Olympia-Attentat von 1972

„Wir werden von Terroristen angegriffen“

10:33 Minuten
Shlomo Levy posiert mit einem historischen Foto neben der Gedenktafel im Olympischen Dorf in München für ein Foto.
Shlomo Levy im Olympischen Dorf in München: Er war damals einer der Dolmetscher der israelischen Mannschaft. © Deutschlandradio / Michael Brandt
Von Michael Brandt · 02.09.2022
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Die Zeitzeugen werden die Ereignisse nie vergessen: Am Morgen des 5. Septembers 1972 überfallen palästinensische Terroristen die israelische Olympia-Delegation. Am Ende sind alle elf Geiseln tot. Aus den heiteren Spielen von München wurde ein Trauma.
Shlomo Goren, der Oberrabbiner der israelischen Armee, ruft am 7. September 1972 auf dem Flughafen von Lod in Israel die Namen der elf getöteten Sportler – er singt dabei das Trauergebet: „El male rachamim“, „Gott lasse dein Erbarmen walten“.
Der damalige Israel-Korrespondent Zwi Schnabel: „Eine bedrückende Stille senkte sich über den Flugplatz Lod, als heute eine El-Al-Maschine die überlebenden israelischen Olympia-Sportler zurückbrachte. Zehn Särge und die verwaisten Gepäckstücke ihrer Kameraden brachten sie mit nach Hause. Der elfte Sarg wurde auf Wunsch der Familie von München direkt in die USA geflogen.“

Desaster zum Ende der Geiselnahme

Es ist der Sarg des Gewichthebers David Mark Berger. Er wurde in den USA geboren und soll dort begraben werden. Der 28 Jahre alte Gewichtheber war zwei Tage vorher in Geiselhaft auf dem Flugfeld Fürstenfeldbruck bei München erstickt, seine Leiche verbrannte.
Es war das desaströse Ende der missglückten Befreiungsaktion. Auf dem stockfinsteren Rollfeld des Flugplatzes lag auch Bundesgrenzschutzpolizist Klaus Bechler nur wenige Meter von Berger entfernt.
„David Berger, der schrie, er hatte auch noch Ruß in der Lunge, er hat also lange noch gelebt. Und das Schlimme war: Dann ist der Tank explodiert, dann kam das brennende Kerosin auf mich zu.“

Die Hoffnung von München

So endete am 5. September 1972 der Tag des Olympia-Attentats. Es war auch das Ende der eigentlich heiteren deutschen Olympischen Spiele, die mit Hoffnung und Fortschritt begonnen hatten. Sie sollten einen Neuanfang nach der nationalsozialistischen Olympiade von 1936 darstellen.
„Am 4.9. war ich im Stadion und habe die Goldmedaille gesehen von Ulrike Meyfarth. Wir haben auf einer Wolke geschwebt, als wenn wir die Goldmedaille gewonnen hätten.“ Der 30-jährige Klaus Bechler ist damals einer der jüngsten Polizisten bei der Hubschrauberstaffel des Bundesgrenzschutzes.
Auch er feiert mit den 7000 Athletinnen und Athleten aus 121 Nationen. Die israelische Delegation schaut sich an diesem Abend das Musical „Anatevka, der Fiedler auf dem Dach“ an.

Ich war apathisch

Auch mit dabei: Shlomo Levy. Er ist damals 30 Jahre alt, der israelische Student aus Tübingen ist einer der Dolmetscher der Mannschaft und wohnt mit der israelischen Delegation im Olympischen Dorf.
„Wir sind sehr spät zurück ins Dorf gekommen, ich glaube, das war vielleicht ein Uhr nachts, ich kann mich nicht genau erinnern. Und deswegen habe ich die Schüsse vielleicht überhaupt nicht gehört. Ich bin sehr tief eingeschlafen“, erzählt er.
Morgens, um kurz nach 4:30 Uhr dringen acht palästinensische Terroristen in die Unterkünfte der israelischen Athleten ein – bewaffnet mit Maschinenpistolen und Handgranaten. Zuvor mussten die Attentäter lediglich über einen Zaun am Olympischen Dorf klettern. An der Wohnungstür leisten die israelischen Sportler Widerstand. Einige werden dabei angeschossen.
Andere schlafen zunächst noch, darunter auch der Ringkämpfer Gad Tsobari: „Ich war apathisch. Dann realisierte ich: Wir werden von Terroristen angegriffen.“

