Online vs. Offline

Russlands Generationenkonflikt

10:29 Minuten
Demonstration in Moskau gegen Russlands Präsidenten Wladimir Putin und für den inhaftierten Oppositionellen Alexej Nawalny.
"Freiheit für Nawalny" fordert dieser Demonstrant in Moskau. In Russland streiten Jung gegen Alt über Putins Herrschaft, sagt der Slawist Ulrich Schmid. © picture alliance / TASS / Valery Sharifulin
Ulrich Schmid im Gespräch mit Dieter Kassel |
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Landesweit demonstriert die Opposition gegen Russlands Präsidenten. Nach 20 Jahren an der Macht seien dessen Anhänger in die Jahre gekommen, sagt der Slawist Ulrich Schmid – und Putin habe sich Optionen für den Rückzug "aufs Altenteil" geschaffen.
Derzeit gibt es in 70 russischen Städten Demonstrationen gegen Präsident Wladimir Putin – unter anderem angetrieben von einem Video über Putins politische Karriere und seinen gewaltigen Reichtum, das der Oppositionelle Alexej Nawalny veröffentlichte. Dessen Stäbe hätten den Protest "generalstabsmäßig organisiert", sagt Ulrich Schmid, Professor für die Kultur und Gesellschaft Russlands in St. Gallen.
Auf der Webseite von Nawalnys Fonds zur Bekämpfung der Korruption könne man sehen, wie viele – vor allem junge – Leute sich heute auf der Straße zeigen wollten, zum Beispiel 20.000 Menschen in Moskau und 10.000 in St. Petersburg.
Die Anhänger von Putin und jene von Nawalny seien in der Gesellschaft geteilt, konstatiert Schmid: "Die Online-Gesellschaft, wenn man das so sagen kann, ist stark für Nawalny, die Offline-Gesellschaft, die hauptsächlich auf dem Land lebt, ist das Elektorat von Putin." Da gebe es wenig Überschneidung.
Außerdem sei Putins Herrschaft mittlerweile zu einem Generationsproblem geworden: "Nach über 20 Jahre an der Macht sind natürlich auch seine Anhänger in die Jahre gekommen."
Nawalny habe jetzt einen ganz wunden Punkt angegriffen, nämlich dass Russland sich mehr und mehr zu einem Unrechtsstaat entwickle: "Sein eigenes Schicksal belegt das ja aufs Beste. Man kann hier durchaus auch ein sowjetisches Muster feststellen."
Der Dissident Alexander Solschenizyn in der UdSSR habe genau gewusst, dass er sich nicht durch das Rechtssystem schützen könne und er nur so lange sicher sei, als die Weltöffentlichkeit auf ihn schaue: "Dasselbe passiert jetzt mit Nawalny, der Schlag auf Schlag ein Event nach dem anderen in die öffentliche Sphäre vor allem im Westen einspeist."

Eine rote Linie wurde überschritten

Dass Alexej Nawalny in Untersuchungshaft derzeit in Lebensgefahr sei, glaubt Schmid nicht: "Nach der Vergiftungsaffäre wäre es sehr dumm, wenn es zu einem Giftanschlag auf Nawalny kommen würde."
Die Beweislage zu dem Anschlag im August 2020 sei erdrückend: "Ich denke, Russland kann sich nicht weiter kompromittieren. Im Moment ist es ein sehr großes Spiel, das Nawalny begonnen hat. Mit diesem Video über Putins Palast hat er eine rote Linie überschritten." Bisher habe er sich aber zurückgehalten und den Präsidenten nicht persönlich angegriffen.
Russlands Präsident Wladimir Putin
Tritt er bei der nächsten Wahl noch mal an? Russlands Präsident Wladimir Putin bei einer Videokonferenz im Januar 2021.© picture alliance / Russian Look | Kremlin Pool
Man sehe auf der anderen Seite Signale, dass Wladimir Putin möglicherweise 2024 bei den nächsten Wahlen gar nicht mehr als Präsident antreten werde: "Putin hat 2020 einige Optionen für sich aufgemacht, um sich gewissermaßen aufs Altenteil zurückziehen zu können."
Er könne zum Beispiel Senator im Föderationsrat auf Lebenszeit werden – inklusive Immunität, also Schutz vor Strafverfolgung. Es sei durchaus nicht ausgeschlossen, dass Putin 2024 einen schwachen Präsidenten installieren werde, sagt Schmid: "Ich könnte mir vorstellen, dass Nawalny genau auf diesen Zeitpunkt hinarbeitet."
(cre)
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