Onkolyzer für Patientendaten

Von Susanne Nessler |
Wie findet man schnell heraus, welche die beste Therapie für einen Krebspatienten ist? Die Berliner Charité und das Hasso Plattner Institut in Potsdam haben den Onkolyzer entwickelt: eine Software für personalisierte Krebsforschung und -behandlung direkt am Krankenbett via Tablet-PC.
Christian Regenbrecht ist Tumorspezialist, er sitzt im Labor und untersucht Krebszellen. Krebszellen von Patienten, die an der Charité in Berlin behandelt werden. Er analysiert, auf welche Medikamente die Zellen am besten reagieren, damit die Ärzte auf Station gezielt behandeln können. Christian Regenbrecht sieht die Erkrankten nicht, für die Analyse ist das nicht notwendig. Aber er benötigt viele Patientendaten für seine Arbeit: Blutgruppe, Alter, bisherige Behandlungen, Allergien, Vorerkrankungen und so weiter.

"Ab der Aufnahme eines Patienten wird eine elektronische Krankenakte angelegt, das heißt aber nicht, dass es nur eine Datenbank gibt, sondern die unterschiedlichen Institute und Kliniken haben eigene Datenbanken, die Verwaltung hat eine eigene Datenbank. Wir haben also dezentral viele Daten zu einem Patienten und man muss die erst mal vereinen."

Die meisten Krankendaten liegen heute digital vor. Und trotzdem: Bis vor Kurzem musste sich der Krebsforscher diese Daten mühsam zusammen suchen. Das hieß: E-Mails schreiben, telefonieren, noch mal nachfragen, bis dann endlich die gewünschten Informationen zur Verfügung standen:

"Das hat natürlich viel Zeit benötigt."

Zeit, die Christian Regenbrecht heute in die Forschung investieren kann. Denn seit einem halben Jahr gibt es den Onkolyzer an der Berliner Charité. Ein System, das in Windeseile die gesuchten Informationen aus den verschiedenen Datenbanken des Universitätsklinikums zusammenführt. Die neue Software läuft auf einem iPad:

"Hier kann man wie bei einer Suchmaschine, wie bei Google einfach einen Suchbegriff eingeben. Zum Beispiel das Colonkarzinom, und sagen suchen. Dass Schöne ist, auf den Fingerklick eine Sekunde später hab ich die Daten da, das ist live von den Servern der Charité auf das iPad übertragen. Ein Klick auf Patientendetails öffnet mir die Diagnose und Anzahl der OPs und wann sie stattgefunden haben."

Der Onkologe ist begeistert. Ein Fingertipp und schon sind Krankenakten, OP-Berichte, Behandlungspläne und Laborwerte auf dem iPad zu sehen - und zwar innerhalb von weniger als einer Sekunde. IT-Technologen vom Hasso Plattner Institut haben die Plattform entwickelt. Das war eine interessante Kooperation sagt Matthieu Schapranow:

"Grundsätzlich komme ich als Softwaresystemtechniker ja nicht mit Medizinern in Berührung, außer ich habe selber irgendein Leiden. Deshalb sind wir vom Hasso Plattner in die Charité gegangen und haben uns mit den Medizinern nicht nur in ein Zimmer gesetzt, sondern haben denen über die Schultern geguckt, und gesagt was macht ihr jeden Tag, was sind eure Probleme, und was ist, was am meisten Zeit konsumiert. Jede Sekunde, die man da spart, kann aus unserer Sicht Leben retten."

Die Software hat auf Milliarden Patientendaten Zugriff. Das klingt viel. Doch jede Person, die in der Klinik mit einer Krebsdiagnose behandelt wird, umfasst allein 500.000 Einzeldaten, sagt Matthieu Schapranow. Diese lassen sich entweder mit dem Onkolyzer einzeln, für die individuelle Behandlung anschauen, oder aber – und hier schlägt das Forscherherz gleich höher - im Vergleich mit anderen Patienten für die Forschung nutzen. Das hat enorme Vorteile für die Entwicklung neuer Therapien. Denn der Onkolyzer stellt nicht nur Daten zusammen, sondern er analysiert sie auch nach verschiedenen Kriterien.

So erkennt Tumorforscher Christian Regenbrecht jetzt nach ein paar Klicks, welche Behandlungsformen sich bei welchen Patientengruppen besonders gut bewähren und welche eben nur sehr schlecht funktionieren:

"Konservative Schätzungen gehen zum Beispiel im Fall von Brustkrebs davon aus, dass ungefähr 45 Prozent der Frauen nicht optimal von dieser Chemotherapie profitieren. Wenn man im Vorfeld identifizieren kann, bei welcher Frau der Tumor in der Brust nach der OP trotz keiner Chemotherapie, nicht mehr wiederkommen wird, keine Metastasen bildet, dann kann man der Frau die Chemotherapie, die Folgen der Chemotherapie und sehr viel Leid ersparen. Volkswirtschaftlich kann man damit auch noch Kosten senken: Eine Chemotherapie kostet derzeit zwischen 60.000 und 100.000 Euro, je nachdem welche Wirkstoffe man benutzt."

In der Medizin gelten normalerweise konkrete Therapievorgaben. In den sogenannten Leitlinien sind die Standards festgelegt, nach denen alle Patienten gleich behandelt werden. Doch was vielen hilft, hilft eben doch nicht allen. Schon heute behandeln Ärzte deshalb an vielen Universitätskliniken nach individuellen Therapieplänen. Eine Entwicklung, die der Onkolyzer verstärken wird. Denn die Software liefert schnell die Datenbasis, mit der sich neue Therapien auch begründen lassen.

Konkret heißt das, jeder Patient an der Charité ist über den Onkoloyzer Teil einer großen Krebsstudie. Langfristig lassen sich damit nicht nur Fragen der Behandlung, sondern auch grundsätzliche Erkenntnisse zur Entstehung von Krebs gewinnen, hofft Christian Regenbrecht:

"Es gibt in jedem Lebensalter typische Tumorerkrankungen, und vielleicht sind die Patienten, bei denen besonders früh ein Tumor auftritt, die Interessanten. Was unterscheidet die von den anderen. Oder was unterschiedet einen langjährigen Raucher, wie vielleicht Helmut Schmidt, der sich eine Zigarette nach der anderen anzündet, aber keinen Krebs bekommt, was unterscheidet den von einem Gelegenheitsraucher mit Lungenkarzinom?"

Noch liegt das iPad mit dem Onkolyzer nur im Labor und erfreut den Wissenschaftler, der damit bereits zahlreiche neue Forschungshypothesen aufgestellt hat. Doch schon im Sommer wird der Onkolyzer mit in den Klinikalltag gehen und auch bei der Visite dabei sein. Ärzte können ihn dann direkt am Krankenbett mit Informationen füttern und Patienten haben die Möglichkeit ihre Behandlung digital mitzuerleben.
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