Misstrauen gegen technizistische Utopien
Der Kölner Radio-Philosoph Jürgen Wiebecke ist skeptisch gegenüber den Verheißungen von Technik und Pharmazeutik. Dahinter stehe immer auch ein problematischer Gedanke: "Wir sind nicht zufrieden mit dem Menschen, wie er jetzt ist, wir müssen seine Schwächen ausmerzen."
Stephan Karkowsky: Jürgen Wiebicke ist ein Radiokollege, der beim WDR mit seiner Sendung „Das philosophische Radio“ die Hörer immer wieder begeistert. Er greift darin als studierter Philosoph philosophische Alltagsthemen auf und diskutiert sie dann mit Gästen und auch mit Hörern. Jetzt hat Wiebicke ein Buch geschrieben, in dem stellt er schon im Titel die Frage: "Dürfen wir so bleiben, wie wir sind? Eine philosophische Intervention gegen die Perfektionierung des Menschen". Und über diesen Einspruch wollen wir mit ihm reden. Herr Wiebicke, guten Tag.
Jürgen Wiebicke: Guten Tag, Herr Karkowsky!
Karkowsky: Die Perfektionierung des Menschen, das fängt ja schon im Kleinen an. Sie tragen ja zum Beispiel eine Brille. Ist das schon eine Perfektionierung?
Wiebicke: Auf jeden Fall.
Karkowsky: Und da sind Sie dagegen?
Wiebicke: Dann wäre ich ja wie ein Maulwurf. Nein, nein. Ich glaube, dass Menschen eigentlich, seitdem sie überhaupt angefangen haben, von den Bäumen zu klettern, immerzu bestrebt waren, ihr Wesen zu verändern. Also, wir haben eine Natur sozusagen mitgebracht, aber gleichzeitig haben wir Künstlichkeit immer wieder an uns entwickelt, um voranzukommen. Deswegen wär ich ja bescheuert, wenn ich gegen meine eigene Brille wäre oder auch gegen das genannte Implantat von Ihrem Gehörlosen von heute Morgen.
Karkowsky: Wie ist das mit anderen Perfektionierungen im Kleinen, also Zahnimplantate, Plomben, Prothesen, also alles, was uns hilft, den Ist-Zustand wiederherzustellen? Sollten wir darauf verzichten, um in unserem Naturzustand zu bleiben?
Wiebicke: Das habe ich gerade schon versucht anzudeuten: Wir wären bescheuert, wenn wir das täten. Menschen werden, deswegen dieser Titel "Dürfen wir so bleiben, wie wir sind?", wie ich mein Buch genannt habe, das ist so ein bisschen eine Leimrute. Ich glaube, es gibt ein Bestreben bei vielen, dass sie sagen, ach, unsere Entwicklungen, die gehen so rasant voran, können wir nicht wenigstens mal für einen Moment so bleiben, wie wir sind? Und die ehrliche Antwort lautet natürlich: Menschen werden sich immer verändern. Die Frage ist nur, was das gewünschte Ziel ist.
Karkowsky: Wir hören mal das gewünschte Ziel dieses selbsternannten Cyborgs, Enno Park, das hat er uns heute Vormittag erzählt:
Ich setze mein eigenes Beispiel dagegen. Ich war über 20 Jahre lang gehörlos und kann nun wieder hören. Und das ist überhaupt nichts Schreckliches. Die meisten technologischen Entwicklungen, die dort benutzt werden, dienen einfach dazu, dem Menschen zu helfen. Sie dienen eben nicht dazu, irgendwelche Kampfmaschinen à la Hollywood zu bauen. So was wäre technologisch durchaus irgendwann denkbar. Es ist heute natürlich Science Fiction, aber ein Stück weniger als bisher. Aber darum geht es bei der ganzen Sache eigentlich nicht. Es geht im Grunde um das, was der Mensch schon immer tut, in seiner ganzen Kulturgeschichte, Werkzeuge zu nutzen und sich selbst zu vervollkommnen.
Karkowsky: Und genau da stimmen Sie ihm ja zu, Herr Wiebicke. Was ist aber, wenn dieser Mensch jetzt sagt, ich möchte ganz gern dieses Implantat so updaten, so verbessern, dass ich besser hören kann als Menschen hören können, zum Beispiel Ultraschall hören kann und andere Dinge, die normalerweise nicht zum menschlichen Gehör gehören?
