Rio de Janeiro erfindet sich neu
Die Vision einer modernen Metropole am Südatlantik: Die Olympischen Spielen im nächsten Jahr sollen Rio de Janeiro endgültig zu einem positiven Image verhelfen. Doch nicht überall ist man auf die Spiele gut zu sprechen - vor allem in den Favelas nicht.
Vor fast sechs Jahren, am 2. Oktober 2009, war es der damalige IOC-Präsident Jacques Rogge, der in Kopenhagen den Umschlag öffnete und das Geheimnis lüftete, welche Stadt Olympia 2016 ausrichten würde. Grenzenloser Jubel bei der brasilianischen Delegation in Kopenhagen, grenzenloser Jubel in der brasilianischen Metropole am Zuckerhut: Rio de Janeiro hatte sich gegen Chicago, Tokio und im letzten Wahlgang gegen das favorisierte Madrid durchgesetzt. Brasilien steige aus der Zweitklassigkeit auf, jubelte freudentrunken der damalige Staatspräsident Lula da Silva.
Und er darf sie veranstalten: Eduardo Paes, der Bürgermeister von Rio de Janeiro. In dem kleinen Saal in einem Luxushotel an der Copacabana ist kaum Platz für die vielen Medienvertreter. Paes soll wieder einmal darlegen, wie der aktuelle Stand der Vorbereitungen ist. Die Medien haben ihn zuletzt nicht gerade freundlich behandelt. Ein Jahr vor Beginn der Olympischen Spiele gleicht die Stadt einer Großbaustelle, die Kriminalität ist zuletzt wieder angestiegen, von Olympiastimmung, gar Vorfreude – keine Spur. Doch das soll sich ändern. Bürgermeister Eduardo Paes will mit und durch Olympia Rio de Janeiro ein neues Gesicht geben. Und er hat ein Vorbild:
"Mein Modell ist Barcelona. Ich habe mit dem Bürgermeister von Barcelona gesprochen und er sagte mir: Es gibt zwei Arten von Olympia. Es gibt Spiele, die eine Stadt benutzen, und es gibt Städte, die die Spiele benutzen. Barcelona nutzte die Olympischen Spiele, um sich zu verändern. Und das war von Anfang an mein Mantra: Ich werde Olympia dazu nutzen, diese Stadt zu verändern."
Nirgends in Rio de Janeiro ist die Veränderung größer und sichtbarer als in der alten Hafengegend im Stadtzentrum. Hier entsteht Porto Maravilha, übersetzt: der Wunderhafen. In den vergangenen 40 Jahren hat der Hafen einen steten Niedergang erlebt. Über eine Million Quadratmeter Wohn- und Büroflächen stehen derzeit leer, viele historische Gebäude sind vom Verfall bedroht. Kriminalität und Prostitution gaben noch bis vor kurzem in der Hafengegend den Ton an. Die Cariocas mieden das Viertel. Der Umbau von Porto Maravilha soll diesen Niedergang beenden. Bürotürme, Restaurants und Piers für Unterhaltung und Vergnügen entstehen. Alberto Gomez Silva ist der Geschäftsführer des Unternehmens, das für den luxuriösen Umbau des alten Zentrums verantwortlich zeichnet.
"Dies ist mit rund fünf Millionen Quadratmetern das größte urbane Bauprojekt Brasiliens, eines der größten weltweit. Wir glauben, dass man die positiven Effekte der Umgestaltung der Hafengegend schon im Olympiajahr spüren wird. Einige Projekte werden dann auch schon fertig sein. Aber der eigentliche Effekt wird sich erst in den nächsten Jahren zeigen. Und dann könnte Porto Maravilha als mutiges Beispiel für andere Städte dienen, nicht nur in Brasilien, sondern auf der ganzen Welt."
Porto Maravilha, der neue Wunderhafen, hat mit den Olympischen Spielen nur am Rande zu tun. Doch ohne die Olympischen Spiele gäbe es Porto Maravilha nicht. Der Olympia-Zuschlag hat den Wunderhafen erst möglich gemacht.
"Porto Maravilha wurde im selben Jahr konzipiert, als auch der Zuschlag für die Olympischen Spiele erfolgte, also 2009. Und es ist gut, dass wir durch die Olympischen Spiele den Druck haben, wichtige Bauten fertigzustellen, um die Olympia-Besucher zu empfangen. Wer zu den Olympischen Spielen nach Rio kommt, wird eine andere Stadt kennenlernen."
