"1968 im Sport: Eine historische Bilderreise"
Hrsg. von Christian Becker, Margret Beck und Brigitte Berendonk
Arete Verlag 2018
128 Seiten, 18 Euro
Als der Sport politisch wurde
Die 68er haben den Sport politischer gemacht, meint der Sporthistoriker Christian Becker. Nicht nur die Black-Power-Geste war nachhaltig, sondern auch die Entwicklung des Frauensports zum Hochleistungsniveau.
1968 im Sport – das sind Jahrhundertsprünge und die erhobene schwarze Faust des Black Power bei den Olympischen Spielen in Mexiko. Das Politische dieses Sport-Jahres erschöpfe sich aber nicht in den Black-Power-Gesten der beiden 200-Meter-Läufer Tommie Smith und John Carlos während der Siegerehrung zum 200-Meter-Lauf der Herren, sagt der Autor Christian Becker.
"Die Fragen, die die 68er umtrieben, haben sich auf gewisse Weise auch im Sport niedergeschlagen", betont er. Teilnehmer der Olympischen Spiele 1968 in Mexiko-City hätten in Interviews unisono berichtet, "dass 68 für sie der Startpunkt einer politischen Bewusstseinswerdung gewesen ist", so Becker.
'68 änderte den Freizeitsport
Auch bei deutschen Sportlern sei das Bewusstsein gewachsen, dass sie sich in einem öffentlichen Raum bewegen und dadurch eine hervorgehobene Position auch jenseits der eigenen Karriereinteressen haben. Vor allem im Freizeitsport habe das Jahr 1968 Spuren hinterlassen:
"Vereinssport lebt von der Freiwilligkeit, lebt von der Teilhabe, von flachen Hierarchien. Von daher waren dort Maxime, die vielleicht anderswo in der Gesellschaft erst viel später beherzigt wurden, sehr viel früher rangekommen."
Sehr deutlich sei der Nachhall aber im Hinblick auf die Teilhabe von Frauen am Leistungssport, wie Becker erläutert:
"'68 war der Anteil der Frauen in den Vereinen bei 20 Prozent, und die Teilnehmerinnen machten bei den Olympischen Spielen in Mexiko 16 Prozent aus. Und heute gibt es keine Sportart und keine Disziplin mehr, die bei den Olympischen Spielen ausschließlich den Männern vorbehalten wäre."
Das Interview im Wortlaut:
Jörg Degenhardt: Prager Frühling, Rudi Dutschke, Demonstrationen gegen den Vietnam-Krieg – das Jahr 68 ist mit vielen Bildern verbunden. Nur an Bilder vom Sport denken die wenigsten. Einigen fällt vielleicht das schon Erwähnte ein, mit Tommie Smith und John Carlos, der Protest gegen die Rassentrennung in den USA. Aber was gab es sonst noch an Stimmen und Aktionen? Darüber habe ich mit dem Sporthistoriker Christian Becker gesprochen. Von ihm herausgegeben ist gerade das Buch "1968 im Sport" erschienen. Wie politisch war der Sport vor 50 Jahren, abgesehen von der Black-Power-Geste?
Christian Becker: Grundsätzlich, würde ich sagen, war der Sport nicht weniger oder nicht mehr politisch als heute. Der Sport hat seine politische Aufgabe darin, sein Gelingen zu organisieren und für seine bestmöglichen Bedingungen zu sorgen. Nur ist vielleicht die Sichtbarkeit des Politischen mittlerweile deutlich gestiegen gegenüber 1968. Aber wenn wir auf die einzelnen Kapitel in dem Buch, wenn ich jetzt darauf verweisen darf, schauen, dann sieht man, dass das Politische natürlich zahlreiche Facetten hat und sich jetzt nicht in der berühmten Black-Power-Geste von 1968 erschöpft.
