Opferstatus als Wundertüte

Rezensiert von Cora Stephan |
Der Autor Jan Fleischhauer hat - angefangen vom Elternhaus - viele Jahre unter Linken verbracht. In "Unter Linken" geht er auf Distanz, und er schreibt, warum er nicht mehr dazugehört.
Man muss Jan Fleischhauer einen gewissen Opferstatus zubilligen: Wer in den ausgehenden Sechzigerjahren ohne Zitrusfrüchte und Nesquik aufgewachsen ist, keine Pepsi trinken und keine Comics lesen durfte, weil Mutter das alles politisch nicht korrekt fand, hatte es nicht leicht. Gewiss, andere mussten in ihrer Jugend ohne Bananen auskommen und sich von – ausgerechnet! - Roter Bete ernähren. Doch - an beiden Missständen waren politische Überzeugungen schuld, die man im Allgemeinen "links" nennt.

Pech für Jan Fleischhauer, dass der in Hamburg-Wellingsbüttel Aufgewachsene im Unterschied zu seinen Altersgenossen aus der DDR, die wenigstens die Wende hatten, der linken Krake nie entkam: Er wurde nämlich "Spiegel"-Redakteur, wo man zwar gerne Porsche fährt, aber natürlich links und stets mit den Unterdrückten und Entrechteten im Blick. Das linke Milieu ist eben immer und überall:

"In der Meinungswirtschaft, in der ich mein Geld verdiene, gibt es praktisch nur Linke. Und wer es nicht ist, behält das lieber für sich. (Denn): Niemand möchte im Büro derjenige sein, der beim Gang zum Mittagessen als Einziger bei der Frage übergangen wird, ob er mitkommen wolle."

Links sein sei "eine Adaptionsleistung im Meinungsumfeld", sei "Sozialinstinkt", vulgo: Opportunismus, meint Fleischhauer. Die Folgen dieser kleinen menschlichen Schwäche sind indes gravierend:

"Die Linke hat gesiegt, auf ganzer Linie, sie ist zum Juste Milieu derer geworden, die über unsere Kultur bestimmen. Links ist eine Weltanschauung, auch eine Welterklärung, wie alles mit allem zusammenhängt – aber zunächst ist es vor allem ein Gefühl. Wer links ist, lebt in dem schönen Bewußtsein, im Recht zu sein, ja, einfach immer recht zu haben."

Früher hat der Bildungsbürger seinen Kindern das Comiclesen verboten, heute tun’s die linken Spießer, die sich mit dem Gefühl moralischer Überlegenheit gegen die Versuchungen neuer Welterkenntnis zu wappnen verstehen. Was früher konservativ war, ist heute politisch korrekt, und das geißelt Jan Fleischhauer mit viel Witz und einer Fülle von Beispielen.

Die sind allerdings ebenso wenig komisch wie die Linke humorbegabt ist. Das Buch handelt in vielen Facetten von den unzähligen Strategien, sich moralisch unangreifbar zu machen und damit ganz nebenbei in eine gute Verhandlungsposition um staatliche Zuschüsse zu bringen.

Da ist der Minderheiten- und Opferkult, ein einträgliches Geschäft, da man sowohl als Minderheit wie auch als Opfer oder dessen Vertreter Entschädigungsleistungen erwarten kann, die nicht selten in ein neues Privileg münden. Erfolgreiche Lobbyarbeit verzeichnet Fleischhauer bei der Frauenbewegung, aber auch bei Homosexuellen und körperlich anders Orientierten, früher Taube, Blinde oder gar Behinderte genannt. Der Opferstatus entpuppt sich als echte Wundertüte:

"Mit jeder Opfergruppe, die erst im gesellschaftlichen Diskurs und dann auch im verwaltungstechnischen Vollzug als solche anerkannt wird, weitet sich nicht nur der Opferkreis, sondern auch das Spektrum dessen, was als Diskriminierung zu gelten hat. Je sensibler sich eine Gesellschaft für die Kränkungen und Zurücksetzungen ihrer Mitglieder zeigt, desto mehr wächst der Bedarf nach Quotenregelungen, Gleichstellungsprogrammen und Fördergeldern."

Kein Wunder, dass so viele ehemals Bewegte im Öffentlichen Dienst gelandet sind und als "Goldhamster des Systems" gemütlich ihr Rad drehen, während sie aufmüpfige Sprüche klopfen. Denn dort kann man froh verwalten, was der einst als Spießer verhöhnte Steuerbürger Monat für Monat anschafft.

