Oper mit psychologischer Tiefenschärfe

Von Holger Hettinger |
Eine der zentralen Fragen an eine Inszenierung von Mozarts "Entführung aus dem Serail" lautet: Wie geht die Regie mit der Konfrontation zwischen der osmanischen Sphäre und dem "alten" Europa um?
Helen Malkowsky hat in ihrer tiefsinnigen Inszenierung für die Wiener Volksoper eine ebenso klare wie überzeugende Position entwickelt: Sie hat Mozarts Oper von allen folkloristischen Versatzstücken befreit und die Konfliktstellung zwischen Bassa Selim, Konstanze und Belmonte im Hinblick auf ihr psychologisches Potential ausgeleuchtet. Das Ergebnis ist beglückend – mit Abstrichen im Detail.

Am zwingendsten zeigt sich die Schlüssigkeit von Helen Malkowskys Konzept an der Figur des Osmin: Der wird in der Wiener Inszenierung nicht auf die Rolle eines brabbelnden Depps reduziert, sondern ist als Figur mit Tiefenzeichnung angelegt, die ihr Gewaltpotential ebenso spüren lässt wie ihre erotische Strahlkraft – das gibt der Handlung zusätzliche Stringenz und Schlüssigkeit. Hinzu kommt, dass der grandiose Gregory Frank seine Rolle mit einer derart vollfleischigen Stiernackigkeit ausfüllt, dass ganz neue komödiantische, aber auch unterschwellig bedrohliche Töne vernehmbar sind. Groß!

Zweiter Glanzpunkt von Helen Malkowskys Inszenierung: der Bassa Selim von August Zirner. Der sieht nicht aus wie ein furchterregender osmanischer Herrscher, sondern hat in seiner hellen Kleidung die Anmutung eines Yoga-Lehrers in einem Luxus-Ferienclub. Mit leiser, reich timbrierter Stimme und federndem Schritt gibt Zirner einen zweifelnden, zögernden, nachdenklichen, Anteil nehmenden Bassa Selim – das gnadensprühende Finale wirkt dadurch wesentlich schlüssiger hergeleitet.

Die weiteren Rollen: Kristiane Kaiser gelingt eine strahlende, starke, selbstbestimmte Konstanze, die mit dem Strahlglanz ihrer Vokalpartie ebenso überzeugend zurecht kam wie mit den klug abgetönten Mittellagen. Der grandios agierende Daniel Behle ist als Belmonte kein Brecher – niemand, der vordergründig gegen Haremsmauern anrennt, sondern der aufgrund seiner Zweifel, seiner Ungewissheiten als verunsicherter Liebender so tiefenscharf und hintersinnig innerhalb des Ensembles agiert. Andrea Bogner als Blondchen entwickelte in ihrem Zusammenspiel mit ihrem Partner-Widerpart Pedrillo ein beziehungsreiches, gesten- und stimmungsstarkes Miteinander.

Der Dirigent Sascha Goetzel steuerte das Orchester der Volksoper zu musikalischen Siedetemperaturen – Goetzels Mozart-Klang hat Aplomb und Attacke, klar konturierte Abläufe und dabei stets eine wunderbar sämige, "weanerische" Klangsinnlichkeit über allem – das Orchester folgte nach anfänglichen Schwierigkeiten trittsicher und klangschön.

Helen Malkowskys hintersinnig-psychologisierender Zugang hat klare Vorteile. Der Wichtigste: Man bleibt von peinlichen Momenten verschont. Die "Entführung" gerät regelmäßig zum Gruselkabinett der unfreiwillig komischen darstellerischen Leistungen, wenn die versuchte "Entführung" mit ungelenkem Gekrabbel über wackelige Leitern markiert wird – in Helen Malkowskys Inszenierung sieht dieser Schlüsselmoment völlig nüchtern aus: wie zwei Paare, die auf den Shuttle zum Flughafen warten.

Ein weiteres starkes Bild gelang ihr im 1. Akt mit der Ankunft des Bassa Selim und seinem Gefolge: bärtige Wüstenkämpfer mit Turban auf der linken, schwarzverschleierte Frauen auf der rechten Seite - das hatte Schlagkraft und Symbolwert.

Der Nachteil von Helen Malkowskys Zugang sei aber nicht verschwiegen: Wenn es prononciert darum geht, die persönlichen Beziehungen und individuellen Beweggründe der Akteure gleichsam archäologisch freizulegen, stellt sich Leerlauf ein, wenn Konstellationen und Situationen mal nicht auf ihren psychologischen Hintersinn abgeklopft werden können. Sehr deutlich zu erkennen im 1. Akt, wo sich Belmontes Agieren etwas zu oft auf das An- und Ablegen seines Gewands reduziert, oder wo sich schnödes Rampensingen Bahn bricht.

Seltsam auch, warum manchmal Motive aus der Mottenkiste des Borstenvieh-und-Schweinespeck-Inszenierungsansatzes hervorgeholt werden, etwa wenn die beiden Paare nebeneinander am Bühnenrand stehen, sich an den Händen fassen und ins Publikum singen. Braucht kein Mensch. Sonst aber: kluge, anrührende, vielschichtige Inszenierung, wundervolle Akteure, pures Mozart-Glück in der orchestralen Gestaltung. Sehr schön!

Die Entführung aus dem Serail
Von Wolfgang Amadeus Mozart

Aufführung an der Wiener Volksoper
Regie: Helen Malkowsky
Ausstattung: Bernd Franke
Dirigent: Sascha Goetzel