Darüber hinaus stellen sich natürlich Fragen der Teilnahme, der Gleichberechtigung, insbesondere der Frauen, oder auch des Einflusses der Jugend auf den Sport 68 genauso. Die Fragen, die die 68er umtrieben, haben sich auf gewisse Weise auch im Sport niedergeschlagen, auch wenn der Sport jetzt kein Feld gewesen ist, auf dem sich die 68er-Bewegung bewusst getummelt hat oder auf dem die 68er-Bewegung Mitstreiter gesucht hätte.
Sport als politische Bühne
Degenhardt: Ich will noch mal auf diese Black-Power-Geste zurückkommen. Smith und Carlos wurden seinerzeit in Mexico City nach ihrer Aktion ja ausgebuht. Man könnte natürlich generell die Frage stellen: Warum musste der Sport überhaupt politisch aufgeladen werden?
Becker: Ja, dass sie ausgebuht wurden, hängt natürlich ganz stark damit zusammen, dass insbesondere von den Sportfunktionären die Chimäre aufrechterhalten wurde, dass der Sport per se unpolitisch sei. Und das hatte sich auch in den Zuschauerköpfen derart verankert, dass man da mit dieser natürlich auch bewusst provokanten Geste der beiden amerikanischen 200-Meter-Läufer wenig anfangen konnte beziehungsweise sich darüber ärgerte. Der Sport muss nicht gesondert oder extra politisch aufgeladen werden. Er ist einfach dadurch, dass er sich im öffentlichen Raum abspielt, aus sich heraus kann er als politische Bühne zumindest genutzt werden.
Degenhardt: Wie rebellisch im Zusammenhang mit den 68ern, wenn ich das mal so etwas salopp sagen darf, waren eigentlich die Sportler im geteilten Deutschland?
Becker: Da gibt es wenig Zeugnisse. Rebellisch kann man sie nicht bezeichnen, sie wurden aber auch von ihren Beratern, oder was früher Sportmanagement anbelangt, bewusst als unrebellisch transportiert oder gezeigt. In dem Bildband gibt es die Gegenüberstellung von Johan Cruyff, der von seinem Management bewusst als Popstar, als Rebell dargestellt wird, während Franz Beckenbauer als braver, biederer Familienvater transportiert wird.
Degenhardt: Sie haben auch Manfred Wolke mit in ihren Band aufgenommen, einen der wenigen ostdeutschen Sportler.
Becker: Genau. Manfred Wolke steht jetzt auch nicht wirklich in Verdacht, ein 68er gewesen zu sein. Ich wollte an seinem Beispiel zeigen, welche Brüche es in den Lebensläufen von DDR-Sportlern gab, die um 68 herum erfolgreich waren. Manfred Wolke war 1968 Box-Olympiasieger geworden, hatte daraufhin 1972 die Ehre, als erster Fahnenträger der eigenständigen DDR-Mannschaft mit eigenen Emblemen die DDR-Flagge ins Münchener Olympiastadion zu tragen, war natürlich dann wie einer von vielen DDR-Bürgern 1989/90 von Arbeitslosigkeit bedroht und ist dann in den vereinigten bundesdeutschen Profiboxsport gegangen und dort dann auch zunächst sehr erfolgreich gewesen, hat dann aber aus seiner Sicht zumindest ein unrühmliches Ende im Sauerland-Stall gefunden.
Degenhardt: Er war der Trainer auch von Henry Maske, das wollen wir nicht unterschlagen.
Becker: Von Henry Maske und Axel Schulz, genau, und hat dann sich bitter darüber beklagt, dass der Sauerland-Stall seinen Vertrag nicht verlängert hat.
Mehr Frauen im Sport
Degenhardt: Herr Becker, was würden Sie sagen, was hat der 68er-Jahrgang oder die Unruhen 68 im Gefolge dessen, was alles passiert ist auch an politischen Entwicklungen, für die heutige Entwicklung des Sports zu bedeuten? Was hat das den Athleten gebracht, vielleicht auch bezogen auf den Breitensport? Wir haben jetzt über den Hochleistungssport, über den Profisport gesprochen, aber es gibt ja sicherlich Auswirkungen auch auf den Breitensport?