Tsobaris Flucht gelingt

Die israelischen Athleten werden als Geiseln genommen, was erst einige Stunden später außerhalb des Olympischen Dorfs wahrgenommen wird.
Gad Tsobari erinnert sich, wie die Attentäter ihn, den Ringkämpfer, seinen Trainer Moshe Weinberg und den Gewichtheber David Berger eine Treppe heruntergeführt haben.
„Berger sagte: ‚Kommt Leute, lasst uns sie überfallen!‘ Aber scheinbar verstand einer der Terroristen, was er sagte und sofort steckte er mir die Kalaschinkow in den Bauch“, erzählt er.
Der 28-Jährige kann sich losreißen, rennt etwa 70 Meter über eine freie Fläche und hört hinter sich noch die Schüsse.

Journalisten rufen direkt in der Unterkunft an

Nur mit einem Schlafanzug bekleidet gelingt es Tsobari schließlich, im Pressezentrum Schutz zu finden. Dann verhört ihn die deutsche Polizei fünf Stunden lang.
Kurz nach sieben wird Shlomo Levy vom Telefon geweckt, während er noch in einer der Nachbarwohnungen schläft. Ein Jerusalemer Radio fragt ihn, was in München gerade los sei.
Nichts ahnend geht der damalige Student einfach vor die Tür und schaut nach: „Keine Antwort. Ich dachte, wahrscheinlich schläft er auch. Aber ich wusste nicht zu der Zeit, dass schon Terroristen da waren und die Israelis erschossen hatten“, sagt er.
Dann ein zweiter Anruf: „Dieses Mal war es ein Anruf aus Tel Aviv von der Zeitung ‚Maariv‘ und sie fragt mich fast dieselben Fragen.“

Fotos vom Haus der DDR aus

Shlomo Levy geht noch einmal vor das Haus. Erst als der israelische Mannschaftsarzt ihn durch ein Fenster per Handzeichen warnt, versteht er die Lage.
Mithilfe eines Polizisten gelingt ihm die Flucht ins Haus der DDR direkt gegenüber. Aus der vierten Etage, hinter einer Matratze versteckt, fotografiert der damalige Student, der bereits beim Fernsehen jobbte, von dort aus die Verhandlungen.
Die Welt solle erfahren, wer die Terroristen sind, findet Levy – und als Journalist meint er: „Hier so eine Story nicht fotografieren – das ist einfach verrückt. Nein, dann bleibe ich hier, egal, ob das gefährlich ist oder nicht, aber ich bleibe.“
So wie zahlreiche andere Kamerateams. Vor den Absperrungen im Olympischen Dorf sammeln sich Menschenmengen, während die Wettkämpfe bis zum Nachmittag weitergehen. Befreiungsversuche der Polizei werden live im Fernsehen übertragen – das bekommen auch die Terroristen mit – und die Einsätze müssen daher abgebrochen werden.

Unter den Augen der Weltöffentlichkeit

Stunde um Stunde gibt es neue Ultimaten. Die bewaffneten Attentäter verhandeln mit den Einsatzkräften und sprechen sogar immer wieder mit dem Bundesinnenminister – und zwar direkt vor dem Haus und damit unter den Augen der Weltöffentlichkeit.
Die Attentäter gehören zur Terrorgruppe „Schwarzer September“, damals unterstützt von der palästinensischen Fatah. Die Forderung der Geiselnehmer: Arabische Häftlinge in israelischen Gefängnissen sollen freigelassen werden, wie auch die beiden RAF-Terroristen Andreas Baader und Ulrike Meinhof. Die deutschen Verhandlungsführer, darunter auch der damalige Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher bieten sich selbst als Austauschgeiseln an.
Die Terroristen lehnen die Austauschgeiseln ab. Sie wollen in ein arabisches Land ausgeflogen werden.