Der interessiert beim Kampf um eine bessere Welt nicht. Und insofern hat die Linke wirklich auf ganzer Linie gesiegt: nur die FDP profiliert sich im derzeitigen Wahlkampf nicht als Partei sozialer Wohltaten. Hier scheint man noch zu wissen, woher die Kohle kommt, die alle Welt verteilen will. Wie lange noch?

Doch was heißt schon "Steuerbürger"? Wo diejenigen siegen, die sich am lautesten benachteiligt fühlen, gibt es keine Gesellschaft gleichberechtigter Bürger mehr, nur noch "die Randgruppen-Hierarchie der Stammeswelt." Und wo der Staat mit milden Gaben korrumpiert, erzeugt er den "Bürger als Kostgänger".

"Der Sozialstaat ist die zur Wirklichkeit geronnene Utopie der gerechteren Gesellschaft. Wenn es eine Aufbauleistung gibt, für die die Linke unbeschränkt Kredit beanspruchen kann, dann den Umbau des Sozialstaats von einer Grundsicherung gegen die großen Schadensfälle des Lebens zum allumfassenden Für- und Nachsorgesystem, bei dem sie selber, ganz zufällig natürlich, bestens wegkommt."

Fleischhauer analysiert mit wachsender Bitterkeit eine sogenannte Bildungsreform, die millionenfaches Scheitern erzeugt, ein Sozialsystem, das Unverantwortlichkeit und Unselbständigkeit belohnt, ein Menschenbild, das von der unendlichen Formbarkeit seines Ausgangsmaterials ausgeht, eine Strafordnung, die das Gewaltmonopol des Staates riskiert.

Und eine denkfaule Toleranz, die sich vor einem der größten heutigen und künftigen Probleme wegduckt: dass die Zahl der Menschen "mit Migrationshintergrund" anwächst, die sich auch in dritter und vierter Generation nicht integrieren können oder wollen.

Ist an soviel Unheil wirklich nur "die Linke" schuld? Oder nicht vielleicht auch die plappernde Klasse, die sich gern als vierte Gewalt im Staate sieht? Nun, Fleischhauer schont seine Kollegen nicht. Was haben bundesdeutsche Journalisten und Politiker alles zusammenschwadroniert, wenn es um die DDR und die dort angeblich obwaltende menschliche Wärme ging.

Wie peinlich lesen sich die gesammelten Borniertheiten westdeutscher Meinungsinhaber zum Thema Wiedervereinigung. Und wie oft haben sich gerade die Medien im antifaschistischen Kampf hervorgetan gegen jeden, der es an politischer Korrektheit oder einfach nur an Stallgeruch fehlen ließ.

"Der Faschismusvorwurf ist die brutalste Waffe des intellektuellen Juste Milieu, das noch immer beliebteste Allzweckmittel in der Auseinandersetzung mit dem ideologischen Gegner. Wehret den Anfängen, heißt die linke Selbstermächtigung. Wenn es darum geht, die Republik vor den Rechten zu schützen, schätzt man den kurzen Prozess, da langt man lieber einmal zu viel hin als einmal zu wenig."

Links also als Machtoption? Der man sich besser unterwirft, wenn man dazugehören will? Da ist was dran. Der Verzicht aufs Dazugehörenwollen kann ziemlich kostspielig werden, denn einen Renegaten mögen weder die einen noch die anderen. Der Vorwurf Fleischhauers, "die Linke" habe dies oder jenes bis heute nicht aufgearbeitet, obwohl er genau jene zitiert, die aus dieser Aufarbeitung ein Lebenswerk gemacht haben, trifft schon deshalb nicht: Wer es irgendwann getan hat, fühlt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit auch nicht mehr links.

Nun, einem Mann wie dem 1962 geborenen Autor, dem man das frühe Leiden an Latzhosenlehrerin und Biomüslimutter noch immer anmerkt, sei das verziehen. Schon, weil er Helmuth Plessner gelesen hat.

Bleibt nur eine Frage: warum muss man eigentlich konservativ oder gleich reaktionär werden, wenn man nicht mehr links sein will? Mit Leidenschaft der Freiheit verpflichtet – das wäre doch gerade für Meinungsmacher eine schöne Alternative.


Jan Fleischhauer:
Unter Linken. - Von einem, der aus Versehen konservativ wurde

Rowohlt/2009
Cover: "Jan Fleischhauer: Unter Linken"
Cover: "Jan Fleischhauer: Unter Linken"© Rohwolt