Opfer der Geschichte
Wie Kinder und Jugendliche den Zweiten Weltkrieg erlebten, damit befasst sich der Historiker Nicholas Stargardt in seinem Buch "Maikäfer flieg!". Er zeigt, dass Kinder selbst in extremen Ausnahmesituationen über eine hohe Anpassungsfähigkeit verfügen und dass für sie Krieg, Holocaust, Flucht und Bombenangriffe rasch zum Alltag wurden.
Über Jahrzehnte haben es sich die Historiker leicht gemacht. Wenn sie über den Zweiten Weltkrieg geschrieben haben, kannten sie nur zwei Kategorien: Opfer und Täter. Ohne diese Schubladen glaubten sie, die komplexe Geschichte nicht erklären zu können. Auf der einen Seite standen die Schuldigen, Verfolger, darunter die meisten Deutschen, auf der anderen die Gepeinigten, Ermordeten und Flüchtlinge. Viele Autoren wollten nicht differenzieren, kein Wunder, denn sie wollten nicht Gefahr laufen, die deutsche Schuld in Abrede zu stellen.
In den letzten Jahren erscheinen freilich immer mehr Bücher, die ohne diese Schablonen auskommen. Zum Beispiel Wibke Bruns Band "Meines Vatersland". Er gehört zu den erfolgreichsten dieser Titel. Bruns erzählt darin das Leben ihres Vaters, der erst vom Nazi-Regime überzeugt war, sich später jedoch am Widerstand des 20. Juli beteiligte.
Nun legt der in Oxford lehrende Historiker Nicholas Stargardt einen Band vor, der vollends auf die Unterscheidung zwischen Opfern und Tätern verzichtet. Für Stargardt können die alten Kategorien auch gar nicht zur Anwendung kommen. Denn er rückt Kinder und Jugendliche in den Mittelpunkt. Bei ihnen handelt es sich immer um Objekte, nie um Subjekte in dem Sinn, das sie für Krieg, Holocaust, Flucht und Bombenangriffe verantwortlich gemacht werden könnten. Kurzum: Kinder sind immer Opfer der Geschichte, genauer: Opfer der Erwachsenen. Damit hat der gebürtige Australier ein mutiges Experiment gewagt. Es ist Stargardt, das muss man zweifellos anerkennen, gelungen – gerade auch weil er nie in Zweifel zieht, dass die Ursache für Krieg, Morden und Elend von Deutschland ausging.
Über Jahre hat Stargardt Zeugnisse aus vielen Ländern Europas gesammelt und diese nun in seinem Buch zusammengefügt, darunter auch die Erinnerungen von drei Mädchen.
"Im österreichischen Unterthurnbach waren die zehnjährige Helga und ihre zwei Freundinnen Edith und Anni gerade dabei, mit ihren Fahrrädern nach Hause aufzubrechen, als der Alarm ertönte. Das drohende Brummen des Flugzeugs kam näher, da sprang Helga vom Fahrrad und warf sich in einen Wassergraben am Straßenrand. Nachdem das Flugzeug abgedreht hatte, kroch Helga aus dem Graben und rannte durch die Felder nach Hause. Edith tat dasselbe. Als der Großvater später das Rad holen ging, fand er die tote Anni, die versucht hatte, weiterzufahren. Warum, fragte sich Helga, ‚warum schießen sie auf ein zehnjähriges Mädchen?’"
Diese Mädchen wurden Opfer des Luftkriegs, aber die NS-Propaganda missbrauchte Kinder und Jugendliche auch als Werkzeug. Erwachsene setzten dem Regime größere eigene Erfahrung und damit Widerstandskraft entgegen. Bei Kindern hatten die Nazis hingegen ein leichteres Spiel, wie Stargardt mit dem Beispiel eines ebenfalls zehnjährigen Mädchens beweist, das sich für Hilfsarbeit in einem Büro verpflichtet hatte.