Wiebicke: Also, Philosophen sind ja neugierig, Herr Karkowsky. Und deswegen wäre ich gespannt zu hören, von ihm selber, was er denn eigentlich für Bewusstseinszustände bekommen wird. Wogegen mein Einspruch hinausläuft, ist, dass er sich einen Cyborg nennt. Denn dann geht es nicht mehr darum, eine großartige medizinische Neuerung zu benennen, dass nämlich ein Gehörloser auf einmal fantastische neue Möglichkeiten hat, die ich ihm auf keinen Fall bestreiten möchte. Sondern dann beginnt eine problematische Redewendung, denn Cyborgs, also die Fantasie vom neuen Menschen, wird dann ganz schnell zu einer Utopie, dass wir sozusagen aufhören, der alte Adam oder die alte Eva zu sein, dass wir unsere Wünsche, unsere Ängste, unsere Vernunft, unser Bewusstsein, unsere ganzen Träume endlich verändern werden und aufbrechen zum optimierten Menschen, der dann erst der wirklich glückliche sein kann. Und ich will mal daran erinnern, dass also diese ganzen Großutopien vom großen Menschen alle vor die Wand gefahren sind. Warum sollten dann diese technischen Utopien glaubwürdiger sein?
"Optimierung ist ein sehr problematisches Wort geworden"
Karkowsky: Ist das denn dann nur eine Frage der Begrifflichkeit?
Wiebicke: Ich glaube, es ist mehr als nur eine Frage der Begrifflichkeit. Optimierung ist inzwischen ein sehr problematisches Wort geworden, weil es nämlich zwei verschiedene Diskurse von Optimierung gibt, deren Zusammenwirken man überhaupt erst verstehen muss. Einerseits haben wir diese ganzen technischen Fantasien, die sagen: Ja, wenn wir erst einen Chip im Hirn haben werden, dann können wir auf großartige Weise ganz schnell Fremdsprachen lernen oder unsere Bewusstseinszustände verändern. Also alles Visionen, die sehr auf individuelle Optimierung ausgerichtet sind. Gleichzeitig haben wir aber auch einen Druck, den jeder an seinem Arbeitsplatz spürt, dass ihm ständig abverlangt wird, wie es im Supermarkt heißt: „Jeden Tag ein bisschen besser!“ Du musst ständig weiter das Beste aus dir herausholen, du musst dich optimieren. Und ich glaube einfach, dass in diesem gesellschaftlichen Sinne in unserem Gemeinwesen viele Optimierungsschrauben schon ziemlich doof gedreht sind.
Karkowsky: Sie hören den Kölner Radiophilosophen Jürgen Wiebicke zu seinem Buch "Dürfen wir so bleiben, wie wir sind?". Und ich würde gern bei diesem Thema noch ein wenig bleiben. Herr Wiebicke, da gibt es ja ein Kapitel in Ihrem Buch, da beschäftigen Sie sich mit dem sogenannten Neuro Enhancement – tolles Wort! –, also der Möglichkeit, die Chemie des Hirns für jede Situation mit Pillen zu optimieren. Mir fehlt so ein wenig die Fantasie, mir vorzustellen, was darunter gemeint ist. Klären Sie mich auf.
Wiebicke: Ja, da geht es darum, dass Hoffnungen darauf gerichtet sind, dass die Pharmazeutik imstande sein wird, die Erkenntnisse der Neurowissenschaften über die Funktionsweisen des Gehirns so zu nutzen, dass wir schöner, klüger, smarter sein werden, indem wir bestimmte Pillen einwerfen.
Karkowsky: Ist das verkehrt?
Wiebicke: Erst mal muss die Pille erfunden werden. Also ich glaube, man muss aufpassen – ist es sinnvoll, das wäre die Fragestellung, meine Fragestellung zuvor. Ist es eigentlich sinnvoll, über das Für und Wider eines Präparats zu sprechen, das überhaupt noch nicht erfunden ist. Denn dann werden Verheißungen geweckt, die wiederum ein problematisches Bild vom Menschen stabilisieren. Dass man eben sagt, wir sind nicht zufrieden mit dem Menschen, wie er jetzt ist, wir müssen seine Schwächen ausmerzen. Und das passt mir nicht.
Karkowsky: Womöglich waren wir das ja noch nie, so richtig zufrieden mit uns. Sie diskutieren in einem weiteren Kapitel die Vision des Gründers von Google, Larry Page. Der prophezeit, in Zukunft werden wir alle so eine Art Google-Chip im Gehirn haben. Dann brauchen wir keine Peripheriegeräte mehr, um Informationen aus dem weltweiten Datenstrom herauszufiltern. Das passiert dann direkt im Gehirn. Mal ehrlich, Herr Wiebicke: Würden Sie nicht gerne einen solchen Chip tragen?