Drei Milliarden Euro kostet die Neugestaltung des Hafens
Umgerechnet knapp drei Milliarden Euro soll die Neugestaltung von Porto Maravilha kosten. Geplant ist, 700 Kilometer neue Wasser-, Abwasser-, Strom-, Gas- und Telekommunikations-Leitungen zu verlegen und vier Kilometer Straßentunnel zu bauen. Dazu kommen rund 650.000 Quadratmeter neue Gehwege, 17 Kilometer Radwege und drei neue Kläranlagen. Vorgesehen ist auch, allein im Hafengelände 70 Kilometer des Straßennetzes vollständig zu sanieren. Und wo sollen die Menschen bleiben, die heute in dieser Gegend leben? Der Soziologe Ignacio Cano aus Rio de Janeiro warnt:
"Durch dieses Projekt soll das heruntergekommene Zentrum Rios wieder neu belebt werden. Aber es besteht die Gefahr, dass die Menschen, die dort leben, vertrieben werden. Und wer raus muss, der bekommt leider nicht genug Geld, um sich eine gleichwertige neue Wohnung zu kaufen. Die meisten sind dann gezwungen, in die entlegene Peripherie zu ziehen."
Ein Schicksal, das auch vielen Bewohnern der Vila Autódromo in Barra da Tijuca blüht. Die kleine Favela liegt unmittelbar neben dem Gelände, auf dem gerade der olympische Park entsteht. Doch die Bewohner des Armenviertels haben mit Olympia nichts am Hut. Sie sind wütend, verzweifelt und verletzt. Maria da Penhas Gesicht ist blutüberströmt.
"Ich war auf dem Weg zu meinem Nachbarn, um ihn zu verteidigen. Sie wollen seine Familie mit zwei Kindern und einem Rentner mit Gewalt rausschmeißen. Wir haben eine Menschenkette um das Haus gebildet, um die Polizei zu stoppen. Doch die Einheit rückte vor, und einer hat mir mit einem Schlagstock ins Gesicht geschlagen. Wie feige! Sie haben auf alle eingeknüppelt."
Vor der Fußball-WM im vergangenen Jahr wurden in allen zwölf WM-Austragungssorten Bewohner der Favelas enteignet. Jetzt - vor den Olympischen Spielen - ist es nicht anders. Die Favela stört bei dem Hochglanz-Event Olympische Spiele. Der Soziologe Lucas Faulhaber dokumentiert seit Jahren die Enteignungen und Räumungen vor Olympia. Er kennt die Gewalt, mit der die Stadt vorgeht.
"Sie kommen einfach und markieren die Häuser mit einer Nummer – ohne zu fragen, ob man denn aus dem eigenen Haus raus will. Sie setzen die Leute auf die Straße, ohne dass jemand überhaupt das Projekt erklärt. Sie räumen die Häuser, obwohl es gegenteilige Gerichtsbeschlüsse gibt. Sie fahren einfach mit einem Bulldozer in die Siedlung rein und machen alles platt."
Barra da Tijuca im Westen der Stadt ist die Boom-Region in Rio. Nirgends wächst Rio schneller. Am wertvollsten sind dabei die Grundstücke entlang des 18 Kilometer langen Strandes. Hier entstehen Luxus-Wohnanlagen mit Apartments, für die Millionensummen gezahlt werden. Hier lebt Rios neue Oberschicht. Da stören die "ungeliebten Nachbarn" in den Favelas. Deshalb sollen sie weg.
Bewohner der Favelas haben keine Lobby
Die Bewohner der angrenzenden Favelas haben keine Lobby. Aber sie kämpfen. In der Vila Autódromo hilft ihnen ein Bürgeranwalt. Joao Helvécio de Carvalho hat sofort bei einer Richterin gegen die gewaltsame Räumung der Häuser protestiert und vorerst einen Teilerfolg errungen.
An diesem Tag haben die Favela-Bewohner noch einmal Glück gehabt. Die schwerbewaffnete Spezialeinheit zieht ab. Aber sie wird zurückkehren, das ist sicher:
"Vielleicht ist das nur ein Tagessieg. Aber sie werden uns ertragen müssen. Wir sind Brasilianer und haben ein Recht auf dieses Stück Land. Die Stadt kann nicht einfach hier ankommen und uns Arbeiter verprügeln."
"Die Olympischen Spiele? Die werden eine riesige Enttäuschung, wie schon die WM. Das ist Land korrupt. Sie enteignen Armensiedlungen und benutzen die Olympischen Spiele dabei als Vorwand."
38 Milliarden Reais, rund zehn Milliarden Euro, werden die Spiele am Zuckerhut verschlingen. In fünf Zonen im Großraum Rio werden sie hauptsächlich stattfinden. In Barra da Tijuca im Westen der Stadt, in Deodoro im Norden, an der Copacabana und im Stadtteil Maracanã. Dazu kommt noch die Guanabara-Bucht, wo die Segelwettbewerbe stattfinden sollen. Diese malerische Bucht, eingerahmt von fantastischen Bergen, birgt allerdings ein Problem, das schon seit dem Olympia-Zuschlag 2009 für Ärger sorgt, und an dem sich auch bis zu den Spielen nichts ändern dürfte.