"In Straßburg entschloss sich die zehnjährige Monika Schypulla, ihren ‚Kriegsdienst’ anzutreten. Sie schrieb ihrem Vater, dass sie das Haus morgens um 6 Uhr 45 verlassen müsse, um mit der Straßenbahn Nummer 16 zur Endstation zu fahren. Dann machte sie dem Kreisleiter einen 45-minütigen Gang, um Nachrichten in sein Büro zu bringen. ‚Aber ich darf nicht öffnen! Das ist Geheimsache! Da stehen doch die Sachen drin, wie weit die Feinde noch von uns weg sind usw.’ fuhr sie fort. Bis nachmittags um drei tat sie ihre Pflicht, sieben Tage die Woche. ‚Ja, Daddy, das ist eben totaler Krieg. Auf jeden einzelnen kommt es an!’"
Das Mädchen identifiziert sich ganz mit seiner Arbeit. Dieses Zeugnis bildet freilich eher eine Ausnahme. Denn bei Stargardt überwiegt ein anderer, verstörender Eindruck - der einer sorglosen Distanz der Kinder zum grausamen Leben um sie herum. Oft sahen sie das Anormale des Kriegs als normal. Viele von ihnen hatten den Frieden nie kennen gelernt, und so gingen sie mit Tod und Gewalt erschreckend unbekümmert um.
"Nachdem die Kinder im Wilnaer Ghetto die Bedeutung von Wörtern wie ‚Aktion’, ‚Todestransport’, ‚Nazi’, ‚SS-Mann’, ‚Bunker’ und ‚Partisan’ gelernt hatten, fingen sie an, sie in ihre Spiele einzubauen. Sie spielten ‚Aktion’, ‚Bunker sprengen’, ‚abschlachten’ und ‚den Toten die Kleider rauben’. ... Das Spiel begann damit, dass alle Türen und Ausgänge zum verlassenen Innenhof gesperrt wurden. Die Kinder wurden sodann in Juden, die sich unter Stühlen, Tischen, in Fässern und Mülleimern verstecken mussten, und litauische Polizisten sowie Deutsche, die sie suchten, unterteilt. Wenn ein verkleideter ‚Polizist’ ein ‚jüdisches’ Kind entdeckte, übergab er es den ‚Deutschen’. Da ein Jahrgang Kinder den nächsten ablöste, hielt sich das ‚Blockade’-Spiel zumindest bis 1943; nur der Name des ‚Kommandanten’ wechselte, um mit der Realität Schritt zu halten. Er wurde jedoch stets von dem stärksten Jungen oder Mädchen gespielt."
Kinder gewöhnten sich schnell an die Ausnahmesituation der täglich lauernden Gefahr. Der Anblick des Todes verstörte sie nicht, wie ein Beispiel aus dem Warschauer Ghetto zeigt.
"Im Mai 1942 sah der bekannte Kinderarzt Janusz Korczak überall Verhungerte. Er blieb auf der Straße stehen, um drei Jungen zuzuschauen, die neben dem ausgestreckten Körper eines toten oder sterbenden Kinds Pferdchen und Kutscher spielten. Sie beachteten das Kind nicht, bis sich ihre Zügel verhedderten. Korczak notierte in sein Tagebuch: ‚Sie probieren alles, um die Zügel loszubekommen, werden ungeduldig und stolpern dabei über den am Boden liegenden Jungen. Endlich meint einer: ‚Laßt uns hier weggehen, der ist uns im Weg.’ Sie gehen einige Schritte weiter und hantieren dort weiter mit den Zügeln.’"
Diese Zitate bieten eine neue Sichtweise auf den Alltag dieser Zeit, und wenn man so will öffnet sich ein Blick von unten nach oben, von den Kleinen und Kleinsten auf die großen Läufe der Geschichte. Zu diesem Zweck führt Stargardt ungefähr 150 Kinder und Jugendliche ein. Das mag gut gemeint sein, ist aber mehr als der Leser verkraften kann. Er verliert schnell den Überblick und damit auch die Lust am Weiterlesen. Hinzu kommt, dass Stargardt nicht beim Thema bleibt, Erwachsene zu Wort kommen lässt und das Buch auch deshalb zerfasert. Der Historiker setzt uns einen Potpourri von Zeugnissen und Zitaten vor, aber keinen Überblick.
