Omer Bartov: "Anatomie eines Genozids - Vom Leben und Sterben einer Stadt namens Buczacz"
Aus dem amerikanischen Englisch von Anselm Bühling.
Suhrkamp: Jüdischer Verlag, Berlin 2021
486 Seiten, 28 Euro
Gedenkbuch für eine Stadt am Abgrund
06:05 Minuten
Die Stadt Buczacz in der heutigen Ukraine wurde über Jahrhunderte zwischen verschiedenen Mächten hin- und hergezerrt. Mit einer Konstante: Juden wurden bedroht, vertrieben oder ermordet. Omer Bartovs Studie ist zugleich Analyse und Gedenkbuch.
Noch währen des Zweiten Weltkrieges wurden zur Erinnerung an die vernichteten jüdischen Gemeinden Osteuropas sogenannte "Yizkor-Bücher" geschrieben, mit denen der Ermordeten einer Stadt oder Region gedacht wurde. Durch die Studie "Anatomie eines Genozids" des israelisch-amerikanischen Historikers Omer Bartov weht der Wind eines solches Yizkor-Buches. Bartov beschreibt das "Leben und Sterben einer Stadt namens Buczacz", die heute in der Ukraine liegt und in den letzten Jahrhunderten zwischen Reichen und Nationalstaaten hin- und hergezerrt wurde.
Für ein Shtetl ist es zu groß, für eine galizische Metropole zu klein, trotzdem hat es seine Spuren hinterlassen. Die englischsprachige Wikipedia listet eine Reihe von bedeutenden Personen aus der Stadt wie den Schriftsteller S.Y. Agnon und den Ethnographen Volodymyr Hnatiuk auf – hilfreich unterteilt nach "Ukrainer", "Polen", "Juden" und "unbekannte Nationalität".
Verfolgung und Ermordung von Juden lange vor 1939
Damit sind die Spannungen umrissen, die Buczacz prägen. Die Habsburgmonarchie kann die kollidierenden Nationalismen noch deckeln, der Erste Weltkrieg destabilisiert die ganze Region. Kurz gehört das Land zur Westukraine, einen Monat lang hat es die Rote Armee besetzt, dann gehört es zu Polen, und zu den Gebieten, die laut Geheimprotokoll des Hitler-Stalin-Pakts nach einer Invasion zum sowjetischen Einflussbereich gehören. Die Mächteverhältnisse ändern sich, mit einer Konstante: die Juden von Buczacz werden bedroht, vertrieben oder einfach ermordet, schon lange vor 1939.
Neben dem späteren Nobelpreisträger Agnon gehören auch Simon Wiesenthal und Fania Freud, die spätere Ehefrau von Gershom Scholem, zu den Söhnen und Töchtern der Stadt, aber so eingehend Bartov das jüdische Leben in Buczacz schreibt, es ist keine Hommage an das blühende Leben Ostgaliziens, das über Nacht zerstört wird, im Gegenteil.
Der Historiker Salo Baron hat sich in einem berühmten Vortrag einmal gegen jüdische Geschichtsschreibung als reine "Leidensgeschichte" ausgesprochen und stattdessen dafür plädiert, sie als Teil ihrer Umgebung zu verstehen. Eben das gelingt Bartov: Er zeigt Juden als Teil einer Gesellschaft, auch als Akteure, sozial, kulturell, politisch. Das Leid gehört dazu. Bartov beschreibt den virulenten Antisemitismus - mit einigen Parallelen zu Deutschland. So hielt sich auch in Buczacz das Gerücht, Juden hätten nicht im Ersten Weltkrieg gekämpft - auf den Zionismus und Emigration nach Palästina nur eine schleppende Antwort war.
Genaue Beschreibung von Verwicklungen, Tätern und Opfern
Mit dem Einmarsch der Deutschen wird aus diesen Spannungen offenes und kaltes Morden. Bartov konzentriert sich neben dem militärischen auch auf den zivilen Teil des Besatzungsapparates und zeigt damit einmal mehr, wie ganz normale Deutsche profitiert und mitgemacht haben.
Obwohl auch sein Kapitel zu polnischer und ukrainischer Beteiligung an diesen Morden, wie in den Arbeiten des polnisch-amerikanischen Historikers Jan Gross, mit "Nachbarn" überschrieben ist, geht es Bartov nicht um eine sicherlich notwendige erinnerungspolitische Intervention, nur um eine genaue Beschreibung von Verwicklungen, eindeutigen Tätern, eindeutigen Opfern, und Grautönen dazwischen. Am Ende kommt er nur zu dem überraschenden Resümee, dass "alle drei Bevölkerungsgruppen, die in der Stadt Buczacz und dem umliegenden Bezirk lebten, äußerstes Leid erfahren haben".
Ein Teil von Bartovs Familie kommt aus Buczacz, das Buch beginnt mit einem Gespräch mit seiner inzwischen verstorbenen Mutter. Doch es ist zu viel Zeit vergangen, um das genaue Schicksal zu rekonstruieren. Diese Erinnerungsfragmente sind nicht der Beginn einer persönlichen Familienchronik, und sind es doch: "Wir alle tragen tief in uns ein Bruchstück der Erinnerung an die langen Jahrhunderte, in denen wir, im Guten wie im Schlechten, am Ende der Welt lebten, ek velt, wie meine Mutter auf Jiddisch sagte." Bartovs Genozidanalyse ist ein Gedenkbuch für eine Stadt, die stets am Abgrund stand, und über ihren langen Sturz ins Nichts.