Welche Rolle Blut für die religiöse Kommunikation spielt
Tiere und Gaben darbringen, um Gott zu danken oder um Vergebung zu bitten: Das ist wichtiger Teil vieler Geschichten in der Hebräischen Bibel. Die Texte mit den Opfervorschriften klingen dagegen spröde – haben aber bis heute eine Bedeutung für jüdische und christliche Gläubige.
Es wäre schön, über das Opfern in der Hebräischen Bibel ganz neutral reden zu können: ohne das Unbehagen, das der Begriff heute auslöst. "Opfer" – da geht es um Gewalt, um Macht und Tote, und wer als "du Opfer" beschimpft wird, bekommt die eigene Hilflosigkeit voll Hohn unter die Nase gerieben. Das war mal anders.
Das dritte Buch der Hebräischen Bibel, des Alten Testaments der Christen, dreht sich zum großen Teil ums Opfern und ist – ein Gespräch, sagt Shani Tzoref. Sie lehrt am Fachbereich jüdische Theologie der Universität Potsdam die Auslegung der Tora:
"Leviticus beginnt damit, dass Gott Mose ruft – auf Hebräisch: Wajikra – und das bestimmt eigentlich auch, wie darin über das Opfer gesprochen wird: Gott sucht das Gespräch."
Peinlich genaue Unterscheidungen
Gott redet also zu seinem Volk, zu denen, mit denen er einen besonderen Bund geschlossen hat – übers Opfern. Kapitel um Kapitel, mit peinlich genauen Unterscheidungen. Brandopfer, Leviticus 1,3: "Will er ein Brandopfer darbringen von Rindern, so opfere er ein männliches Tier, das ohne Fehler ist."
Opfer aus pflanzlicher Nahrung, Leviticus 2,2: "Und der Priester soll eine Handvoll nehmen von dem Mehl und Öl samt dem ganzen Weihrauch und es als Gedenkopfer in Rauch aufgehen lassen auf dem Altar als ein Feueropfer zum lieblichen Geruch für den Herrn."
Opfer für spezielle Anlässe, wenn jemand zum Beispiel ohne böse Absicht gegen ein göttliches Gebot verstoßen hat.
Leviticus 4,5f: "Und der Priester soll seinen Finger in das Blut tauchen und damit siebenmal sprengen vor dem Herrn, an den Vorhang im Heiligen."
Allgemeine Opferstandards der Antike
Von Opferart zu Opferart unterscheidet sich, welches Tier verwendet werden soll, welche Teile wo verbrannt, welche von wem gegessen werden sollen. Die Auflistung ist detailreich und zugleich formelhaft, nur eines wird nie erklärt: Warum überhaupt die Menschen Opfer bringen sollen.
Shani Tzoref: "Zu der Zeit waren die Israeliten so verstrickt in eine Kultur der Anbetung von Götterbildern – auch wenn Gott selbst gesagt hätte, hört auf mit dem Kram, das findet alles in eurem Geist und eurer Seele statt: Keiner hätte ihn verstanden, keiner hätte damit etwas anfangen können."
Thomas Hieke: "Die Tieropfer des Leviticus sind schlicht der religiöse Standard der Antike. Das hat man in der Antike immer so gemacht und fast überall so gemacht. Insofern übernimmt die Tora, also Gottes Weisung, hier gewissermaßen einen Standard aus der allgemein menschlichen Praxis der damaligen Zeit."
Thomas Hieke ist Professor für Altes Testament an der Universität Mainz. Er hat einen für einen christlichen Theologen ungewöhnlichen Schwerpunkt: das Buch Leviticus mit seinen Opfervorschriften.
"Der Opfergottesdienst in der Bibel funktioniert nicht nach der römischen Vorstellung des 'do ut des', ich, Mensch, gebe, damit du, Gott, gibst, sondern Gott ist in der Bibel immer völlig frei und souverän. Gott kann ein Opfer annehmen, er kann es auch nicht annehmen. Man weiß nicht, warum."
In biblischen Texten allgegenwärtig
Am Beginn der Geschichte vom ersten Brudermord steht also ein misslungenes Opfer. In den biblischen Texten, die von den Anfängen des Volkes Israel erzählen, ist das Opfer allgegenwärtig. Aber die genauen Regeln wurden erst festgelegt in den Texten, die ab dem 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung entstanden.
Im Jahr 515 weihten die Israeliten in Jerusalem den Zweiten Tempel ein, den zentralen Ort für alle Opfer – nachdem sie die Zerstörung des ersten Tempels und eine Zeit des Exils überstanden hatten. Die genauen Vorschriften aus dem Buch Leviticus stifteten Sicherheit in bewegten Zeiten.
Thomas Hieke: "Wenn das Opfer in Ordnung ist, das heißt, wenn die Materie nicht irgendein billiges Zeug ist, ein lahmendes Tier, das man auf dem Markt so gar nicht mehr verkaufen kann, sondern wenn das Tier kostbar und in Ordnung ist und wenn die Einstellung des Menschen dazu in Ordnung ist, dann verspricht Gott, dieses Opfer anzunehmen und sich positiv den Menschen zuzuwenden."
Die Kommunikation mit Gott bekommt Regeln
Und zwar ganz unabhängig von persönlichem Reichtum: Jedes Opfer ist gleich viel wert, egal ob Taube oder Rind. Opfern ist Kommunikation mit Gott, so Hieke.
"Es ist in dem Sinne eine religiöse Sprache, weil hier ein Vollzug stattfindet, in den sich der Mensch hineinbegibt, und wenn dieses Tier geopfert wird und der Rauch nach oben steigt, dann fühlt sich der Mensch selbst auch von Gott angenommen. So wie das Opfertier von Gott angenommen wird. Wenn alles funktioniert."
