Andrea Hanna Hünniger, geboren in Weimar, studierte in Göttingen und Berlin Geschichte und Philosophie. Sie arbeitete schon während des Studiums für die FAZ und DIE ZEIT. 2011 erschien ihr erstes Buch "Das Paradies - Meine Jugend nach der Mauer", das die Neunzigerjahre aus Sicht der Kinder in Ostdeutschland erzählt. Ihr Podcast „German Liebe“ ist bei Audible zu hören. Sie schreibt unter anderem für die ZEIT, FAS, Welt und Cicero.
ETFs, Aktien, Bitcoin
Es ist nicht das Glücksversprechen des Geldes, das Millennials an die Aktienmärkte treibt, meint Andrea Hanna Hünniger. © Getty Images / Nuthawut Somsuk
Millennials entdecken die Börse
20 Jahre nach dem Telekom-Trauma stehen Aktien bei den Deutschen wieder hoch im Kurs. Ganz vorne mit dabei: die bis vor Kurzem noch so konsumkritischen Milliennials. Eine bedenkliche Entwicklung, findet die Autorin Andrea Hanna Hünniger.
Vor Kurzem traf ich meine Nachbarin vor unserem Haus. Sie schob ihr Neugeborenes dick verpackt in einem Kinderwagen vor sich her. Das Kind, sagte sie, würde nur in Bewegung gut einschlafen.
Sie erzählte mir, während wir über holpriges Kopfsteinpflaster liefen, was ihr Baby offenbar am besten beruhigte, dass sie zur Geburt ihres Kindes von ihrem Chef ein Geschenk erhalten hatte. Und zwar das Buch „Madame Moneypenny - wie Frauen ihre Finanzen selbst in die Hand nehmen können".
Vor allem ETFs liegen im Trend
Madame Moneypenny nennt sich das Start-up von Natascha Wegelin, die seit 2015 Finanzberatung nur für Frauen anbietet und mit einem Blog, einem Podcast und ihrem Buch ein Millionenpublikum erreicht.
Laut Klappentext verspricht sie, nicht nur bei der Lösung „innerer Geldblockaden“ zu helfen, sondern „natürlich auch“ bei „Investitionen an der Börse“.
Meine Nachbarin wollte ihren Mutterschutz nutzen, „hier und da ein wenig in Spekulationen zu investieren“. Insbesondere ETFs seien doch so im Trend. Ihr Freund hingegen würde sich mit Bitcoins auseinandersetzen.
Ostdeutschland holt auf
Diese Unterhaltung bestätigte mir auf beunruhigende Weise meine Beobachtungen der letzten Monate. Meine Generation, Millennials in ihren Dreißigern, die sich bis vor Kurzem noch konsumkritisch äußerten und auf keinen Fall ihre Work-Life-Balance durcheinander bringen wollten – ausgerechnet diese Generation spekuliert gerade wie wild an der Börse.
Die Zahlen sprechen hier für sich: 2020 waren rund 12 Millionen Menschen in Deutschland an der Börse aktiv, das sind 2,7 Millionen mehr als im Jahr zuvor. Während es bei den älteren Generationen ein starkes Ost-West-Gefälle gibt, also in Ostdeutschland deutlich weniger Aktionäre aktiv sind, gilt das nicht mehr für die unter 40-Jährigen. Hier gibt es gleich viele Aktionäre im Osten wie im Westen.
Die Früchte des Kapitalismus genießen
Wenn auch die Kapitalströme, wie man so schön sagt, andere sind – im Westen ist einfach noch immer mehr Geld vorhanden. Und dennoch: Ausgerechnet die Generation, die gerade das erste Mal richtig Geld verdient, gibt es gleich wieder aus, um zu pokern.
Der Hype um Aktien, Bitcoins und ETFs erinnerte mich an die Neunzigerjahre, als ich noch in meinem Plattenbauviertel Murmeln zählte, während Staatskonzerne privatisiert wurden und meine Eltern, Nachbarn, ja, jeder, der ein Bankkonto besaß, Aktien erwarb – und damit die Hoffnung, die Vorzüge des neuen Kapitalismus ebenso genießen zu können wie ihre westdeutschen Schwestern und Brüder.
Mit einem Mal also besaßen alle Telekom-Aktien und waren berauscht von dem steilen Kurs, den das Wertpapier nahm. Zwei Jahre später hatten die meisten von ihnen ihr Geld komplett verloren. Es wollte doch nicht für sie arbeiten und sie hatten den Absprung verpasst.
Wiederholen die Millennials die Fehler ihrer Eltern?
Schon damals dachte ich, dass die kühle Welt der Zahlen offenbar für meine Eltern leichter zu händeln war als die „echte Welt“, in der Arbeitslosigkeit und Umbrüche, die Menschen zutiefst verunsichert hatten.
Und vielleicht ist es kein Zufall, dass meine Generation, die sich zumindest vage an den Goldrausch der Neunzigerjahre und den bösen Kater danach erinnern müsste, trotzdem heute genau wie die ihrer Eltern abtaucht in den erfrischend kühlen, luftigen, abstrakten Kosmos der Zahlen.
Denn alles, was an der echten Welt der Dinge und Menschen erschreckend und verunsichernd ist, kommt in der Traumlandschaft der Aktien und Bitcoins nicht vor. Zumal der neue Aktienhandel auf dem Smartphone leicht und niederschwellig ist.
Ein gefährlicher Eskapismus
Wahrscheinlich ist es nicht das Glücksversprechen, das die neuen Aktionäre an den Markt zieht, sondern eine Flucht vor dem Leben – die Ablenkung und Abwendung von der Welt, ausgerechnet in dem Jahr, in dem es ohnehin ratsam war, sich der Welt zu entziehen. Eine Abtrennung von der bedrohlichen Nähe des Konkreten – ein Eskapismus, wie er sich vielleicht früher mal in langwierigen Games ausgetobt hat.
Ein Rückzug, der heimlich aber immer auch aggressive Anteile hat. Oder, um es mit Warren Buffett zu sagen, dem erfolgreichsten Börsenzauberer der Welt: „Denken Sie immer daran, dass der Aktienmarkt manisch-depressiv ist.“