Tipp des Innenministers: Seid freundlich

Zum Schein geht die Bundesregierung auf die Forderung der Geiselnehmer ein – und der Einsatz für Klaus Bechler beginnt, Hubschrauber-Co-Pilot beim Bundesgrenzschutz.
„Höchstwahrscheinlich sollen wir die Terroristen und die Geiseln vom Olympischen Dorf nach Fürstenfeldbruck fliegen. Ich habe gedacht: Mensch, die haben ja schon so viel erzählt, da wirst du nicht dran glauben“, erzählt er. „Dann kam der Innenminister und hat uns noch mal vorgewarnt: Die Sache hat auf deutschem Boden begonnen – die endet auch hier. Behaltet eure Helme auf, seid freundlich.“
„Wenn man in der Maschine sitzt und hinter einem sitzt jemand mit der Maschinenpistole. Die Leute waren alle bewaffnet – die hatten alle eine Kalaschnikow mit 150 Schuss Munition, Handgranaten. Das war furchtbar. Man konnte nix machen, nichts, als deutscher Polizist auf deutschem Boden und kann nicht helfen. Das ist furchtbar“, sagt er.

Fehler in Fürstenfeldbruck

Bechler habe seinem Vorgesetzten vor dem Abflug aus dem Olympischen Dorf noch gesagt, es seien acht Terroristen, nicht fünf. Eine Information, die anscheinend nie bei den wenigen Scharfschützen auf dem nahe gelegenen Militärflugplatz Fürstenfeldbruck ankam. Die Polizisten sollten die Geiseln befreien.
Der Befreiungsversuch endet in einem Blutbad. Am frühen Morgen des 6. Septembers sind alle elf israelischen Geiseln und ein Polizist tot. Drei der insgesamt acht Attentäter überleben.
Auf dem Schreibtisch von Klaus Bechler ist das Foto eines ausgebrannten Hubschraubers zu sehen.
Fotos auf dem Schreibtisch von Klaus Bechler erinnern an die schrecklichen Ereignisse vor 50 Jahren.© Deutschlandradio / Michael Brandt
Für Klaus Bechler ein Erlebnis, das Spuren hinterlässt. Bis heute träumt der 80-Jährige davon. Gad Tsobari geht es ähnlich.
Das Attentat von München hat sein Leben für immer verändert: „Ich träumte oft davon und konnte nicht glauben, dass ich entkommen war. Ich dachte, ich würde noch bei der Geiselnahme sein. Danach half mir harte Arbeit – das löste dann nach und nach die Spannung in meinem Kopf.“

IOC-Präsident: „The Games must go on!”

Zu der Trauerfeier im Olympiastadion kommen Tausende – dann verkündet der damalige IOC-Präsident Avery Brundage: „The Games must go on!” Die Spiele müssen weitergehen – nach nur einem Tag Unterbrechung.
Levy kann das nicht nachvollziehen: „Die Atmosphäre war wirklich ganz anders. Am Anfang war das alles wirklich so ganz begeistert. Alle Leute haben getanzt und gelacht und gegessen und es war wirklich schön. Aber danach – also ich war auf jeden Fall wirklich sehr traurig.“
Ringer Gad Tsobari und Polizist Klaus Bechler hätten einen kompletten Spielabbruch der Olympiade aber falsch gefunden: Es wäre eine Genugtuung für die Terroristen gewesen.
Das gesamte israelische Team reiste jedoch ab – mit ihnen im Gepäckraum des Flugzeugs die Särge ihrer Teamkollegen.
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