Operationen in der Coronakrise

Wegen Überlastung verschoben

08:19 Minuten
Eine Intensivpflegerin versorgt einen Covid-19-Patienten auf der Intensivstation der Leipziger Uniklinik in einem Zimmer, in dem noch drei weitere Corona-Patienten liegen.
Volle Intensivstationen führen dazu, dass ein Teil der Operationen verschoben werden muss. © picture alliance / dpa / dpa-Zentralbild / Jan Woitas
Von Annabell Brockhues |
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Da Covid-Erkrankte Intensivbetten belegen, müssen drei Viertel der Krankenhäuser während der vierten Welle Operationen verschieben. Für Patienten und Angehörige ist das eine große Belastung - und Ärztinnen müssen die Folgen abwägen.
Lasse ist fünf Jahre alt und hört nicht gut. Hinter dem Trommelfell in seinem Ohr sammelt sich Flüssigkeit, die nicht ablaufen kann.

„Der Hals-Nasen-Ohren-Arzt hat es mal so beschrieben, dass es für ihn ist, als würde man ständig mit Ohropax drin rumlaufen“, erzählt Lasses Mutter, Thekla. Thekla und Lasse heißen eigentlich anders. Sie möchten ihre Geschichte erzählen, allerdings anonym, mit fremder Stimme.

Lasse muss operiert werden – er soll ein permanentes Paukenröhrchen bekommen. Ein kleiner Eingriff – für ihn und seine Eltern aber eine große Sache.

Nicht lebensnotwendig, aber trotzdem wichtig

„Jeden Tag, an dem er gut hören kann, ist wichtig für seine Entwicklung. Er hat einen kritischen Lebensabschnitt erreicht, in dem man nicht einfach abwarten und mal gucken kann, ob sich das noch gibt.“

Im Sommer soll Lasse in die Vorschule kommen. Angemeldet ist er schon. Damit er sich besser integrieren kann, braucht er das Paukenröhrchen. Seine Operation am 9. Dezember wurde abgesagt, weil das Krankenhaus überlastet ist, wegen Corona.

„Für uns ist die Verschiebung der OP sehr schlimm. Selbst wenn es in unserem Fall nicht um etwas Lebensnotwendiges geht, ist es doch für ein gutes Leben notwendig.“

Über einen neuen Termin soll in dieser Woche gesprochen werden.

Planung von Tag zu Tag

Der Eingriff bei Lasse gilt als planbar – solche Operationen werden wegen Corona häufig verschoben. In der vierten Welle, die im Herbst 2021 beginnt, müssen drei Viertel der Krankenhäuser in Deutschland Operationen verschieben, erklärt die Deutsche Krankenhausgesellschaft. Damit akute Fälle – Corona oder nicht – weiter versorgt werden können.

Wir haben ein deutlich eingeschränktes OP-Volumen. Fast die Hälfte der Intensivstationspatienten sind Covid-Patienten.

Julia Gumpp, Viszeralchirurgin am Klinikum Neumarkt

„Wir haben ein deutlich eingeschränktes OP-Volumen. Fast die Hälfte der Intensivstationspatienten sind Covid-Patienten, das heißt, dass wir eben von Tag zu Tag sehen müssen, ob wir ein Intensivbett haben für größere Operation. Das sind so die größeren Tumoroperationen, Bauchspeicheldrüse, Leber, solche Patienten.“

Das erklärt Julia Gumpp Anfang Dezember. Sie ist Viszeralchirurgin am Klinikum Neumarkt in Bayern. Mit einem Team anderer Chirurgen und Ärztinnen entscheidet sie täglich, welche Operation stattfinden kann – und welche nicht. Manchmal ändert sich die Situation auch stündlich.

„Wir haben schon die Situation gehabt, dass wir in der Früh kein Intensivbett hatten. Aber eben die Option bestand im Laufe des Vormittags noch ein Intensivbett freischaufeln zu können, weil möglicherweise ein Patient auf die Normalstation verlegt werden kann, sodass wir dann verzögert um zehn, um elf noch mit Eingriffen anfangen konnten, die morgens erst mal nicht anlaufen konnten.“

Was gilt als Notfall, was ist verschiebbar?

Doch was gilt als Notfall und muss operiert werden? Und welche Eingriffe sind verschiebbar?

„Wir haben die Notfalloperationen, die unzweifelhaft sofort in den OP gehören. Das sind Organperforationen, schwere Organverletzungen bei Unfällen, Blutungen solche Sachen, die stehen weiterhin außer Frage. Dann haben wir demgegenüber das, was immer so als Elektiv-Operation bezeichnet wird, da werden so Wahleingriffe zusammengefasst, die für aufschiebbar, nicht dringlich gehalten werden. Das sind zum Beispiel künstliche Gelenke, schmerzlose Hernien. Man geht allgemein davon aus, dass bei diesen Eingriffen die Vorbereitungszeit Wochen oder auch Monate betragen darf.“

So die Theorie.

Die meisten Operationen sind dringlich

Thomas Fuchs ist Chefarzt des Zentrums für Muskuloskelettale Medizin im Berliner Vivantes Krankenhaus in Friedrichshain. Als Unfallchirurg kümmert er sich um die Notfälle, als Orthopäde um die Eingriffe, die als typisch planbar gelten: Entfernungen von Platten und Schrauben, der Einsatz neuer Gelenke.

