Langer Kampf um Rehabilitierung
Für das Hamburger Deserteur-Denkmal hat sich auch Ludwig Baumann eingesetzt. Er ist in der Hansestadt geboren und letzter noch lebender Wehrmachtsdeserteur. 1990 hat er die Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz gegründet.
Ludwig Baumann hat gerade den Wasserkocher angeschaltet, als es an der Tür klingelt.
"Hallo?"
Der alte Herr öffnet und kommt kurz darauf mit einem Paket zurück in die Küche.
"Kann ich ja eben mal aufmachen."
Als Baumann das Paket aufreißt, gießt er sich nebenbei einen Instant-Kaffee auf. "Schonkaffee" steht auf dem Etikett. Die kleine Küche ist blitzblank, als würde sie kaum benutzt. Auf dem Küchentisch steht eine gelbe Begonie, auf dem Fensterbrett eine kleine Vase mit getrockneten Blumen. Inzwischen hat er das Paket ausgepackt: Rezensionsexemplare seines neuen Buches: "Niemals gegen das Gewissen" heißt es. Er setzt sich an den Tisch und beginnt, ein Exemplar zu signieren:
"Heute ist der Elfte, ne? Nee, der Zehnte., gut. (Murmelt, schreibt) Ich war ja mal Legastheniker, und ich muss immer aufpassen, dass ich richtig schreib. Zehnte…"
Ein offenes Buch. Sobald man Ludwig Baumann kennenlernt, merkt man, dass er etwas loswerden will. Es ist ihm ein Anliegen, über seine Vergangenheit zu sprechen, seine Geschichte zu teilen. Keine falsche Scham. Dass es so ordentlich ist, liegt daran, dass er einen Ordnungsfimmel hat, sagt er. Vielleicht als Gegengewicht - weil er innerlich so lange so durcheinander war, hat ihm ein Psychologe einmal gesagt. Und die Legasthenie – vielleicht auch wichtig, wenn man verstehen will, was Ludwig Baumann für ein Mensch ist:
"Also ich hab schon gesagt, dass ich Legastheniker war. Und dass ich ne schwere Kindheit hatte. Auch darum, weil damals Legasthenie noch nicht zu erkennen war. Meine Eltern mussten natürlich denken, dass ich nicht willig war. Und dann kam ich in die Maurerlehre mit 14. Und mit 15 starb mir meine Mutter bei einem Verkehrsunfall. Und das war für mich so ein Schock. Ich hab so an meiner Mutter gehangen. Ich hab ihren Tod über Tage und Wochen nicht wahrnehmen können. Ich fing dann an, zu rebellieren, also ich bin nicht in die Hitlerjugend reingegangen, zum Beispiel, obwohl sie mich bedrängt haben an der Haustür und auf der Arbeit. Und als ich dann zur Kriegsmarine eingezogen wurde, habe ich bei der Grundausbildung keine Stiefel geputzt für Vorgesetzte – was ja üblich war. Ich hätt‘s ja tun können, die haben mich ja so schikaniert, da schon. Aber ich hab’s wohl nicht anders tun können.
Und dann kamen wir nach Bordeaux, zur Kriegsmarine. Hafen bewachen. Gab‘s nicht viel zu bewachen. Die westlichen Alliierten hatten die Häfen blockiert. Aber im Hafen waren Franzosen, Feuerwehrleute, Arbeiter und da kam der Gedanke auf, zu desertieren. Also ich wollte kein Soldat sein, Befehle befolgen war wirklich ein Greul. Und Motive? Das ist auch sehr schwer, aber ich kann mich doch sehr gut erinnern, dass die Wehrmacht die Länder Europas überfallen hat – ein Land nach dem anderen. Und dann die Sowjetunion. Und das war für mich schon ein Schlüsselerlebnis. Das war ja auch erst ein Blitzkrieg. Bis nach Moskau, in drei Monaten. Riesige Gefangenenlager, für sowjetische Kriegsgefangene. Hunderttausende in jedem Lager, auf freiem Feld, mit einfacher Uniform.
Wir sahen, wenn wir ins Kino gingen, die Wochenschauen. Und die zeigten diese Bilder von den Gefangenenlagern. Das waren ja immer Siegesmeldungen. Und dann haben Kurt und ich uns gefragt: Was ist denn nun, bei 40 Grad unter null, die müssen ja alle erfrieren. Und da haben wir gesagt: also diesen Krieg werden wir nicht mitmachen. Wir wollen keine Leute töten, und wir wollen ganz einfach leben."
Gescheiterte Flucht in Frankreich
Ludwig Baumann und sein Kamerad Kurt Oldenburg wollen über die innerfranzösische Grenze ins unbesetzte Frankreich fliehen. Von dort nach Marokko, damals noch französische Kolonie. Und anschließend in die USA. Die Franzosen im Hafen geben den beiden jungen Deutschen Alltagskleidung und bringen sie zur innerfranzösischen Grenze. Wahrscheinlich waren auch Widerstandskämpfer der Résistance unter ihnen, vermutet Baumann.
