Viel gewagt und noch mehr gewonnen
Das Theater Basel hat die Oper "Oresteia" des Komponisten Jannis Xenakis neu entdeckt und erzählt die antike Geschichte sehr sachlich auf verschiedenen Ebenen. Die Figuren-Konstellationen sind streng und stark, die Musik rhythmisch strukturiert und die Chöre extrem kraftvoll.
Das Wagnis ist groß, die Begegnung darum selten. Noch seltener sind starke, überzeugende Ergebnisse, wenn Sprech- und Musiktheater für gemeinsame Projekte verbandelt werden unter dem sehr häufig ja gemeinsamen Dach eines Stadt- und Staatstheaters im deutschsprachigen Kulturraum. Verschieden sind die Mentalitäten, unterschiedlich, rein technisch betrachtet, die Betriebsabläufe. Das Theater in Basel ist eines dieser sehr typischen Häuser mit drei Sparten; es hat gerade viel gewagt und noch mehr gewonnen: mit der "Oresteia", der Musiktheater-Version auf der Basis der antiken Rache-Fabel um die Atriden, also um Agamemnon und Iphigenie, Klytemnästra und Kassandra, Elektra und Orest. Vor über 50 Jahren hat sie der 2001 verstorbene griechische Komponist und Architekt Iannis Xenakis entworfen.
Der Regisseur Calixto Bieito, zuweilen begabt mit der Kraft, viel Aufregung, Skandale gar zu provozieren, erzählt die antike Geschichte sehr sachlich auf den verschiedenen Ebenen: mit der "Basel Sinfonietta" unter Leitung von Franck Ollu, den Chören sowie Mädchen- und Knaben-Kantoreien, dem schillernden Countertenor Holger Falk sowie fünf Kräften aus dem Schauspiel-Ensemble. Von Beginn an verblüfft (und begeistert!) ein doppelter Effekt – die Bausteine in dieser Theater-Architektur wirken extrem eigen- und selbständig nebeneinander, zugleich aber auf engste miteinander verschränkt, ineinander verstrickt. Da Bieito bis kurz vor Schluss auf Bühnen-Bilder im engeren Sinne verzichtet und das Geschehen streng in die vertraut archaischen Konstellationen zwängt, werden wir ständig mit Augen und Ohren auf die Strukturen gestoßen, die hier verwoben sind.
Hart und heftig treffen die Sounds aufeinander
Die Musik: extrem rhythmisch strukturiert mit gleich drei Perkussionisten; manchmal schlägt und klopft, klöppelt und klatscht auch das ganze kleine Orchester, bestückt mit eher tiefen Blech- und eher hohen Holz-Bläsern, ein Cello in der Mitte. Hart und heftig treffen die Sounds aufeinander, und manchmal singen und schwingen Töne sirenenartig auf und ab, vor allen in Holger Falks grandiosem Kassandra-Solo. Die Chöre: altgriechisch im Text (der in Englisch und Deutsch projiziert wird), extrem kraftvoll im Zugriff, auch stampfend und klatschend im Finale, wenn am Ende aller blutigen Rachemorde die demokratische Entscheidungsfindung der Bürgerschaft steht – über Schuld oder Unschuld des Muttermörders Orest. Dies ist der Moment, in dem die Demokratie in Griechenland als Gedanke geboren wird.
Die Darsteller und Darstellerinnen stärken das Verständnis der Tragödie immens; die hat im Film begonnen. Der Vater Agamemnon tötet und verbrennt das Kind Iphigenie; wie eine Entführung mit Todesfolge sieht das aus. Die Figuren-Konstellationen sind streng und stark, die Aufführung zieht viel Kraft aus der Energie des Ensembles. Aber die wirklich aufregende Entdeckung in Basel ist Durchdringung von allem mit allem, wie fremd und verstörend auch immer die Bausteine wirken mögen. Schnell verschwimmen die Kategorien – Schauspiel? Musiktheater? Installation? Wen interessiert das, wenn’s so furios zur Sache geht.
Das Schlussbild nimmt die frisch errungene Demokratie selbst und damit Europa ins Visier – auf einen Hügel aus herausgerissenen Bühnenplanken klettert der Angeklagte Orest, in der Hand eine Art Wahlurne, um die Zettel mit dem Urteil des Volkes über die eigene Tat einzusammeln… doch die Urne entgleitet ihm und zerbricht. Wer will, kann hier über die Gefährdung von Europa und der Demokratie nachdenken. Denn auch diese dramatische Aktualität wird erahnbar in einer mitreißenden Ensemble-Arbeit, wie sie so nur unter den Dächern des guten alten Stadttheaters möglich und machbar ist – jetzt in Basel!