Er tut sich sehr schwer mit dem Begriff elektive Operationen: „Elektiv heißt für mich einfach nur planbar. Also, es ist etwas, wo wir uns darauf einrichten können, wo der Patient sich darauf einrichten kann. Aber es gibt, glaube ich, nur ganz wenige Eingriffe, die ein Patient freiwillig über sich ergehen lässt.“

Die meisten Operationen seien eben doch notwendig. Und dringlich.

„Wenn wir jetzt sagen, dass ein Patient, der einfach einen so herben Verlust an Lebensqualität hat, weil er seine Wohnung auf einmal nicht mehr verlassen kann, weil er nicht mehr laufen kann, dann finden wir im Moment zum Glück auch da noch eine Lösung.“

Situation der Patienten sehr unterschiedlich

Gerald Gaß, der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Krankenhausgesellschaft, nennt zwei Kriterien, nach denen entschieden wird: Wie dringlich ist ein Eingriff aus medizinischer Sicht? Und wie groß ist der Leidensdruck der Patienten?

Ein Raster oder Kategorien ergeben sich dadurch aber nicht. Denn die individuelle Situation der Patienten könne sehr unterschiedlich sein, sagt Gaß.

„Ein Krebspatient ist nicht ein Krebspatient, und ein Mensch, der auf eine künstliche Hüfte wartet, hat möglicherweise sehr starke Schmerzen und kann auch kaum noch schlafen vor Schmerzen, steht vielleicht sehr unter medikamentöser Behandlung auch und ist deswegen auch nicht einfach vergleichbar mit einem anderen Patienten, der vielleicht in Anführungszeichen gerne wieder sein Sport betreiben würde und deswegen auf die Hüfte wartet. Da ist der Leidensdruck ein unterschiedlicher, und das muss man im Blick haben.“

Bei der Verschiebung planbarer Operationen herrscht tatsächlich reine Willkür.

Eugen Brysch, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Patientenschutz

Kritik an dem bisherigen Vorgehen kommt von Patientenschützern.

„Bei der Verschiebung planbarer Operationen herrscht tatsächlich reine Willkür“, bemängelt Eugen Brysch, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Patientenschutz. Für die Patienten seien die Entscheidungen nicht nachvollziehbar. Er sieht die Politik und die medizinischen Fachgesellschaften in der Verantwortung, Leitlinien und Kriterien für die Verschiebung von planbaren Operationen festzusetzen.

Julia Gumpp, Vizepräsidentin des Netzwerkes Die Chirurginnen, sieht das skeptisch: „Wir reden ja von Patienten und nicht von Akten, und da liegt die Wahrheit oft eben dazwischen. Und ich wünsche mir als Ärztin, dass wir da eben auch diesen Gestaltungsspielraum behalten und tatsächlich eben individuell entscheiden können, wir machen’s so oder so.“

Denn nur so kann sie Eingriffe ermöglichen, die nicht lebensrettend, aber für die Patienten dringlich sind. Weil die Schmerzen zu groß sind oder die soziale Situation es erfordert.

Verschiebung kann ernsthafte Folgen haben

Über Verschiebungen von Operationen zu entscheiden fällt den Ärzten auch deshalb schwer, weil es ernsthafte Folgen haben kann. Orthopäde und Unfallchirurg Thomas Fuchs denkt hier an Knochenbrüche, die zwar nicht lebensbedrohlich sind, aber operiert werden müssen. 

„Wenn Patienten nach zwei, drei Wochen erst versorgt werden können, dann ist der Knochen schon zum Teil geheilt, hat er schon eine Festigkeit bekommen, aber vielleicht nicht an der Stelle, in der er heilen sollte. Das heißt, wir fangen wieder bei Null an, müssen den Knochen wieder durchtrennen, nochmal neu brechen. Das heißt der gesamte Krankheitsverlauf verzögert sich, und die Operation wird komplexer. Das kannten wir 2019 in der Form nicht.“

Belastung für Patienten und Angehörige

Die Verschiebung von Operationen kann für Patienten und ihre Angehörigen auch eine große psychische Belastung sein. Basti aus Berlin hat das erlebt – und erzählt per Mail. Sein Sohn ist mit einem Herzfehler zur Welt gekommen – einer Verengung der Aortenklappe und einer Verengung der rechten Herzklappe. Die Ärzte sagten ihm, wenn sein Sohn nicht schnell operiert werde, brauche er bald ein neues Herz.

„Bei Nicht-Behandlung würde der kleine Mann dann mit sechs Monaten auf der Spender-Liste stehen. Und da möchte man als Elternteil natürlich eine zügige Behandlung.“

Am 2. Dezember sollte die Operation stattfinden. Da ist sein Sohn drei Monate alt.

„Wir waren früh um sechs da. Um sieben wurde uns mitgeteilt, dass wir noch zwei Stunden warten müssen, da das Team der Anästhesie noch nicht bereit wäre. Um neun wurden wir dann wieder nach Hause geschickt, mit der Begründung es sei keine ausreichende Pflege gewährleistet auf der Intensivstation.“

Drei Wochen später findet der Eingriff statt, es geht gut. Für die Familie war es trotzdem eine nervenaufreibende Odyssee.

„Zum einen ist man mega dankbar, dass alles funktioniert hat, zum anderen einfach frustriert, dass der Ablauf so schlimm war.“

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