Doch genau das hätte er leisten müssen. Denn es gibt bereits viele interessante Einzelzeugnisse: Anne Franks Tagebuch, Louis Beglys autobiographischer Roman "Lügen in Zeiten des Kriegs" und auch die jetzt erschienen Erinnerungen von Günter Grass und Joachim Fest schildern brillant Kindheit und Jugend dieser Zeit. Stargardts Aufgabe wäre es gewesen, aus den individuellen Aussagen Thesen zu formulieren, und so die Geschichtswissenschaft voranzubringen. Allerdings hat er eine nützliche Vorarbeit geleistet, auf der nun andere Historiker aufbauen müssen.
Nicholas Stargardt: "Maikäfer flieg!"
Hitlers Krieg und die Kinder
Aus dem Englischen von Gennaro Ghirardelli
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2006
In den letzten Jahren erscheinen freilich immer mehr Bücher, die ohne diese Schablonen auskommen. Zum Beispiel Wibke Bruns Band "Meines Vatersland". Er gehört zu den erfolgreichsten dieser Titel. Bruns erzählt darin das Leben ihres Vaters, der erst vom Nazi-Regime überzeugt war, sich später jedoch am Widerstand des 20. Juli beteiligte.
Nun legt der in Oxford lehrende Historiker Nicholas Stargardt einen Band vor, der vollends auf die Unterscheidung zwischen Opfern und Tätern verzichtet. Für Stargardt können die alten Kategorien auch gar nicht zur Anwendung kommen. Denn er rückt Kinder und Jugendliche in den Mittelpunkt. Bei ihnen handelt es sich immer um Objekte, nie um Subjekte in dem Sinn, das sie für Krieg, Holocaust, Flucht und Bombenangriffe verantwortlich gemacht werden könnten. Kurzum: Kinder sind immer Opfer der Geschichte, genauer: Opfer der Erwachsenen. Damit hat der gebürtige Australier ein mutiges Experiment gewagt. Es ist Stargardt, das muss man zweifellos anerkennen, gelungen – gerade auch weil er nie in Zweifel zieht, dass die Ursache für Krieg, Morden und Elend von Deutschland ausging.
Über Jahre hat Stargardt Zeugnisse aus vielen Ländern Europas gesammelt und diese nun in seinem Buch zusammengefügt, darunter auch die Erinnerungen von drei Mädchen.
"Im österreichischen Unterthurnbach waren die zehnjährige Helga und ihre zwei Freundinnen Edith und Anni gerade dabei, mit ihren Fahrrädern nach Hause aufzubrechen, als der Alarm ertönte. Das drohende Brummen des Flugzeugs kam näher, da sprang Helga vom Fahrrad und warf sich in einen Wassergraben am Straßenrand. Nachdem das Flugzeug abgedreht hatte, kroch Helga aus dem Graben und rannte durch die Felder nach Hause. Edith tat dasselbe. Als der Großvater später das Rad holen ging, fand er die tote Anni, die versucht hatte, weiterzufahren. Warum, fragte sich Helga, ‚warum schießen sie auf ein zehnjähriges Mädchen?’"
Diese Mädchen wurden Opfer des Luftkriegs, aber die NS-Propaganda missbrauchte Kinder und Jugendliche auch als Werkzeug. Erwachsene setzten dem Regime größere eigene Erfahrung und damit Widerstandskraft entgegen. Bei Kindern hatten die Nazis hingegen ein leichteres Spiel, wie Stargardt mit dem Beispiel eines ebenfalls zehnjährigen Mädchens beweist, das sich für Hilfsarbeit in einem Büro verpflichtet hatte.
"In Straßburg entschloss sich die zehnjährige Monika Schypulla, ihren ‚Kriegsdienst’ anzutreten. Sie schrieb ihrem Vater, dass sie das Haus morgens um 6 Uhr 45 verlassen müsse, um mit der Straßenbahn Nummer 16 zur Endstation zu fahren. Dann machte sie dem Kreisleiter einen 45-minütigen Gang, um Nachrichten in sein Büro zu bringen. ‚Aber ich darf nicht öffnen! Das ist Geheimsache! Da stehen doch die Sachen drin, wie weit die Feinde noch von uns weg sind usw.’ fuhr sie fort. Bis nachmittags um drei tat sie ihre Pflicht, sieben Tage die Woche. ‚Ja, Daddy, das ist eben totaler Krieg. Auf jeden einzelnen kommt es an!’"