Becker: Die Zeitzeugen in dem Band sind größtenteils Olympiateilnehmer 68 gewesen und berichten eigentlich unisono davon, dass 68 für sie der Startpunkt einer politischen Bewusstseinswerdung gewesen ist. Von daher kann man sagen, auch wenn die bundesdeutschen oder die deutschen Sportler an sich nicht politisch agiert haben, ist zumindest ein Bewusstsein dafür gewachsen, in welchem Raum man sich bewegt als hervorgehobener Sportler. Was den Breitensport anbelangt, kann man jetzt nicht unmittelbar sagen, dass die 68er oder die 68er-Bewegung den Sport in einer gewissen Weise geprägt hätte. Aber Dinge, die ohnehin schwanger waren im Sport, sind dadurch möglicherweise beschleunigt worden.
Degenhardt: Zum Beispiel?
Becker: Sport für alle, Freizeitsport, Breitensport, Einflüsse, dass der Sport sich differenziert nach Sportarten und dass die Frauen einen größeren Anteil haben. Sie müssen sich vorstellen, 1968 war der Anteil von Frauen in Vereinen bei 20 Prozent und die Teilnehmerinnen machten bei den Olympischen Spielen in Mexiko 16 Prozent aus, und heute gibt es keine Sportart und keine Disziplin mehr, die bei den Olympischen Spielen ausschließlich Männern vorbehalten wäre.
Degenhardt: Sie sagten gerade, 68 war für viele Sportler so eine Art Startpunkt, Ausgangspunkt für eine neue Entwicklung. Das heißt also, der Sport hat länger gebraucht als andere Gesellschaftsbereiche, bis sich da neue Ideen durchgesetzt haben, eben die 68er-Ideen?
Becker: Ja und nein. Der Sport wird zum Teil als Nachzügler betrachtet, auf der anderen Seite kann man, wenn man sich jetzt die Vereinsebene anschaut, sagen, dass natürlich da Formen von Mitbestimmung und Demokratie sehr viel früher und sehr viel breiter ausgeprägt waren als in anderen gesellschaftlichen Bereichen. Der Vereinssport lebt von der Freiwilligkeit, lebt von der Teilhabe und von flachen Hierarchien. Von daher waren dort Maximen, die vielleicht anderswo in der Gesellschaft viel später beherzigt wurden, sehr viel früher angekommen.
Kritische Geister unter den Sportlern
Degenhardt: Wo sind eigentlich heute die kritischen Geister unter den Sportlern? Ich will noch mal eine Brücke schlagen zum Ausgangspunkt von Tommie Smith und John Carlos zu Colin Kaepernick, dem Footballspieler, der beim Abspielen der amerikanischen Hymne nicht aufstehen wollte. Nehmen wir das einfach nur nicht wahr, weil die Sportwelt mittlerweile so vielgestaltig ist und es so viele Verbreitungswege auch gibt, um seine eigene Meinung zu artikulieren - verglichen mit 68?
Becker: Der Kaepernick ist sicherlich ein exponiertes Beispiel und ist durchaus in Analogie zu sehen oder in Kontinuität zu Smith und Carlos. Darüber hinaus sind Sportler eben erst mal primär daran interessiert, ihre eigene Berufskarriere vorzubereiten und anzubahnen. Aber ich glaube, dass die Sportler auch verstanden haben, dass sie bestimmte Interessen eben nur gemeinsam vertreten können und dass, wenn jeder auf sich allein zurückgeworfen ist, das für eine Karriere noch immer nur förderlich ist.
Degenhardt: Christian Becker, vielen Dank für das Gespräch! "1968 im Sport" heißt das Buch, das Sie jetzt herausgegeben haben, erschienen ist es im Arete Verlag mit 124 Seiten zum Preis von 18 Euro. Vielen Dank!
Becker: Ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.