Ein Meisterwerk, das zu Tränen rührt
Die Schriftstellerin Zofia Posmysz hat eine Geschichte, die ihr Leben ist: Sie war im polnischen Widerstand gegen die Nazis tätig und kam ins KZ Auschwitz. Aus ihrer Novelle wurden ein Film und eine Oper – "Die Passagierin" von Mieczysław Weinberg hatte nun in Frankfurt Premiere.
Man ist berührt, wie man nur selten berührt ist in der Oper, zu Tränen gerührt: von Frau Posmysz, von ihrer Geschichte, von der fantastischen Musik von Mieczysław Weinberg, die auf so vieles anspielt und die wie keine Worte der Welt Menschen charakterisieren, Stimmungen einfangen, Gesten abbilden kann und Gedanken in Klang verfasst, dass es einem unter die Haut geht.
Die Celesta – das Engelsinstrument – für Marta. Xylophon und Marimba für die seelischen Wirren, das Klingeln und Pochen in den Ohren der KZ-Insassen vor Stress und Angst. Schlagwerkbatterien für die Kampfstimmung im Lager. Die Trompeten und Posaunen für die todbringenden Appelle der Kommandanten, und die schwankenden Geigen-Walzer für das explosive Beben dieser unheilvollen Gesellschaft zwischen Luxusliner und Konzentrationslager.
Weinbergs Musik ist suggestiv, zitiert, parodiert Mahler, Beethoven, legt den Luxusliner schief in Schostakowitsch'sche Walzer, verkehrt Beethovens Schicksalsmotiv aus der 5. Symphonie in KZ-Appellfanfaren und bringt Kolorit durch russische Folklore, durch Jazz und Schlager und Chansons von Edith Piaf, durch deutsche Kinderlieder wie "Oh, Du lieber Augustin" und durch Bachs berühmte Chaconne aus der d-Moll-Partita. Die Musik ist polyglott, so wie die Geschichte, das Thema Auschwitz polyglott ist, so ist es auch die Frankfurter Inszenierung. Man singt in deutsch, polnisch, russisch, jiddisch und französisch.
Dass Weinbergs Musik, dass diese Oper, in Vergessenheit geraten konnte, ist verwunderlich, wenn nicht sogar ein Skandal, denn sie ist süffig zum Hören und anregend zum Denken – so klug konstruiert, so sehr vom Bild, von der Szene geleitet, als sei es Filmmusik, aber nicht so illustrativ, sondern auf intelligente Weise narrativ.
Vom Luxusliner in die KZ-Baracke
Sara Jakubiak singt Marta, die KZ-Insassin: immer wieder in klagenden Melismen, die Partie hat eine hohe Tessitur. Celesta, Flöte, Geige sind "ihre" Instrumente. Kräftig, empört, groß und selbstbewusst ist diese Partie, und Jakubiak singt sie so, als sei sie ihr auf den Leib geschrieben. Um sie dreht sich alles in dieser Oper, denn sie ist die Passagierin, die sich diskret, distanziert wie ein Phantom unter die Gesellschaft des Luxusliners mischt, die in der Baracke des Konzentrationslagers alle Aufmerksamkeit auf sich zieht, denn es ist ihre Geschichte. Oder vielmehr die Geschichte von Zofia Posmysz, die diese Geschichte aufgeschrieben hat.
Mit 18 Jahren verteilt Zofia Posmysz in Krakau Flugblätter des polnischen Widerstands. Sie wird verhaftet, kommt in verschiedene deutsche Konzentrationslager – darunter auch Auschwitz. Zofia Posmysz überlebt. Danach schreibt sie eine Geschichte auf, die den Holocaust auf einzigartige Weise fiktional beschreibt: Es ist die Geschichte der Passagierin. Die Geschichte einer Frau namens Lisa Franz, die mit ihrem Mann nach dem Zweiten Weltkrieg eine Kreuzfahrt macht. Auf dem Luxusliner trifft Lisa auf eine Bekannte: die ehemalige KZ-Insassin Marta. Täterin und Opfer aus Auschwitz. Plötzlich vermischen sich Perspektiven. Schuldzuweisungen kommen auf. Grausige Details des Lageralltags treten zutage: Täter- und Opferperspektive verstricken sich.