Mario Moscatelli stapft in Gummistiefeln durch den Uferbereich. Tote Tiere, Plastikmüll, TV-Geräte, Sofas, Schuhe, Wasserkessel schwimmen im Wasser. Das Gewässer stinkt bestialisch, wie eine Kloake. Moscatelli, ein renommierter Biologe und Ökologe, verzieht das Gesicht.
"Nein, das ist kein Wasser, das ist eine Jauchegrube. Nur bei Hochwasser wird die Wasserqualität besser. Dann kommt etwas Sauerstoff in das Wasser der Bucht. Aber sie ist immer noch so verschmutzt wie am Tag der Olympia-Vergabe 2009. Fast alle Flüsse in der Bucht sind tot, darin schwimmen riesige Mengen an Müll. Die Behörden haben nur ein wenig Make Up aufgetragen, allerdings ein Make Up von schlechtester Qualität."
Mario Moscatelli kennt die Guanabara Bucht wie kein Zweiter. Jahrelang hat er ganz in der Nähe versucht, Mangroven aufzuforsten, um die Gewässer auf natürliche Weise zu reinigen. Ohne Erfolg. Zu groß ist die Müllmenge und zu verseucht sind die Zuflüsse, die in die Bucht strömen. Und hier sollen in eine Jahr Olympia-Sportler um Medaillen kämpfen. Mario Moscatelli sorgt sich um die Athleten.
"Zuletzt fand man hier angeblich eine Superbakterie aus Krankenhausabfällen. Das kann ich nicht beurteilen; aber ich kann garantieren, dass man Hepatitis bekommt, wenn man hier ins Wasser fällt. Oder Magenprobleme, Hautausschläge. Aber das ist ja auch logisch. Das Wasser hier ist eine Latrine. Wir bewegen uns auf ein großes Umwelt-Fiasko bei Olympia zu."
Verschmutzung ist überall in der Stadt sichtbar
Nach Jahren der Dekadenz, des sichtbaren Verfalls, nimmt die Stadt die Olympischen Spiele als Katalysator, um sich zu erneuern. Mancherorts wird das gut gelingen, an anderen Stellen weniger gut. Es wird Enttäuschungen geben, das weiß auch Bürgermeister Eduardo Paes. Doch für ihn zählen der Wille, der Ehrgeiz und der Mut. All das lässt er sich nicht absprechen, der Kritik zum Trotz.
"Überall in der Stadt sind Veränderungen sichtbar. Die erhöhte Stadtautobahn Perimetral ist weg. Dieses Monstrum hat die Stadt von der Guanabara-Bucht getrennt. Die starke Verschmutzung des Wassers rührt sicher daher. Die Cariocas konnten ihre Bucht ja gar nicht mehr sehen, sie war ihnen daher auch gar nicht mehr wichtig. Die Stadt steht vor Schwierigkeiten und überwindet Hindernisse, die enorm sind. Wir tun, was möglich ist angesichts dieser Probleme."
Am geringsten spürbar sind die Probleme von Rio gewöhnlich an der Copacabana, dem berühmtesten Strand der Welt. Jeden Tag tummeln sich hier tausende Badegäste und Sonnenanbeter. Es ist aber auch die größte Freisportanlage Rios. Im Sand und auf der Promenade traben die Jogger, andere stählen sich an den zahlreichen Trimmgeräten. Und überall wird Beachvolleyball gespielt.
In einem Jahr bei Olympia werden hier auch die Beachvolleyball-Wettbewerbe stattfinden. Jackie Silva freut sich schon jetzt auf das Spektakel an diesem legendären Strand.
"An der Copacabana wurde schon immer Beachvolleyball gespielt. Hier wurde dieser Sport geboren. Überall stehen Netze. Es wird immer viel gefeiert, die Atmosphäre ist einzigartig. Brasilien wird bei Olympia sicher gut abschneiden, ins Finale kommen."
Jackie Silva muss es wissen. Sie ist die erste Frau, die für Brasilien olympisches Gold holte. 1996 bei den Spielen in Atlanta im Beachvolleyball. Jackie Silva geriet vor sechs Jahren, als Rio zum Austragungsort gewählt wurde, schier aus dem Häuschen. Olympische Spiele im eigenen Land, in ihrer Heimatstadt. Doch ein Jahr vor den Wettbewerben klingt sie alles andere als enthusiastisch. Trotz aller Veränderungen in der Stadt: Irgendwie hätten Brasilien und Rio eine Chance verpasst, meint sie.
"Das müsste jetzt eigentlich eine Zeit mit mehr Vorfreude sein. Aber Brasilien macht gerade keine gute Zeit durch. Der Sport steht nicht im Mittelpunkt. Es geht vielmehr um Wirtschaft, um Inflation, um Kriminalität. Das geht leider in die falsche Richtung. Es müsste viel mehr über Sport geredet werden."