Das Mädchen identifiziert sich ganz mit seiner Arbeit. Dieses Zeugnis bildet freilich eher eine Ausnahme. Denn bei Stargardt überwiegt ein anderer, verstörender Eindruck - der einer sorglosen Distanz der Kinder zum grausamen Leben um sie herum. Oft sahen sie das Anormale des Kriegs als normal. Viele von ihnen hatten den Frieden nie kennen gelernt, und so gingen sie mit Tod und Gewalt erschreckend unbekümmert um.
"Nachdem die Kinder im Wilnaer Ghetto die Bedeutung von Wörtern wie ‚Aktion’, ‚Todestransport’, ‚Nazi’, ‚SS-Mann’, ‚Bunker’ und ‚Partisan’ gelernt hatten, fingen sie an, sie in ihre Spiele einzubauen. Sie spielten ‚Aktion’, ‚Bunker sprengen’, ‚abschlachten’ und ‚den Toten die Kleider rauben’. ... Das Spiel begann damit, dass alle Türen und Ausgänge zum verlassenen Innenhof gesperrt wurden. Die Kinder wurden sodann in Juden, die sich unter Stühlen, Tischen, in Fässern und Mülleimern verstecken mussten, und litauische Polizisten sowie Deutsche, die sie suchten, unterteilt. Wenn ein verkleideter ‚Polizist’ ein ‚jüdisches’ Kind entdeckte, übergab er es den ‚Deutschen’. Da ein Jahrgang Kinder den nächsten ablöste, hielt sich das ‚Blockade’-Spiel zumindest bis 1943; nur der Name des ‚Kommandanten’ wechselte, um mit der Realität Schritt zu halten. Er wurde jedoch stets von dem stärksten Jungen oder Mädchen gespielt."
Kinder gewöhnten sich schnell an die Ausnahmesituation der täglich lauernden Gefahr. Der Anblick des Todes verstörte sie nicht, wie ein Beispiel aus dem Warschauer Ghetto zeigt.
"Im Mai 1942 sah der bekannte Kinderarzt Janusz Korczak überall Verhungerte. Er blieb auf der Straße stehen, um drei Jungen zuzuschauen, die neben dem ausgestreckten Körper eines toten oder sterbenden Kinds Pferdchen und Kutscher spielten. Sie beachteten das Kind nicht, bis sich ihre Zügel verhedderten. Korczak notierte in sein Tagebuch: ‚Sie probieren alles, um die Zügel loszubekommen, werden ungeduldig und stolpern dabei über den am Boden liegenden Jungen. Endlich meint einer: ‚Laßt uns hier weggehen, der ist uns im Weg.’ Sie gehen einige Schritte weiter und hantieren dort weiter mit den Zügeln.’"
Diese Zitate bieten eine neue Sichtweise auf den Alltag dieser Zeit, und wenn man so will öffnet sich ein Blick von unten nach oben, von den Kleinen und Kleinsten auf die großen Läufe der Geschichte. Zu diesem Zweck führt Stargardt ungefähr 150 Kinder und Jugendliche ein. Das mag gut gemeint sein, ist aber mehr als der Leser verkraften kann. Er verliert schnell den Überblick und damit auch die Lust am Weiterlesen. Hinzu kommt, dass Stargardt nicht beim Thema bleibt, Erwachsene zu Wort kommen lässt und das Buch auch deshalb zerfasert. Der Historiker setzt uns einen Potpourri von Zeugnissen und Zitaten vor, aber keinen Überblick.
Doch genau das hätte er leisten müssen. Denn es gibt bereits viele interessante Einzelzeugnisse: Anne Franks Tagebuch, Louis Beglys autobiographischer Roman "Lügen in Zeiten des Kriegs" und auch die jetzt erschienen Erinnerungen von Günter Grass und Joachim Fest schildern brillant Kindheit und Jugend dieser Zeit. Stargardts Aufgabe wäre es gewesen, aus den individuellen Aussagen Thesen zu formulieren, und so die Geschichtswissenschaft voranzubringen. Allerdings hat er eine nützliche Vorarbeit geleistet, auf der nun andere Historiker aufbauen müssen.
Nicholas Stargardt: "Maikäfer flieg!"
Hitlers Krieg und die Kinder
Aus dem Englischen von Gennaro Ghirardelli
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2006