Anerkennung und Ansprüche

Eine kurze Geschichte des Opfers

Ein Mann geht entlang weißer Kreuze über die Gedenkstätte Verdun, Schlachtfeld des Ersten Weltkrieg
Wer als Opfer gilt, veränderte sich mit dem Ersten Weltkrieg, als Soldaten millionenfach in Schützengräben und auf dem Schlachtfeld starben. Noch heute gedenken wir der Toten. © picture alliance / Anadolu / Murat Bakmaz
„Du Opfer“ gilt in der Jugendsprache als Beleidigung. Opfer aller Art begegnen uns täglich in den Nachrichten. Wer als Opfer gilt oder gar eine Entschädigung geltend machen darf, wird gesellschaftlich immer wieder neu ausgehandelt.
Flutopfer, Gewaltopfer, Opfer von Krieg und Terroranschlägen, Opfer sexuellen Missbrauchs und häuslicher Gewalt - wer als Opfer wahrgenommen wird, wer sich selbst so bezeichnet und wie die Gesellschaft auf Opfer blickt, hat sich im Laufe der Geschichte immer wieder verändert.
Historiker und Kriminologen untersuchen diesen Wandel erst in jüngster Zeit. Und Opfer selbst versuchen, sich aus der unterlegenen Rolle der hilflos Ausgelieferten in eine neue Position zu begeben: die der Betroffenen oder sogar der Erfahrenen.

Wer gilt als Opfer?

Ob jemand als Opfer wahrgenommen wird oder sich selbst als solches sieht, hängt davon ab, ob das, was er erlebt hat, von seinem Umfeld und der Gesellschaft als Unrecht oder Gewalt angesehen wird.
Sexuelle Übergriffe etwa wurden lange nicht so benannt. Deshalb waren davon Betroffene unsicher, ob ihnen etwas Unrechtmäßiges passiert ist und sie sich überhaupt als Opfer fühlen dürfen. 
Gleiches gilt für die Opfer häuslicher Gewalt. Es sei neuen sozialen Bewegungen wie der Zweiten Frauenbewegung zu verdanken, dass davon Betroffene als Opfer gesehen werden, sagt die Kriminologin Ulrika Hochstätter.
Es waren Frauenrechtlerinnen und Feministinnen, die das Thema öffentlich machten. Bis sich Strafverfolgung und Politik dessen annahmen, bis Frauenhäuser und Beratungsstellen institutionalisiert waren, war es ein langer Prozess.

Spät anerkannte Kriegsopfer

Es dauerte Jahrzehnte, bis sexualisierte Gewalt als Kriegsverbrechen anerkannt wurde. Lange galten derartige Verbrechen als kaum vermeidbare Begleiterscheinung von Kriegen. Mit den Massenvergewaltigungen bosnischer Frauen während der Balkankriege in den 90er-Jahren und dem Völkermord in Ruanda (1994) änderte sich das.
2008 wurde die Resolution 1820, nach der sexualisierte Gewalt in bewaffneten Konflikten als Straftatbestand gilt, von den Vereinten Nationen verabschiedet. Für die meisten Opfer von Massenvergewaltigungen durch die Rote Armee und die Armeen der westlichen Alliierten im Zweiten Weltkrieg kam diese Anerkennung zu spät.

Das Opfer als Sozialfigur

Für den Soziologen Tobias Schlechtriemen sind Opfer sogenannte Sozialfiguren. Eine Idee, die auf den Soziologen Siegfried Kracauer und dessen Studie „Die Angestellten“ von 1930 zurückgeht.
Demnach verweisen Opfer auf gesellschaftliche Strukturen, die eine leidvolle Erfahrung verursachen. Als Beispiel nennt der Soziologe Klimaaktivisten oder Whistleblower. Opfer seien demnach mehr als einzelne Schicksale. Ihre Rolle verändert sich je nach Deutungshoheit und wird für bestimmte Argumente in einer öffentlichen Debatte herangezogen.
Wer als Opfer gilt und wer nicht, bemisst sich nicht zuletzt an Entschädigungsansprüchen, die geltend gemacht werden können und an der Höhe der Zahlungen.

Wie wurde der Begriff Opfer in der Vergangenheit verstanden?

