Mut der Verzweiflung
Die liberale Opposition hat es schwer in Russland. Sie kämpft gegen die Beliebtheit Putins einerseits und die Desillusionierung vieler Russen über ihr politisches System andererseits. Derzeit ringt sie um Aufmerksamkeit für die Kommunalwahlen im September. Sie gelten als Generalprobe für die Parlamentswahlen im kommenden Jahr.
Ein Plakat in der Fußgängerzone, an einen Laternenmast gelehnt, ein junger Mann, der Prospekte verteilt. So viel Werbung darf die Opposition für sich machen, hier in Kaluga, 180 Kilometer südwestlich von Moskau. Mehr hat die Stadtverwaltung im Ortszentrum nicht erlaubt.
Kaluga ist eine von drei Städten, in denen die Opposition bei den Kommunalwahlen Fuß fassen will. Die anderen sind Kostroma und Nowosibirsk. Für mehr reichen die Mittel nicht aus. Die Voraussetzungen in Kaluga scheinen günstig: In der Stadt mit ihren 300.000 Einwohnern gibt es viele Gebildete, die sich nicht so leicht von der Putin-Propaganda einwickeln lassen. Eine Frau um die 50 nimmt einen Prospekt mit.
"Ich bin schon dafür, dass es eine Opposition gibt. Sie kann der Partei zeigen, wie das Volk denkt, dass nicht alles auf dem richtigen Weg ist. Sie ist ein Gegengewicht zur Partei. Nur so kann das Land in die richtige Richtung gehen, so können letztendlich alle zufrieden sein."
Ein Gegengewicht zur "Partei", sagt die Frau, als ob es in Russland noch immer eine Staatspartei gäbe. Ob sie auch für die Opposition stimmen würde? Diese Frage will sie lieber nicht beantworten.
Kaluga galt bis vor kurzem als Boom-Town. Viele Auto-Hersteller ließen sich hier nieder, darunter Volkswagen. Aber die Absatzzahlen brechen ein, die Fabriken entlassen. Schuld daran sind die westlichen Sanktionen – und vor allem der gesunkene Ölpreis. Immer mehr Menschen müssen mit einem Gehalt auskommen, das nur knapp über dem Existenzminimum liegt. Trotzdem werde sie bei der Kommunalwahl für die Putin-Partei "Einiges Russland" stimmen, sagt Galina Konstantinowna, eine 79-jährige Rentnerin.
"Putin ist ein Geschenk des Himmels für dieses Land. Was mich am meisten freut, ist diese junge Generation, die unter Putin herangewachsen ist. Diese jungen Leute sind so stark, so sportlich, so gesund. Putin hat nicht nur viel für den Breitensport getan. Er hat dafür gesorgt, dass alle ruhig und in Frieden leben können. Eine Opposition brauchen wir deshalb nicht, sie schadet nur."
Bürger sollen Oppositionskandidaten bestimmen
Die Opposition hat es schwer, sich vor der Wahl überhaupt Gehör zu verschaffen. Deshalb hat sie sich zur "Demokratischen Koalition" vereint. Ihr gehört die "Partei der Nationalen Freiheit", kurz "Parnas", an. Auch die Fortschrittspartei des Oppositionellen Alexej Nawalnyj beteiligt sich. Die Idee: Bei Vorwahlen in den drei ausgewählten Städten sollen die Bürger selbst ihre Oppositionskandidaten bestimmen. Doch schon den englischen Begriff für die Vorwahlen – "Primeries" – verstehen viele Menschen gar nicht. In Kaluga haben sich nur etwa 400 im Internet registriert, um teilzunehmen.
Trotzdem glaubt Witalij Serukanow, einer der aus Moskau angereisten Aktivisten, an einen Erfolg.
"Wir sind erst ganz am Anfang. Bisher gab es in der Provinz keine Oppositionsarbeit. Wir sind hier die erste Kraft, die in Kaluga unabhängig vom Gouverneur politisch etwas erreichen will. Natürlich lehnen uns viele Bürger ab, weil sie die staatliche Propaganda im Fernsehen glauben. Umso mehr müssen wir auf der Straße präsent seien und mit den Menschen sprechen. Gut, dass wir viele junge Freiwillige aus Kaluga haben, die uns helfen."
Das Büro der Opposition in Kaluga ist eigentlich viel zu klein, die Aktivisten treten sich gegenseitig auf die Füße. Die meisten hier sind zwischen 20 und 30 Jahre alt. Viele haben ihre beruflichen Karrieren aufgegeben, um sich politisch zu engagieren. Sie sind sich bewusst, dass sie gegen einen Giganten antreten. Über 80 Prozent der Russen sind mit Präsident Wladimir Putin zufrieden, ergeben Umfragen. Aber nur, weil die Menschen nicht richtig aufgeklärt seien, meint Stanislaw Wolkow, auch er ein Oppositionsaktivist aus Moskau.
"Wir erklären den Leuten, dass sie hier vor Ort viel zu wenig Macht haben. Dass sie kaum bestimmen können, was in ihrer Stadt passiert. Das meiste wird in Moskau entschieden. Auch von den Steuereinnahmen bleibt viel zu wenig hier."
Angst vor Geheimdienst-Agenten
Die Oppositionskandidaten für die Kommunalwahl in Kaluga sitzen im Kreis – im Versammlungsraum eines Hotels. Hier sollen sie sich vorstellen und Fragen beantworten, um für Stimmen bei der Vorwahl zu werben. Keine 20 Bürger sind gekommen, um sich das anzusehen. Einen haben die Organisatoren nicht in den Saal gelassen, weil sie ihn für einen Agenten des Geheimdienstes hielten.
Die Misere der Opposition wird hier erst richtig deutlich. Unter den Kandidaten ist keiner, der die Menschen mitreißen kann. Da ist eine Regimekritikerin, die sich schon in der Sowjetunion gegen die Kreml-Politik stellte. Die Menschen vertrauen ihr – als Menschenrechtlerin, weniger als Politikerin. Und da ist Andrej Sajakin, der ein paar Tage später als Sieger der oppositionellen Vorwahlen in Kaluga feststehen wird. Sajakin ist Physiker, er wirkt intellektuell und gebildet.
"Russland hat durch seine idiotische Politik die Sanktionen des Westens auf sich gezogen. Darunter leidet auch Kaluga. Weil ich die russische Außenpolitik nicht ändern kann, schlage ich vor, hier vor Ort Bürokratie abzubauen. Der Gouverneur hier hat zwar die Automobilindustrie gefördert, gleichzeitig aber tausende Arbeitsplätze im Mittelstand vernichtet – mit viel zu vielen Auflagen. Statt vieler kleiner Märkte haben wir nun große Supermärkte hier."
Ob das die Menschen überzeugt? Sajakin glaubt, dass sie seinen Argumenten folgen können. Direkt politisch betätigt hat Sajakin sich bisher nicht. Er hat Doktorarbeiten von Politikern und Beamten untersucht, ob es sich nicht um Plagiate handelt.
Drei Wochen später, im Keller einer Kneipe in Moskau. Die Opposition zieht eine erste Bilanz ihrer Vorwahlen in den drei Städten. Die Stimmung ist gedrückt, denn viel weniger Bürger als erhofft haben sich beteiligt. Einziger Trost: Die Aktivisten haben wertvolle Erfahrung gesammelt, die sie im kommenden Jahr nutzen können: Dann sind Parlamentswahlen, bei denen endlich wieder eine echte Oppositionspartei in die Staatsduma einziehen soll.