Wiebicke: Ich bin ein vorsichtiger Mensch, das haben Sie schon gemerkt. Deswegen würde ich erst mal abwarten, ob andere damit gute Erfahrungen gemacht haben. Nein. Ich finde, wir haben einfach Anlass, solchen technizistischen Utopien erst mal zu misstrauen.
Karkowsky: Also, solange Menschen …
Wiebicke: Ich möchte erst etwas wissen über Risiken und Nebenwirkungen.
Karkowsky: Und ist bei Ihnen das Unbehagen so, dass Mensch und Maschine getrennt bleiben sollten? Also wie bei den aktuellen Smartphones? Die können ja auch fast alles, aber die sind halt nicht im Körper.
"Großutopien von dem grandiosen, starken Ich"
Wiebicke: Unser Leben ist zu kurz, um zu wissen, wie wir mal in 50 oder in 100 Jahren leben werden. Mein Misstrauen richtet sich gegen Philosophen, die sich bestimmte technische Entwicklungen anschauen und daraus dann Visionen ableiten, dass sie sagen, ja, der Mensch, der wird irgendwann aufhören, Mensch zu sein. Er wird ein transhumanes oder sogar posthumanes Wesen sein. Und endlich haben wir die großartige Chance, diese zweite Evolution sozusagen selber gestalten zu können. Wir müssen nicht mehr diesen alten Pfad beschreiten, von dem Affen, der sich irgendwie mühsam erhebt. Diese nächste Evolution, die haben wir ganz in der Hand. Und ich glaube einfach, diese Großutopien von dem grandiosen, starken Ich, dass sich nur noch gute Gefühle und optimierte Gedanken und möglicherweise sogar ein moralischeres Verhalten von Präparaten verspricht, eine Utopie, die so was in den Blick nimmt, die wird dann im Umkehrschluss immer unbarmherziger, wenn es darum geht, auf unsere Schwächen zu schauen.
Karkowsky: Nun ist diese Grenze ja nicht wirklich sichtbar. Man weiß nicht, wann hat man sie überschritten. Meine Mutter trägt ein Hörgerät. Meine Augen sind gelasert. Sie tragen eine Brille. Der südafrikanische Paralympics-Sieger Oscar Pistorius ist ohne Beine weit schneller als wir beiden mit. Das sind ja alles medizinische Prothesen, die uns noch nicht zu Cyborgs machen.
Wiebicke: Genau.
Karkowsky: Wenn man die aber nun verfeinert, also Brillen mit Teleobjektiv entwickelt, Hörimplantate mit verschiedenen Modi – Hund, Adler oder auch den Club-Modus, sodass man in der Disco die tiefen Bässe herausfiltern kann –, sagen Sie da nicht, tolle Sache, das will ich haben?
Wiebicke: Möglicherweise werde ich das sagen. Aber auffällig ist an diesen Redeweisen, dass wir immer nur die Erfahrungen des Individuums in den Blick nehmen. Was werden wir beide für tolle Erfahrungen machen, wenn wir diese Brille aufhaben. Aber man muss bestimmte Dinge auch gesellschaftlich denken und überlegen, was passiert eigentlich mit einer Gesellschaft, die ein Gehör findet für solche Verheißungen. Wie geht die mit denen um, die da nicht hinterherkommen? Also, wenn Sie sich das angucken: Unser Leben soll, solange wir stark sind, solange wir aktiv sind, immerzu optimiert sein, am besten soll es noch verlängert werden, und es gibt Zellbiologen, die sagen, ja, wir können irgendwann den Menschen 150 Jahre oder 400 Jahre leben lassen. Aber wenn ich mit Menschen spreche und sie mit diesen Verheißungen konfrontiere, dann winken die meisten ab und kriegen einen Schrecken und sagen: Will ich gar nicht!
Karkowsky: Jürgen Wiebicke, Ihnen herzlichen Dank. Gegen die Perfektionierung des Menschen hat er eine philosophische Intervention geschrieben unter dem Titel "Dürfen wir so bleiben, wie wir sind?" Erschienen ist dieses Buch im Verlag Kiepenheuer und Witsch, 238 Seiten kosten 14,99 Euro.
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