Untergrund-Zeitschriften aus dem Kirchenkeller
07:13 Minuten
Wo druckt man, was der Staat nicht erlauben will? In der DDR-Zeit fanden Oppositionelle dafür einen ungewöhnlichen Ort: die Keller von Kirchen. Dort entstanden wichtige Untergrundschriften.
Als der Priester Heinz-Josef Durstewitz 1982 sein Amt als Sekretär der Berliner Bischofskonferenz antrat, zeigte man ihm eine geheime Druckerei. Das überraschte ihn nicht, denn Bischof Meisner hatte ihn gefragt, ob er bereit sei, eine katholische Untergrundpublikation weiterzuführen. "Ich fand einen Keller vor, der nicht besonders attraktiv war als Arbeitsplatz", erinnert sich Durstewitz. "Etwas dunkel, etwas muffig, einige Papierstapel, eine Druckmaschine und was so dazugehört: eine große Schere und Tische, Räume zum Lagern."
Oben Backsteingotik, unten illegale Hefte
Heute werden die Kellerräume im Hinterhof der Greifswalder Straße 18 vom Katholischen Schulzentrum Edith Stein für künstlerische Aktivitäten im Rahmen der Ausbildung zu Sozialberufen genutzt. Zur DDR-Zeit war hier ein kleines Team von drei, vier Leuten mit dem Druck und dem Heften der illegalen Veröffentlichungen befasst. Recht gut getarnt, erklärt Durstewitz, denn:
"In den Nachbarräumen war der Heizbetrieb für den ganzen Komplex. Das ist innerhalb der Greifswalder Straße die schmale Vorderfront, aber wenn man durch die eine der beiden Einfahrten geht, ist man erstaunt, wie schön das da drin ist: Eine Kirche mit schönem Portal, der Hof war schön."
Noch heute erstaunt die Idylle des backsteinernen neogotischen Komplexes, nur ein paar Meter von der lauten Straße entfernt. Damals wurde das Katharinenstift noch von Dominikanerinnen als Kloster genutzt. Niemand vermutete hier subversive Aktivitäten.
So geschützt wurde in der weiträumigen Kelleranlage das sogenannte "Theologische Bulletin" hergestellt, das Durstewitz zusammenstellte. Der Name klang nach einer harmlosen innerkirchlichen Publikation. Die Materialsammlung enthielt aber geistigen Sprengstoff.
"Wichtig war, dass man dort Texte lesen konnte, die nicht unbedingt mit dem DDR-Denken übereinstimmten, die uns einfach sagen konnten: Man kann auch ganz anders denken", erklärt Durstewitz. "Das galt sowohl für die Kunst, für die Medizin etwa, Psychologie, Soziologie, auch politische Texte. Es war insofern kein theologisches Heft, sondern die ganze Breite des aktuellen Denkens. Naturwissenschaften und so weiter konnte da Platz finden."
Die Texte kommen aus dem Westen
Durstewitz’ Quellen waren unter der Hand besorgte Zeitschriften und Bücher aus Westdeutschland. Aus ihnen stellte er zusammen, was ihm als Anregung für das angestrebte andere Denken wichtig schien. Für ein von der Ideologie der DDR freies neues Denken trat auch der evangelische Theologiestudent Stephan Bickhardt ein. Er unterhielt rege Kontakte zur Opposition in Polen und der damaligen Tschechoslowakei, unter anderem zur Charta 77. 1985 traf er in Prag den Außenminister des niedergeschlagenen Prager Frühlings Jiří Hajek.
"Ich werde nicht vergessen, wie er gesagt hat: ‚Ihr seid die Jugend. Wir legen unser Schicksal in eure Hände. Was ihr tut, ist gut - und es ist für uns gut‘", erinnert sich Bickhardt. "Mich hat das so tief beeindruckt, wie ein schwer gedemütigter Mensch, der im Gefängnis saß, isoliert war, dieses Wort sagte, voller Hoffnung. Und ich habe mir nach dieser Begegnung gesagt, du musst das nun auch versuchen, eine Untergrund-Publikation, ein Samisdat, für eine Gegenöffentlichkeit aufzubauen."
Gemeinsam mit dem Physiker Ludwig Mehlhorn setzte Stephan Bickhardt sein Vorhaben um und begründete die "radix-blätter" - ein Organ der intellektuellen und politischen Selbstvergewisserung und Selbstorganisation, mit Aufsätzen, Gedichten, Erzählungen, Aufrufen und Analysen. Es wurde wie das "Theologische Bulletin" von Priester Durstewitz heimlich gedruckt.
Druckpapier vom Weihnachtsmann
Eine der großen Herausforderungen dabei war die Beschaffung von Papier - eine permanente Mangelware in der DDR. Durstewitz wusste sich zu helfen, indem er informelle Kontakte zu Fabriken nutzte. "Zwei Papierfabriken haben mir Papier gegeben. Das durfte aber offiziell nicht sein. Also musste ich das zwischen Weihnachten und Neujahr abholen als Überbestand oder wie das hieß", erklärt Durstewitz. "Das haben die liegen gehabt, falls eine Maschine kaputtgeht und man nichts liefern kann. Die Reserve, aber die musste auch bei der Revision weg sein. Also, die haben mir einen Gefallen getan und ich denen. Und dann kam am Ende irgendso eine Geschichte zustande: Du kannst da fünf Tonnen Papier abholen."
In Berlin angekommen, wurde das kostbare Material im Dunkeln abgeladen und in die geheime Druckerei im Katharinenstift gebracht. Mit den hier gelagerten Papiervorräten wurde auch die Herstellung der von Stephan Bickhardt und Ludwig Mehlhorn herausgegebenen "radix-blätter" unterstützt. Manchmal übernahm Durstewitz deren Druck, erzählt er: "Dann lag bei mir zum Beispiel ein Stapelchen in meiner Zwischentür zwischen Wohnung und Flur und ein Zettel: 300 Mal. Mehr nicht. Und ich hab die 300 Mal wieder dahin gelegt und die waren am nächsten Tag weg."
Eigentlich wurden die "radix-blätter" in einer kleinen Kammer hinter dem Schlafzimmer der Eltern des Herausgebers Stephan Bickhardt in Kaulsdorf gedruckt. Die dafür benutzte Wachsmatrizen-Druckmaschine brachte der Grünen-Abgeordnete Heinz Suhr von West- nach Ostberlin. Stephan Bickhardt erinnert sich:
"Das war eine aufregende Geschichte, weil die Stasi eben mit ungefähr 20 Leuten und Autos hinter uns gewesen ist und wir durch Berlin irrten und ich dann Gottseidank auf die Idee kam: Wir werden diese Druckmaschinen doch am besten zu Wolfgang Ullmann bringen, und das hat geklappt. Die Stasi, die uns verfolgte, war nicht in der Lage, das zu überprüfen, denn wir konnten auf einen Innenhof fahren und zwei Türen hinter uns schließen."
So landete die Druckmaschine zunächst in der Wohnung von Bickhardts theologischem Lehrer Wolfgang Ullmann, bevor sie bei seinen Eltern unterkam. Bis zum Ende der DDR fand die Staatssicherheit nicht heraus, wo die "radix-blätter" gedruckt wurden. Die Untergrund-Publikation konnte einen unabhängigen gesellschaftlichen Diskursraum schaffen – und trug somit ihren Teil zur Entwicklung einer eigenständigen demokratischen Kultur in der DDR bei - und schließlich zur friedlichen Revolution.