Olivier Rolin: Der Meteorologe
Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller
Liebeskind Verlag, München 2015
191 Seiten, 32 Seiten farbige Abbildungen, 19,90 Euro
Abrechnung mit Verirrungen des Kommunismus
In seinem neuen Buch erzählt der französische Autor Olivier Rolin die Lebensgeschichte des Meteorologen Alexei Wangenheim nach, der aus unerfindlichen Gründen in einen Gulag geschickt wurde. Seinen Bericht über die Absurdität und die Grausamkeit der Stalinzeit liest man mit angehaltenem Atem, feuchten Augen und Fassungslosigkeit.
Ein Toter ist eine Tragödie, eine Million Tote ist eine Zahl – so ungefähr hatte es der geliebte Genosse Stalin in seinem historisch-materialistischen Zynismus gesagt. Olivier Rolin gibt den Millionen Opfern des sowjetischen Terrors ein Gesicht.
Es gibt in Frankreich einige Autoren, die sich in ihren Büchern intensiv mit Russland beziehungsweise der Sowjetunion beschäftigen, bekannte, auch ins Deutsche übersetzte Schriftsteller, unter ihnen Olivier Rolin, geboren 1947 in Boulogne-Billancourt, Literaturwissenschaftler, Journalist, langjähriger militanter Maoist.
Eine Mischung aus Roman, Biografie und Essay
"Der Meteorologe" ist ein Buch über die Absurdität und die Grausamkeit der Stalinzeit. Rolin selbst nennt es einen Bericht, tatsächlich ist es eine Mischung aus Roman, Biografie und Essay. Es ist ein Buch über ein bestimmtes Opfer der sowjetischen Willkür, einen "normalen Unschuldigen". Dadurch gibt Rolin der Masse ein Gesicht – und nur dem einzelnen Schicksal gegenüber können wir Einfühlung entwickeln.
Er verrät auch, warum er sich mit einem Mann beschäftigte, dessen "Fachgebiet die Wolken" waren: Bei einem Besuch auf den Solowezki-Inseln im Weißen Meer, wo sich einer der ersten Gulags befand, stieß er auf ein Büchlein mit Briefen des deportierten Meteorologen Wangenheim an sein Töchterchen Eleonora (seine hübschen Zeichnungen sind im Buch abgebildet). Rolin fand das Zwiegespräch zwischen Vater und Tochter, "ergreifend". Ebenso ergreifend ist sein Buch über diesen Fall geworden.
Die Lagerhölle erweist sich als Ort der Zuflucht
Wangenheim war ein überzeugter Kommunist und leidenschaftlicher Wissenschaftler, erster Leiter des Vereinigten Hydro-Meteorologischen Dienstes der UdSSR; und nebenbei ein früher Klimaschützer, für den "die Zukunft der Sonnenenergie und der Windkraft gehört". Er wurde am 8. Januar 1934 aufgrund von irrsinnigen Anschuldigungen verhaftet und dann in das Arbeitslager auf den Solowezki-Inseln verfrachtet, ein ehemaliges Kloster.
Paradoxerweise besaß diese Lagerhölle einen Ort der Zuflucht: die erstaunlich gut bestückte, offenbar unzensierte Bibliothek mit russischen, französischen, deutschen und englischen Büchern. Der Ort muss eine Feste (und ein Fest) der Bildung, des Kosmopolitismus und der Intelligenz gewesen sein. Das ist ein kleiner Ausgleich, trotzdem fühlt sich der Wissenschaftler Wangenheim nicht mehr nützlich. Während er allmählich doch an der Partei zweifelt, kann er sich nur noch an zwei Dinge klammern: "die Liebe der Seinen und die Zuverlässigkeit seines Verstands".
Auch mit den eigenen jugendlichen Überzeugung rechnet der Autor ab
Rolins Abrechnung mit den Verirrungen des Kommunismus ist auch eine Abrechnung mit der eigenen jugendlichen Überzeugung. Er wird bitter ironisch, wenn er die absurden Vorwürfe aufzählt, die im Namen des ruhmreichen Sowjetsozialismus erhoben wurden. Und je verfahrener die Lage für Wangenheim wird, desto schwieriger wird es für uns, zwischen diesem und dem Autor Rolin zu unterscheiden.
Man liest Rolins Bericht mit angehaltenem Atem, mit feuchten Augen, mit Fassungslosigkeit und Empörung. Er hat – darf man es schreiben? – eine Spannung, die jeden dieser lächerlich-blutrünstigen skandinavischen Krimis um Längen übertrifft. Abschließend nur kurz, aber mit aller Anerkennung: Die Übersetzung ist überragend.