roman in einer der schönsten Regionen Frankreichs.
"Die Summe aller Möglichkeiten", räsoniert Antoine, die zentrale Gestalt in Olivier Adams elftem Buch, "ist das Unendliche, das gegen null tendiert". Unbeholfen und unberaten wie Adams Romancharaktere sind, bleibt ihnen meist nichts anderes übrig, als sich mit kleinen Jobs über Wasser zu halten - als Zimmermädchen, Nachtwächter, Pflegekräfte, Kellner. Sie sind verheiratet oder geschieden und bereit für Liebesabenteuer. Adam erzählt von Vätern, Müttern und Geschwistern, die großmäulig und zugleich geduldig, verzagt oder entschlossen ihr auf wenige Optionen reduziertes Leben tapfer meistern.
Der 43 Jahre alte Autor ist bekannt für die Empathie, mit der er auf die Existenz von Leuten blickt, die am Rand der Gesellschaft leben, in den betonierten Vorstädten. Er ist selbst in der Banlieue von Paris aufgewachsen und durchdringt nun erneut das Milieu der Abgehängten. Nur, dass man den geplagten Existenzen nun in einer der schönsten Regionen Frankreichs begegnet.
Die Wege aller Figuren kreuzen sich
Der Roman, der im französischen Original "Peine perdue" heißt, spielt in einem abgelegenen, von Touristen begehrten Badeort des Département Var. In den Wintermonaten verwandelt er sich in ein Geisterdorf. Es ist wahr, das Leben bereitet den Romanfiguren nur "vergebliche Mühe". Adam neigt aber nicht zu melancholischen Reflexionen. Er schreibt zartfühlend und direkt, manchmal vulgär, immer mit Gespür für das Maß und das Profil der erfundenen Charaktere.
Die 23 Kapitel des Romans ergeben ein mosaikhaftes Tableau. Der Autor lässt die Wege aller Figuren kreuzen. Der Schmerz, den sie einander zugefügt haben oder dessen Zeuge sie wurden, ist das Band, an dem sich die Geschichten aufreihen. Auch zeigt sich, dass der Verlust von Angehörigen noch Jahre später Entscheidungen determiniert. 22 Romankapitel tragen den Namen einer Person, eines heißt "Die Mannschaft".
Der Abstieg eines Menschen
Mit ihr träumte der arbeitslose Mechaniker Antoine von einer Karriere als Fußballer. Durch ein Foul hatte er sich ins Aus gebracht und den Aufstieg des Amateur-Vereins vermasselt. Auf dem Campingplatz, der einem zwielichtigen Unternehmer gehört, streicht Antoine in der Nachsaison Wohnwagen und Gebäude. Er beobachtet zwei Männer, die Ferienbungalows anzünden. Sie verfolgen und erschlagen ihn fast. Als Antoine aus dem Koma erwacht, kann er sich auf seine Erinnerung nicht mehr verlassen.
An Antoines Beispiel zeigt Olivier Adam den Abstieg eines Menschen und sein nicht versiegendes Verlangen, eine Wende zum Guten herbeizuführen. So unterschiedlich die Romangestalten sind, eint sie das Gefühl, ihr Leben sei – "trotz des Meeres, das sich überall ausbreitete" - zu klein. Die Naturgewalt des Wassers und die Macht der Herbststürme verlangen den Anrainern Respekt ab.
Die Verdrängung der Xenophobie
Es gefällt Olivier Adam ganz offensichtlich, den Blick auf die nicht nur blau strahlende Kraft der Elemente und die felsige, von Macchia überzogene Küstenlandschaft zu lenken. Der Tod lauert an ihren Rändern. Das Département Var ist seit vielen Jahren eine Hochburg des Front National.
In Oliviers Fiktion gibt es nur einen einzigen Anhänger der Partei, dem aber schnell die Worte ausgehen. Dass Adam das Problem der Xenophobie an der Côte d’Azur verdrängt, kommt einem nicht einen Augenblick in den Sinn. Als Schriftsteller bricht er den Stab über niemanden. Und erst recht nicht über eine Region, in der die Schönen und Reichen nur auf der Durchreise sind.