Zitat aus der Bibel, Buch Hosea Kapitel 6: "Ich habe Lust an der Liebe und nicht am Opfer, an der Erkenntnis Gottes und nicht am Brandopfer."
Heißt es im Buch des Propheten Hosea. Das ist der Nachteil des Opferns als fester Institution: Die Kommunikation mit Gott bekommt Regeln, aber auch einen gewissen Automatismus. Das passt nicht zu einem Glauben, der immer stärker auf den Überzeugungen des Einzelnen beruht.
Hosea 14,3: "Bekehrt euch zum Herrn und sprecht zu ihm: Vergib uns alle Sünde und tu uns wohl, so wollen wir opfern die Frucht unserer Lippen."
Shani Tzoref: "Hosea sagt: Unsere Lippen werden an die Stelle der Stiere treten. Da tritt also die Sprache, das Gebet, an die Stelle des Opfers. Das ist immer noch eine konkrete, körperliche Verbindung zu Gott, es findet nicht alles nur in Gedanken statt, aber es geschieht eben nur noch im Wort."
Die religiöse Sprache ändert sich
Was in der Erzählung von Kain und Abel noch der hebräische Begriff für die Opfergabe war, Mincha, bezeichnet im gegenwärtigen Judentum das Nachmittagsgebet. Als der Tempel nach der ersten Zerstörung wieder aufgebaut wurde, prägte das Opfern noch die allgemeine religiöse Sprache. Als der Tempel ein halbes Jahrtausend später zum zweiten Mal zerstört wurde, im Jahr 70 unserer Zeit, hatte sich die Sprache geändert, sagt die jüdische Theologin Shani Tzoref.
"Ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, als man sich gern des Opferns entledigt hätte, geschahen sowohl die Jesusgeschichte als auch die Zerstörung des Tempels. Und so konnten Juden und Christen das Opfern hinter sich lassen, auch wenn es in der heidnischen Umwelt noch einige Jahrhunderte fortgeführt wurde. Die Zeit war reif genug."
Von einem glücklichen Zusammentreffen möchte die jüdische Theologin nicht sprechen, dazu bleibt die Zerstörung des zentralen Heiligtums Israels zu traumatisch. Das Ende der Opfer war Herausforderung und Freiraum zugleich – für das sich neu formende Judentum wie für die neuentstehende christliche Kirche.
"Ich halte heute immer noch den Schabbat, ich esse immer noch koscher, ich halte mich an viele Traditionen – aber ich bringe keine Opfer mehr. Wie kann das funktionieren?"
Ein großer Teil von Liturgie und Glaube
Jedenfalls ist es für Juden und Jüdinnen kaum möglich, das Opfern als für immer erledigt anzusehen, sagt Shani Tzoref.
"Auch wenn wir sagen: wie gut, dass das mit dem Opfern vorbei ist, wir sind heute weiter – es bleibt die Herausforderung, dass es ein großer Teil von Liturgie und Glaube ist, sich auf die Zeit des Messias zu freuen, wenn als Zeichen der Erlösung der Tempel wieder errichtet werden wird. Und dazu gehört dann ja auch, dass die Opfer wieder aufgenommen werden."
In den vergangenen Jahren haben jüdische Aktivisten immer an Pessach versucht, möglichst nah zum Tempelberg in Jerusalem die Tradition wiederzubeleben und ein Schaf zu opfern. Das ist eine kleine, radikale Minderheit. Viel verbreiteter sind Versuche, sagt Shani Tzoref, die Worte und Verheißungen der Liturgie neu zu verstehen. Und dafür greifen Juden auch heute wieder zurück auf: das Buch Leviticus und seine Anweisungen für Opfergaben.
"Eine Deutung ist: Wenn der Tempel hier auf der Erde wieder errichtet wird, dann werden die Opfer nicht Fleisch sein, sondern Speisegaben. Denn Leviticus beschreibt ja auch Opfergaben aus Mehl. Es gäbe dann also einen Tempel, aber mit vegetarischen Opfern."
Fortsetzung in der Eucharistie
Für Christinnen und Christen mögen die Opfervorschriften aus der hebräischen Bibel heute noch ferner klingen – in einem ihrer zentralen Riten ist der Opfergedanke aber tief verwurzelt. Thomas Hieke:
"Wenn Jesus im Abendmahl bestimmte Worte sagt, dann greift das schon stark auf kultisches, gottesdienstliches Denken zurück, insbesondere wenn dann natürlich das Blut des Opfertieres ersetzt wird durch das Blut Christi. Und in der Eucharistie dann noch mal ersetzt wird durch den Wein. 'Das ist mein Blut.' Wie das Blut der Opfertiere."
In der religiösen Vorstellung wurde das Opfern immer enger mit der Vergebung von Sünden verknüpft – so sollten Übertretungen der göttlichen Ordnung oder Störungen im Verhältnis zu Gott bereinigt werden. Mit Jesus Christus war für die Kirche das physische Opfer erledigt. Aber die Sehnsucht ist geblieben, für die man einst Tiere schlachtete, sagt der christliche Theologe Thomas Hieke.
"Menschen brauchen Dinge, die sichtbar sind, wenn sie es mit diesem unsichtbaren Gott zu tun haben. Zum Beispiel, dass man Wege finden muss, wie man seine Dankbarkeit Gott gegenüber ausdrücken kann, dass man Wege finden muss, wie man wieder miteinander ins reine kommen kann, wie man mit Gott wieder versöhnt werden kann, da gibt es eben nicht mehr das Opfer, da brauchen wir andere Wege, aber der Grundgedanke ist der gleiche. Was hab ich für Gott übrig? Opfere ich meine Zeit, mein Geld, und so weiter."