Im Morgengrauen wollen die beiden jungen Männer die Grenze überqueren, dabei laufen sie einer deutschen Zollstreife in die Arme. Obwohl die zwei Soldaten entsicherte Pistolen dabei haben, schießen sie nicht auf die Zollbeamten, um ihre Flucht fortsetzen zu können. Warum, kann Baumann heute nicht mehr sagen:
"Wir haben‘s nicht getan. Wir kamen dann auf die Wache vom Zoll. Wir sind dann zum Tode verurteilt worden. Sie haben uns sowohl bei der Vernehmung als auch noch in der Todeszelle gefoltert. Weil wir die Franzosen nicht verraten haben, haben sie uns gefoltert. Wir haben dann einen Ausbruchsversuch gemacht, zusammen mit Spaniern. Wir sagten 'Rotspanier'. Das ist misslungen. Darum haben sie uns Tag und Nacht gefesselt. Diese Rotspanier waren wahrscheinlich Kommunisten, also es waren welche, die vor Franco geflüchtet waren, vorm Krieg. Und dann wurden die Angehörigen auf den Gefängnishof gebracht, um sich zu verabschieden. Wir konnten das durch die Gitterfenster sehen. Und dann habe ich gesehen, wie die Frauen ihre Männer und Kinder in die Arme nahmen und schrien. Und sie wurden auseinandergerissen, und sie wurden alle umgebracht. Und ich denke schon, von da an wurde ich ein politischer Mensch."
Zehn Monate in der Todeszelle
Ludwig Baumann sitzt zehn Monate in der Todeszelle. Und das, obwohl das Todesurteil bald in eine zwölfjährige Zuchthaus-Strafe umgewandelt wird. Baumanns Vater konnte auf einflussreiche Bekannte einwirken. Als Ludwig Baumann die Todeszelle im Frühjahr1943 verlässt, wird er ins Konzentrationslager Esterwegen gebracht, nach ein paar Wochen dort geht es weiter ins Wehrmachtsgefängnis in Torgau. Schließlich, es ist bereits Sommer 1944, soll er im Strafbataillon an der Ostfront verheizt werden. Sein Kamerad Kurt Oldenburg und viele andere sterben dort. Ludwig Baumann überlebt, weil er wegen Diphterie ins Lazarett kommt. Als der Krieg endlich zu Ende ist, kommt er mit sowjetischer Hilfe bis nach Gleiwitz. Weihnachten 1945 erreicht der 24-Jährige Hamburg, seine Heimatstadt:
"Als ich dann zurückkam, da haben wir gehofft, dass unsere Handlung anerkannt würde. Aber wir sind wirklich nur als Dreckschweine, Verräter, Feiglinge beschimpft, bedroht worden – von den alten Kameraden, die den Krieg mitgemacht haben. Ich bin dann zusammengeschlagen worden von den alten Kameraden. Ich bin dann zur Polizei gegangen, wollte Anzeige machen. Bin dann nochmal zusammengeschlagen worden. Wahrscheinlich waren das Polizisten von diesen Polizeibataillonen, die im Osten schlimm gewütet haben. Ich hab das alles nicht fassen können. Mein Vater war verzweifelt, er ist dann an Kummer verstorben.
Und dann habe ich seinen ganzen Besitz, mehrere Häuser, Grundstücke, mit anderen wie irre vertrunken. Meist habe ich ganze Kneipen gemietet. Und als alles alle war, bin ich dann nach Bremen gekommen. Das war Anfang 1950. Ich hab meine Frau in Bremen kennengelernt, weil ich Gardinen verkauft habe an der Tür. Ich war ja auch unten, aber ich machte wohl bei alldem einen ordentlichen Eindruck, und wir sind zusammen geblieben. Wir haben uns gern gemocht, aber meine Frau war natürlich unglücklich. Ich hab weiter getrunken, und es fehlte am Nötigsten."
Kampf um Rehabilitierung seit den 1980ern
Das Ehepaar bekommt sechs Kinder, bei der Geburt des letzten Babys stirbt Baumanns Frau Waltraud mit 33 Jahren. Ab da muss Ludwig Baumann die ganze Verantwortung übernehmen, die Kinder großziehen. Er schafft es. Über seine Vergangenheit spricht er in diesen Jahren nie. Stattdessen verdrängt er. Erst Ende der 80er-Jahre kann er seine Akte einsehen. Dann kommt alles zurück, und Baumannbeschließt, die "Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz" zu gründen. Gemeinsam mit 37 weiteren Mitstreitern. Die Gruppe kämpft im Bundestag um Rehabilitierung, um die Aufhebung der NS-Urteile und eine späte Würde. Erst 2002, nach mehr als zehn Jahren Arbeit, ist es soweit. Baumann und die anderen gelten nicht mehr als vorbestraft. 60 Jahre nach dem Todesurteil. Sieben Jahre später werden auch die Urteile gegen Kriegsverrat aufgehoben. Baumann lächelt:
"Natürlich: Mir ist da ein Traum in Erfüllung gegangen. Es war sehr schön."
Inzwischen ist Ludwig Baumann 92 Jahre alt. Er fährt noch Rad, obwohl der Arzt es ihm verboten hat. Die Augen machen Probleme, das Laufen fällt allmählich auch schwer. Der Rollator ist schon bestellt. Und seit Kurzem kommt ab und zu eine Haushaltshilfe vorbei. Der Gedanke, nicht mehr aktiv sein zu können, macht Baumann nervös. Wenn er nicht mehr eintreten kann für Pazifismus und gegen Krieg, wenn er zu gebrechlich wird, um vor Schulklassen zu sprechen - dann wird er nicht mehr lange leben, sagt er. Und dann liest er die letzten Sätze aus seinem neuen Buch "Niemals gegen das Gewissen" vor:
"Jüngst fragte mich ein Freund: Was soll, was darf jetzt mit 92 noch kommen in deinem Leben? Nun, ich möchte solange wie möglich wach und tatkräftig bleiben und dann in Würde sterben können."