"Mädchen mit den Schwefelhölzern" mal anders
Hans Christian Andersen hätte sich die Adaption vielleicht anders gedacht: Die Frankfurter Oper bringt sein berühmtes Märchen nicht als lineare Erzählung, sondern als klangsinnlichen Kommentar von Komponist Helmut Lachenmann auf die Bühne.
Eine riesige Puppe steht vor dem Frankfurter Opernhaus und schaut mit großen Augen in die Foyers. Es ist das Mädchen mit den Schwefelhölzern aus dem Märchen von Hans Christian Andersen, das dazu aus Lautsprechern erklingt, gelesen von Michael Mendl. Dahinter leuchten das große Eurozeichen und die Banktürme, fahren Straßenbahnen vorbei, betteln Obdachlose. Die Inszenierung Benedikt von Peters beginnt schon lange bevor die ersten Orchestertöne im Zuschauerraum erklingen. Schauspieler mischen sich unter die Zuschauer und flüstern zentrale Sätze aus dem fragmentarischen Libretto, die Musiker laufen in Berufskleidung zu ihren Plätzen in den Seitenrängen, dazu schaut die Puppe durch die großen Fensterflächen ins Warme.
Kein konventionelles Märchen
Weil der Komponist Helmut Lachenmann keine konventionelle Märchen- und Betroffenheitsoper schreiben wollte, verzichtete er auf eine lineare Erzählung. Vielmehr griff er einige zentrale Momente der Handlung heraus und gestaltete sie klanglich. Entstanden ist ein klangsinnlicher Kommentar zum Märchen, der das Premierenpublikum auch Jahre nach der Hamburger Uraufführung noch an die Grenzen der Geduld bringt. Wenn der fallende Schnee mit aneinander geriebenen Styroporplatten hörbar gemacht wird, die Sänger von ChorWerk Ruhr mit der Zunge schnalzen oder mit der flachen Hand gegen die hohle Wange schlagen, sorgt das wahlweise für Heiterkeit oder Langeweile. Nur Zuhören möchten viele der Premierenbesucher auf den teuren Plätzen auf keinen Fall. Dabei können sie in der Frankfurter Oper eine mustergültige Aufführung erleben.
Das Museumsorchester sitzt auf einem Podest auf halber Bühnenhöhe und in den Rängen, wo auch die Chorsänger platziert sind. So entsteht ein breit gefächerter Raum Klangraum von verblüffender Tiefe. Der Dirigent Erik Nielsen hält die extrem farbenreiche Partitur straff zusammen und schafft es, die strenge Form hörbar zu machen. Motive und Variationen werden erlebbar, die dramatischen Höhepunkte werden mit großem Gespür für die Architektur des Werks vorbereitet und explodieren geradezu im Raum. Dabei handelt es sich nicht bloß um interessante Klangexperimente des Kratzens und Schabens, wie dieser Stilrichtung gerne spöttisch unterstellt wird, sondern zweifellos um große Musik. Neben dem ChorWerk Ruhr singen Christine Graham und Yuko Kakuta, zu einem Höhepunkt wird jedoch, wenn der achtzigjährige Komponist einen Text von Leonardo da Vinci liest und virtuos zu rätselhafter Klangpoesie umformt.
Handlung stellt jeden Regisseur vor ein unlösbares Problem
Das Fehlen einer nachvollziehbaren Handlung stellt jeden Regisseur vor ein im Grunde unlösbares Problem, nämlich etwas zu bebildern, das einfach nicht da ist. Während der Regisseur Robert Wilson bei der RuhrTriennale einst seine hübschen und sinnfreien Bilder über das Werk stülpte, behalf sich David Hermann an der Deutschen Oper Berlin mit einer hinzuerfundenen Handlung in den Versorgungsschächten eines Mehrfamilienhauses. Benedikt von Peter setzt hingegen ein Meerschweinchen auf die Bühne, mit dem der Schauspieler Michael Mendl einigen Schabernack treibt, der auf eine Videoleinwand übertragen wird.
Bekanntlich ist das Meerschweinchen für Zentralamerika, was das Brathähnchen für uns ist und könnte somit als globalisiertes Symbol für den Gänsebraten herhalten, von dem das Mädchen in Andersens Märchen kurz vor seinem Tod träumt. Das ist natürlich sehr albern herbeiassoziiert und bleibt so unerheblich wie die anderen beiden Inszenierungen. Davon abgesehen sorgt Benedikt von Peter gemeinsam mit der Bühnen- und Kostümbildnerin Natascha von Steiger, dem Beleuchter Joachim Klein und den Videos von Bert Zander für die bestmögliche Hörbühne, die sich Helmut Lachenmann für sein Werk nur wünschen kann.