Wie die Gesellschaft mit Opfern umgeht, hat sich im Laufe der Geschichte immer wieder verändert. In der Antike und noch lange danach war „Opfer“ ein religiöser Begriff. Im Christentum verdichtete sich die Haltung „ein Opfer bringen“ in der Kreuzigung von Jesus Christus. Sie stand für Mut, Entschlossenheit und Stärke.
Auch im 19. Jahrhundert wurde noch ein Opfer für etwas gebracht: Soldaten, die im Krieg starben, brachten ein Opfer für den König oder für das Vaterland. Das war die gängige Formulierung.
Zwar ist dieses Verständnis nach Ansicht der Historikerin Ulrike Jureit auch heute noch nicht ganz verschwunden, doch seit Beginn des 20. Jahrhunderts begannen Menschen sich vermehrt selbst als Opfer von bestimmten Erfahrungen zu sehen. Ein Begriff, der ursprünglich für die Toten reserviert war, wurde von nun an auch für die Lebenden gebraucht.

Warum veränderte sich der Opferbegriff im 20. Jahrhundert?

Der Erste Weltkrieg forderte mehr Soldatenleben als je ein Krieg zuvor. Durch die neue industrialisierte Kriegsführung, den Einsatz von Giftgas und Flammenwerfern in den Schützengräben, kamen Soldaten nicht nur millionenfach ums Leben. Viele von ihnen kehrten körperlich versehrt und psychisch erkrankt in ihre Länder zurück. Die Folgen des Krieges für den Einzelnen wurden in der Gesellschaft sichtbar.
Damit etablierte sich auch ein neues Verständnis: Gefallende Soldaten und Kriegsheimkehrer waren unschuldig Opfer des Krieges geworden, erläutert die Historikerin Ulrike Jureit. Daher galten sie als Opfer von Krieg und Gewalt.
Noch grundlegender veränderte sich der Begriff nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Holocaust-Überlebenden gerieten in den Blick und damit die Folgen von politischer Verfolgung und Lagerhaft.
In den nachfolgenden Jahrzehnten lieferte die Traumaforschung Erkenntnisse darüber, dass äußere Umstände Menschen auch seelisch krankmachen können. Die Diagnose der posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD) besagt, dass das schädigende Ereignis außerhalb einer Person und nicht in ihr liegt. Es sei eine Schädigung, für die jemand nichts kann, erklärt die Historikerin Svenja Goltermann. Damit galt Opfersein nicht mehr nur bei körperlichen sondern auch bei psychischen Leiden.

Wo gibt es Hilfe für Opfer?

Die Hilfe für Betroffene sowie marginalisierte Menschen und Gruppen ist heute weitgehend institutionalisiert: In der Glinkastraße in Berlin Mitte befinden sich die Büros der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, für Antidiskriminierung und gegen Antiziganismus – sowie des Queerbeauftragten der Bundesregierung.
Außerdem gibt es seit wenigen Jahren in fast allen Bundesländern Stellen zur Hilfe nach schweren Straf- und Gewalttaten, nach Terroranschlägen oder Großschadensereignissen.

Welche Opfer bekommen noch zu wenig Aufmerksamkeit?

Auch wenn die Kriminologin Ulrica Hochstätter von einer „viktimären Gesellschaft“ spricht, „in der das Opferwerden immer und überall lauert“, gibt es immer noch Opfergruppen, die zu wenig Beachtung finden. Pflegebedürftige etwa, die Gewalt erleben, und andere Menschen, die sich nicht wehren können, betont Roland Weber, Opferbeauftragte des Landes Berlin.
Der Schriftsteller und Soziologe Didier Eribon schildert in seinem Buch "Eine Arbeiterin: Leben, Alter und Sterben" auf eindringliche Weise am Beispiel seiner sterbenden Mutter, wie es Menschen ergeht, die ins Altenheim müssen, und sich dort ihrer Freiheit, ihrer körperlichen Versehrtheit und ihrer öffentlichen Stimme beraubt finden.
Zu wenig beachtet sind laut Weber auch Migranten, die die Rechtslage in Deutschland nicht kennen, wenig oder kein Deutsch sprechen oder aus Ländern stammen, in denen sie der Polizei und der Justiz nicht trauen können. Nicht zuletzt ist es für Männer noch heute wesentlich schwieriger als für Frauen zu sagen, dass sie ein Opfer sind.
Wie umkämpft der Opferbegriff im 21. Jahrhundert ist, zeigt die Frage, wer darauf Anspruch erheben kann. Das lasse sich anhand aktueller Debatten über russischen Angriffskrieg in der Ukraine oder den Nahost-Krieg gut beobachten, meint die Historikerin Svenja Goltermann, aber auch wenn es um Formen privater oder persönlicher Gewalt gehe. Wirklich unstrittig sei die Opfer-Zuschreibung nur beim Thema Kinder und Missbrauch.

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