Regisseur Anselm Weber hat die Geschichte der Passagierin auf die große Drehbühne der Oper Frankfurt gestellt (Bühne: Karin Haß). Mal Luxusliner, mal Konzentrationslager. Der Schiffsrumpf des Luxusliners ist zugleich Baracke des KZ. Ganz reduziert funktioniert das Inventar doppelt: Bretter als Barackenwände und als Schiffsplanken, Lautsprecher – üblich auf dem Schiff und im KZ, Suchscheinwerfer: Requisit beider Orte, Eisenrohrtreppen ...
Reise zurück nach Auschwitz
Geradezu nahtlos gehen die beiden Orte ineinander über, oftmals nur durch eine kleine Wendung, unmerklich – allein die Musik signalisiert den Ortswechsel. Die Idee dahinter ist eindeutig: Das hier ist ein innerer Monolog von Lisa (Tanja Ariane Baumgartner), und wir, die Zuschauer, blicken ihr in den Kopf. Lisa Franz ist äußerlich auf einem Schiff, aber innerlich reist sie immer weiter zurück in ihren Erinnerungen nach Auschwitz. So geht auch ihr Mann Walter irgendwann durch die Baracken, oder der Schiffssteward erscheint ihr als KZ-Kommandant in Uniform. Schiffs-Realität und KZ-Erinnerungen vermischen sich, Orte, Personal, Zeiten: alles ein einziger stream of consciousness von Lisa.
Man kann Auschwitz nicht ästhetisieren. Auch für diese Geschichte muss man eine Nähe suchen, die zugleich Abstand hält. Anselm Weber ist genau das gelungen, indem er dem Naturalismus auf der Bühne in der Baracke immer wieder mit Abstraktion begegnet in Form von Video-Einblendungen (Bibi Abel) – Handgeschriebenes in Sütterlin und Normschreibschrift, Namen der KZ-Opernamen in Courier-Type, Noten-Systeme aus der Partitur. So artifiziell Webers Drehbühnenkonstruktion wirkt: Sie holt immer noch so viel Naturalismus auf die Bühne, dass es vom ersten Bild an erschüttert.
Die KZ-Insassinnen tragen Glatzen oder verfilzte Kurzhaarfrisuren, die KZ-Kleidung schlottert um ihre Körper. Weber führt die Massen in der Baracke und auch einzelne Figuren schauspielerisch sehr präzise, dass man selbst langjährige Ensemble-Mitglieder der Oper Frankfurt kaum wiedererkennt, weil sie keine Chance bekommen, auf persönliche Repertoire-Gesten oder typische Opernsingposen zurückzugreifen.
Diese Opernproduktion ist einzigartig: Wegen der Geschichte, wegen der emotionalen und intellektuellen Tiefe in der Auseinandersetzung mit dem Thema, wegen der Musik, der Ensembleleistung und der fantastischen Chorleistung, und wegen des bewegenden Auftritts von Zofia Posmysz beim Schlussapplaus. Man ist zutiefst berührt, auch weil sich der Ruf, die vielen Opfer nicht zu vergessen, am Ende noch einmal so vehement verbreitet.
Diese Frankfurter Opernproduktion ist auch deshalb einzigartig, weil sie gesellschaftlich relevant ist, weil sie etwas thematisiert, über das man reden muss. Es ist gut, dass Frankfurts Opernintendant Bernd Loebe, der seit Jahren hervorragende Sänger und kluge Regisseure an das Haus holt und viele Glanzproduktionen zu verantworten hat, die gesellschaftliche Bedeutung von Oper jetzt stärker in den Blick nimmt. "Qualität" und "Niveau" haben viele Opernhäuser. Gesellschaftliche Relevanz – damit könnte Frankfurt auf lange Sicht wirklich trumpfen.
Informationen der Oper Frankfurt zur Inszenierung von "Die Passagierin"